Seiten
Ja, mach nur einen Plan!
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch 'nen zweiten Plan,
gehn tun sie beide nicht.
Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht
schlecht genug. Doch sein höhres Streben
ist ein schöner Zug.
Bertolt Brecht, Dreigroschenoper, 3. Akt
Hof Lachau: Veränderungen und Geheimnisse
Liebe kranke Christine,
wie geht es Dir? Hast Du noch große Schmerzen? Weißt du schon, wann der Gips abkommt? Und wann darfst du endlich wieder nach Hause? Am liebsten würde ich auf der Stelle zu dir ins Krankenhaus fahren, aber niemand will mit. Die Fahrt nach Bremen sei angeblich zu teuer, und ohne Begleitung lassen sie mich nicht vom Hof. Welch eine Gemeinheit!
Die nächsten Sommerferien liegen in astronomisch weiter Ferne, daran brauche ich dich gewiss nicht zu erinnern, und mich beschleicht von Zeit zu Zeit das dumpfe Gefühl, ich stürbe hier ohne dich vor lauter Kummer und Langeweile. Und dann lief mir gestern auch noch diese dämliche Zwergenclique samt Hannes, diesem Knallkopp, über den Weg ... aber davon später.
Du kannst dir vermutlich nicht vorstellen, wie fertig ich war, als ich erfuhr, dass ich in diesem Sommer Hof Lachau und das Hundertseelendorf ohne Dich unsicher machen muss. Tante Agnes brachte es mir wirklich schonend bei. Na ja, zumindest so behutsam, wie ihre Gemütsart es zulässt. Du kennst dein gutes altes Tantchen.
So ganz allein auf weitem Feld fehlt es mir an jeglicher Lust, über irgendwelche Strängen zu schlagen. Ich bin immer noch wie vor den Kopf geschlagen, unsagbar traurig und gleichzeitig wütend wie ein Gorillaweibchen, das eine Kokusnuss an denselben gekriegt hat. Dazu gesellt sich der unbezähmbare Drang, sämtliche Hausmeister im Schuldienst auf den Mond schießen. Wozu müssen Korridore in Schulen eigentlich gewienert werden? Es reicht doch völlig aus, dass man sie fegt und wischt. Hoffentlich erhältst du wenigstens ein dickes Schmerzensgeld.
Vorgestern, am späten Nachmittag, erreichten wir Hof Lachau. Nachdem ich die niederschmetterndste aller Nachrichten empfangen hatte, bedauerte ich mich eine geraume Weile auf das Heftigste, bis Leni es wagte, sich mit mir anzulegen: Ich sei gut dran; ich könne ja laufen – auf meinen zwei gesunden Beinen nämlich und nicht etwa an Krücken wie die arme Christine, ich hätte mich (gefälligst) zusammenzureißen und darüber zu freuen, anstatt mit einem Gesicht herumzulaufen wie ein Trampeltier (dann doch lieber Kamel, dachte ich), dessen Höcker geschrumpelt seien, und so weiter und so fort.
Jedenfalls zog ich mich gleich nach dem Abendessen auf mein Zimmer zurück, mit Hermann Hesse, dessen Jugendroman „Unterm Rad“ ich mir kurz vor der Abreise aus der Bücherei geliehen hatte: Mein einziger Trost in dieser belämmerten Lage. – Was für ein ätzender Sommer!
Wie du ja weißt, sorgt unsere Gnädigste jedes Jahr dafür, dass wir optimal untergebracht sind. Diesen Sommer gastiere ich im ersten Stock, in dem Kämmerlein neben Lenis guter Stube. Es ist winzig, aber urgemütlich. Mutti schläft wie immer im großen Festsaal im Ostflügel, gleich neben den leckeren Sachen in Omas Vorratskammer. Seit Herr Brandner das Zeitliche gesegnet hat, wird „La Grande Salle“ kaum noch benutzt. Das antike Biedermeiersofa steht nur noch darin, ach ja, und das schöne Piano, das seit dem letzten Sommer unaufhörlich vor sich hin seufzt, nachdem wir es vor dem Verstauben und aus dem Zustand der totalen Nutzlosigkeit retten wollten. Ich wage kaum zu behaupten, nachdem wir darauf gespielt haben; denn Oma stellte fest, dass sich seit jenem Tag keine einzige Maus mehr in ihren Vorratsraum verirrt hat, wofür sie sich ruhig ein wenig dankbarer zeigen könnte.
