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an“, ging es los. „Komm, küss mich.“
Sie wollte immer nur tasten, fühlen, Hautkontakt nehmen. Doch er wünschte nichts mehr als ein stummes Betrachten. Die Wochen schleppten sich in zäher Zermürbung dahin.
„Schatz, schließ bitte die Augen, wenn du mich anfasst“, bat sie. „Brondo, Lieber, schau nicht immer so.“
Sie brachte sein Nervensystem vollkommen durcheinander. Anfangs verschloss er ihren Mund mit seinen Lippen, behutsam und mit dem innigen Wunsch, sie möge dies Zeichen richtig deuten.
„Oh. OOOaaauuuu. Welch ein Temperament“, hauchte sie. Ihr Mund stand niemals still. Misstöne, nichts als Misstöne entströmten ihrem Sprechorgan.
„Bitte sei still.“
„Liebster, warum?“
„Sei nur einfach still.“
„Aber ja doch, Liebster.“
„Ssssscht.“
„Ich sage doch nichts.“
Das konnte sich über Stunden dahinziehen. Ihr Ton wurde kieksiger, neckischer, fordernder. Selbst innigste Umarmungen, seiner Not entspringend, vermochten sie nicht zum Schweigen zu bringen. In Brondo wuchs eine Ohnmacht, wie er sie als Kind gegenüber Eltern und Lehrern empfunden hatte. Das war der Zeitpunkt, als sich Gabriel bemerkbar machte. Gabriel, sein zweites Ich, sein bester Freund, der sich voll für Brondo einsetzte. Gabriel, seine Stütze, einer, der Brondo ganz selbstlos aufzubauen vermochte. Gabriel, der Brondo bedingungslos liebte, ein Traum von einem Freund, der immer auf den Plan tritt, wenn Brondo nicht weiter weiß. Gabriel, seine linke zuverlässige Hälfte.
Es war nun still, befreiend still an diesem lichten Dezembertag im Uhlenhorster Wald. Die Frau hatte sich mit ihrem Hund entfernt, und Gabriel hatte keinen Grund in Aktion zu treten. Gabriel, der es vermochte, die Welt zum Schweigen zu bringen.
Brondo bedeckte behutsam Hertas Füße mit Laub. Er hatte die Vision, nun endlich ein vollkommenes Bild gestalten zu können. Er betrachtete das Laub. Er nahm jedes Blatt einzeln und hielt es gegen die Sonne. Die Vielfalt der Maserungen und Formen, zudem der unterschiedliche Verrottungsgrad machte ihn selbstvergessen. Er strich alle Blätter von den Füßen wieder fort. Er musste eine bessere Komposition finden. Nach anderen Gesichtspunkten vorgehen. Äußerst liebevoll betrachtete er die stumme Schönheit der hervorstehenden Oberlippe Hertas. Dann wieder drehte er den Stiel eines zerfaserten, braunen Blattes zwischen linkem Daumen und Zeigefinger, zwischen Gabriels Finger. Brondo hatte plötzlich Angst, maßlose Angst.
„Sieh dir dieses Blatt an, Gabriel.“
„Was soll ich sehen?“
„Sieh nur hin. Sieh richtig hin, Gabriel.“
Gabriel drehte das Blatt weiter zwischen Daumen und Zeigefinger.
„Sie ist wie das Blatt!“ stieß Brondo hervor. „Sie wird ebenso schnell verrotten.“
„Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten“, rezitiert Gabriel Rilke.
„Ruhig. Halt bitte den Mund.“
Brondo legte vorsichtig Blatt für Blatt auf Hertas Hosenbeine. Er suchte akribisch noch grüne und gut erhaltene Blätter, und langsam verschwand darunter das Blau der Jeans. Er hatte Mühe bei der Suche nach frischem Laub. Er war wählerisch. In unmittelbarer Nähe des zu schmückenden Frauenkörpers hatte er alle infrage kommenden Blätter aufgepickt. Plötzlich verwandelte der Gedanke an fehlende Handschuhe seinen Kopf in einen glühenden Glasballon. Folgerichtiges Denken wurde zur Qual. Brondo stand mit geschlossenen Augen und wartete, ob und wann die Hitze in seinem Kopf ihm das Hirn ausbrennen würde. Fehlende Handschuhe bedeuteten unzählige Fingerabdrücke. Brondos Abdrücke.
„Es gibt immer eine Steigerung des Grauens“, murmelte er. Einerseits wollte er Herta nicht einfach so liegen lassen, um sich zum Auto zu begeben und mit Handschuhen, Tüchern und Malwerkzeug wieder zu ihr zurückzukehren, ein zu riskantes Ansinnen. Andererseits hatte er im jetzigen Stadium keine Möglichkeit, Herta würdig zu gestalten, ihrer Schönheit einen entsprechenden Rahmen zu setzen. Brondo schritt in Gedanken die Meter bis zu seinem Auto ab. Er würde sich parallel vom Wege durchs Gebüsch schleichen können, dann in Höhe des Parkplatzes über den Bach springen und zum Auto hechten. Ebenso unbemerkt von unerwünschten Passanten könnte er Herta wieder erreichen. Er lauschte angespannt in sich hinein. Wartete auf einen beratenden Impuls. Gabriel schwieg. Keine innere Stimme nahm ihm die schwere Entscheidung ab. Brondo fühlte sich verlassen. Für einen kurzen Moment musste er sein Schönheitsempfinden vergessen und seine sorgfältig angeordnete Kreation von ausgesuchten Blättern zerstören. Er schaufelte eilfertig alles Laub zusammen und bedeckte Hertas Körper. Da er nicht ausreichend Material finden konnte, schaufelte er weichen Waldboden, sozusagen zu Humus zerfallenes Laub der Jahrzehnte auf Hertas Körper. Nichts sollte offensichtlich auf ihre Anwesenheit hindeuten können. Trotz Kälte überzog heißer Schweiß Brondos gesamte Haut.
„He, Herta. Schöne. Ich komme wieder“, flüsterte er und hockte sich kurz neben den Erdhaufen. Niemals zuvor hatte er mit ihr diese Vertrautheit der Seele, die durch ihr inniges Schweigen offenbart wurde. „Ahhh“, hauchte er und es war wie der Gesang seiner Seele. „Ahhh.“
Dann ging er in geduckter Haltung mit großen Schritten davon. Er musste sich beeilen, denn bald würden einige Hundebesitzer mit ihren Vierbeinern ihren Abendspaziergang machen und Brondos Vorhaben gefährden.
Doch all seine Schritte verliefen störungsfrei. Und das machte Brondo glücklich. Einfach nur glücklich. Er schleppte sein Malzeug und Tücher zu Herta. Er hatte seine schwarzen Lederhandschuhe übergestreift. Sie waren aus feinem, anschmiegsamen Ziegenleder. Sie behinderten nicht sein sensibles Tastempfinden. Sie bildeten eine zweite Haut. Eine Haut ohne verräterische Abdrücke.
Endlich wurde es ihm möglich, Hertas Schönheit zu feiern. Es waren nun genau dreißig Minuten vergangen, da er mit Herta diesen seinen geliebten Wald betreten hatte. Herta schwärmte vom bevorstehenden Weihnachtsfest, sprach von ihren Erwartungen an ihn.
„Brondo, mein Guter, ich habe mir überlegt, wir werden...“
Brondo unterbrach: „Was werden wir?“
Er hatte sich schon Gedanken über eine gemeinsame Zukunft gemacht. Seine Überlegung schloss eine alsbaldige Heirat nicht aus. Er liebte Herta mit all seiner Kraft. Zudem schätzte er ihre hausfraulichen Talente hoch ein. Sie konnte einfach zu gut kochen. Den Beweis hatte sie im Verlauf der letzten Wochenenden erbracht. Es war einfach köstlich. Hirschkrüstchen an Brokkoli mit neuen, abgebürsteten, taubeneigroßen, biologisch reinen Kartöffelchen auf Rosenthaltellern mit silbernen Untertellern vorgesetzt zu beklommen. Brondo liebte diese Frau mit all seinen unzähligen Zellen und Schwingungen.
„Was werden wir?“ wiederholte er seine Frage.
„Brondo, Lieber, wir werden...“
Erneut unterbrach Brondo diese sanfte Stimme. Er konnte es nicht abwarten. Wie glücklich er doch war. Und sein Vorsatz, seine große Liebe Herta bis zu ihrem Lebensende ebenso glücklich zu machen, stand nun unumstößlich fest.
„Wir werden. