Gefährlicher Sommer (Teil 5) - Page 2

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standen wir ein wenig verloren in Omas Küche herum, Mutti, Opa und ich und harrten der Dinge, die dort ihren Lauf nehmen sollten. Streng genommen, erwarteten wir ein zünftiges Frühstück, das sich durch einen kräftigen Mokka­duft zumindest ankündigte.
Aber Oma schritt wie ein stolzes Huhn zur Vitrine, beförderte die kostbare Sil­berhochzeitstasse ans Lachauer Tageslicht, schlug das Ei einer Lachauer Henne hinein, vielleicht stammte es sogar von Frieda, unserer Lieblingshenne, gab Trauben­zucker hinzu und quirlte alles gut durch. Sie überreichte mir feierlich das edle Ge­fäß, und ich wollte die Mixtur gerade in einem Zug hinunterstürzen, als es heftig gegen die Tür pochte. „Nur herein!“, rief Opa fröhlich, und im nächsten Augenblick steckte Leni ihren Kopf ins Zimmer. Ehe ich mit den Wimpern klimpern konnte, stand sie mitten in der Küche. Neugierig spähte das alte Hausmädchen in die riesige Tasse, die ich abwartend in meiner Rechten hielt. Sie rümpfte die Nase und warf Oma einen angewiderten Blick zu.
„Anita, schämst du dich gar nicht, unserem Sommergast ein derartiges Gesöff anzubie­ten? Davon wird Katja höchstens schlecht, und sie soll sich doch schließlich hier erholen. Nein, Anita, diesem Zuckerei fehlt etwas ganz Entschei­dendes!“
„Nämlich, Lene?“, fragte Oma wutschnaubend.
„Ein guter Schuss besten Rotweins!“, stieß Leni erhaben her­vor und sah uns Beifall heischend der Reihe nach an.
Und das Unglaubliche ge­schah, liebe Christine: Oma stolzierte erneut in die Vorrats­kammer, um den teuren Rotwein zu holen. Opas machte derweil große, run­de Augen, und Mutti kam offenbar aus dem Staunen nicht mehr heraus, denn ihr Mund stand für eine be­achtliche Weile unvorteilhaft geöffnet, ohne dass sie einen einzigen Laut von sich gab.
Jedenfalls beförderte Oma Anita kurzerhand eine weitere Tasse aus der Küchen­vitrine, eine hauch­dünne Mokkatasse mit edlen Jagdmotiven, die den Eindruck erweck­te, als sie würde sie zerbrechen, wenn man sie nur lange genug fixierte.
Oma Anita füllte das fragile Gefäß mit dem delikaten, ru­binroten Trunk und kippte die Flüssigkeit zu guter Letzt in die Silberhochzeitstasse (umständlicher ging es wohl nicht!), in deren Tiefe das Zuckerei darauf harrte, von mir ge­schlürft zu werden.
Leni nickte zu­frieden.
Oma bot mir die Festtagstasse aufs Neue dar, wenn auch be­deutend weniger feierlich als beim ersten Mal.
„Hoffentlich fängt sie nicht an zu sin­gen“, nuschelte Opa. Seine Sprache kam mir auf einmal so merkwürdig vor. – Als ob ich schlecht sänge! Soviel ich weiß, hat Opa mich noch niemals singen ge­hört.
Während mir das unter Alkoholeinfluss stehende Zuckerei durch die Kehle gloste, nahm ich aus den Augenwinkeln wahr, wie Leni aus dem Zimmer huschte. Sie stand schon im Saal, als sie sich noch einmal umschaute, um mir verschwörerisch zu­zuzwinkern. Ein triumphierendes Lächeln lag auf ihren Lippen. Dann zog sie ausgesprochen sanft die Tür hinter sich zu, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie eigens mit der Absicht gekommen war, mich vor Oma Anitas bar­barischem Aufputschtrunk zu be­wahren. Jedenfalls schmeckte das Zuckerei durch die Rotweinveredelung wesentlich besser als im letzten Jahr. Wer schlürft schon gerne Ei pur (mit Traubenzucker)?!