Ich vergaß Muttis Bett zu erwähnen, das äußerst fragile Chaiselongue in Altrosé. Es steht nach wie vor unter den beiden Fenstern, die zur Laube zeigen. Das Biedermeiersofa neben dem Piano würde gewiss in sich zusammenfallen, wenn man sich draufsetzt. Was hielt uns im letzten Sommer eigentlich davon ab, es auszuprobieren?
***
Heute, dem ersten aller vor mir liegenden Lachauer Ferientage ohne dich, liebe arme Christine, kletterte ich um zehn vor acht die verräterisch knarzenden Holzstufen der Wendeltreppe hinunter. Ich hielt mich vorsorglich am schön geschwungenen Geländer fest, von dem ich übermorgen gewiss nicht mehr weiß, dass es überhaupt existiert. Durch die Vordiele waberte der morgentliche Duft von würzigem Kaffee, frischem Brot und geräuchertem Schinken. Oma und Opa frühstücken nach wie vor Punkt acht Uhr. Das gilt leider auch für Feriengäste.
Als ich kurz nach halb acht langsam zu mir kam, hat es eine geraume Weile gedauert, bis mir dämmerte, dass mein enttäuschtes Herz auf Hof Lachau pocht. Zwar bin ich hier nicht mutterseelenallein, aber ohne dich.
Im Haus roch es speziell wie eh und je, so wahnsinnig gut wie sonst nirgends, geradezu einzigartig. Ich habe diesen ureigenen Duft, den man überall im Haus schnuppern kann und der mir in die Nase gestiegen war, kaum dass wir gestern die Veranda betreten hatten, das ganze Jahr über vermisst, genau wie Dich, liebe Christine. Nirgendwo riecht es angenehmer als auf Lachau: im Herrenhaus, im Park (abgesehen vom sommerlichen Teich, in dessen Nähe es bei glutender Hitze seit eh und je sumpfig müffelt), im Obstbaumgarten, bei den Kräuterbeeten und natürlich im Gutsforst. Ganz besonders angenehm jedoch duftet es im Herrenhaus: nach Lavendelseife, die in den Schränken zwischen der Tischwäsche ruht; nach unzähligen Schichten kostbarer Tapeten aus Seide, Krepp und Kork, die alle guten und bösen Wörter eingesogen haben, ehrwürdige Geheimnisse und spannende Kamingeschichten; es duftet nach rustikalen Möbeln, über denen ein zarter Hauch Politur schwebt; nach Lenis Eingemachtem; nach ländlicher Gediegenheit und nach ein klein wenig Luxus. Man fühlt sich sofort geborgen, fast wie zu Hause.
Die Küchentür stand einen Spalt offen, und ich spähte in den schattigen, kühlen Raum. Leni stand am gusseiseren Herd und werkelte vor sich hin. Ich schlich mich an sie heran, legte meine Hände über ihre Augen und drückte auf beide sonnengebräunten, etwas runzliger gewordenen Wangen einen dicken Kuss: einen von dir und einen von mir, liebe Christine. Sie strahlte übers ganze Gesicht.
„Deine Mutter macht einen Morgenspaziergang im Park. Sie führt ihr neues Sommerkleid aus; was sagst du dazu, Katja?,“ lachte sie verlegen. (Das wirst du leider nie erfahren, liebe Leni – zu meinem eigenen Schutz, dachte ich und schluckte so einiges hinunter.)
Zehn Minuten später
Ihr könnt davon ausgehen, dass, zumindest in diesem Teil, 80 % der „Ereignisse" und Schilderungen wahr sind; so wahr, wie ich jetzt hier sitze und schreibe.
Kommentare
Spannend, witzig, gut verfasst:
Und die Collage prima passt!
(Der Rotwein und die Putz-Kritik
Brachten selbst Krause rasch zum KLICK ...)
LG Axel
Dank, Axel, dir, für deinen netten Kommentar:
Oma Anitas Rotwein wirklich edel war.
Auch BERTHA hätte ihn mit Zuckerei gewiss genossen.
Man glaubte damals, das sei sehr gesund.
Zum Glück bin ich nicht abhängig davon geworden
und kam deswegen auch nicht "auf den Hund".
LG Annelie
Weiterhin blicke ich mit Neugier und Spannung in eine bunte Annelie-Welt ...
Liebe Grüße - Marie
Liebe Marie, das freut mich sehr. - Falls es mal jemand drucken sollte, oder gar ich selber, steht innen unter dem Titel: "für Marie".
Liebe Grüße,
Annelie
Seiten