Opa hatte bereits den Frühstückstisch gedeckt, und ich ließ mich auf dem Stuhl nieder, der vor meinem Platz stand, sprang jedoch im nächsten Moment schreiend und wie von einer Tarantel gestochen wieder empor. Irgend etwas hatte mich in den Hintern gezwickt. Erschrocken starrte ich auf das Sitzpolster. Dort lag – ein Gebiss. Es musste ein Gebiss sein! Nicht, dass ich jemals eines zu Gesicht bekommen hätte, außer vielleicht auf Reiniger-Verpackungen für die Dritten; aber ich war mir vollkommen sicher, liebe Christine: Jenes Exem­plar, das mitten auf dem Polster meines Stuhls thronte und mich beißen wollte, stammte aus irgendeinem Lübecker Dental-Labor.
Oma bekam einen tomatenroten Kopf, während Opa sich krampfhaft an ir­gendetwas zu erinnern versuchte.
„Äääh, ach ja, ich war gerade dabei, es zu rei­nigen“, stammelte er verlegen, „als Oma mir aus dem Bad zurief, ich solle das Kaffeewasser aufgießen.“

Man muss sie vor Operationen und vor dem Schlafengehen aus dem Mund entfernen. Wusstest du das, Christine? Schrecklich, nicht wahr? Sie stehen derweil in einem Glas auf dem Nachtschrank und dürfen nicht mitträumen. Hoffentlich er­warten uns patentere Lösungen, wenn wir alt sind. Wie auch immer: Opa be­fand sich jedenfalls nicht in jenem bedauernswerten Zustand kurz vor einer Operation und müde schien er auch nicht zu sein. In höchster Eile und um Omas Bitte umgehend zu erfüllen, hatte er seine Dritten kurzerhand auf meinem Stuhl geparkt. Inzwischen war mir natürlich klar wie Kloßbrühe, weshalb Opa so undeutlich sprach. Kunststück – ohne Zähne!
Jedenfalls war ich über alle Maßen er­leichtert, dass mich nur ein Gebiss und nicht etwa ein Skorpion gezwickt hat. Oma fand Opas Missgeschick wahnsinnig peinlich. Sie schien das kleine Malheur persönlich zu nehmen und traktier­te den Ärmsten beim Früh­stück mit furchtbaren Blicken, während Mutti sich beherrschen musste, dass sie keinen Lachkrampf bekam. Schließ­lich konnte sie das Gegluckse im Hals nicht länger zurückhalten und prustete los wie eine alte Dampflok. Opa und ich grinsten uns an wie zwei alte Verschwörer. Sogar Oma versuchte ein Lächeln. Es sah aus, als hätte sie in eine von Muttis Pam­pelmusen gebissen. Endlich durfte ich vom Tisch aufste­hen – nachdem ich längst mit dem Essen fertig war, aber die Damen hatten ja noch Kaffee in den Tassen (Omas höfische Sitten). Mutti warf mir einen neidischen Blick zu, als ich abdampfte.
Du kannst dir sicherlich denken, wohin ich lief, liebe Christine? Na klar, zu Leni! Wir wollten Hühnereier ernten. Mit hässlichen schwarzen Gummistiefeln an den nackten Füßen und vier riesigen Henkelkörben aus Weidenruten, die der gute Heiner während der Wintermonate zu flechten und auszubessern pflegt, marschierten wir über den sandigen Hof, über dem ein blumiger Dunst hing: ein Gemisch aus Fliederaroma und Lindenblütenduft. Himmlisch!
Als wir an den Pferdeställen vorbeihuschen wollten, lief uns ein hoch­gewachsener, hagerer Mann über den Weg. Sein Haar war tiefschwarz, fast so schwarz wie unsere Stiefel, bevor wir sie dem Staub des Hofes ausgesetzt hatten. Es war straff aus der Stirn gekämmt und an den Schläfen leicht ergraut. Ich schätz­te ihn auf Ende Dreißig. Sein schmales, wettergegerbtes Gesicht war zu einer mürrischen Miene verzogen.

„Mor­gen, Axel“, sagte Leni mit einer Zurückhal­tung, die ich ihr nie zugetraut hätte. Ihre Stimme

Ihr könnt davon ausgehen, dass, zumindest in diesem Teil, 80 % der „Ereignisse" und Schilderungen wahr sind; so wahr, wie ich jetzt hier sitze und schreibe.

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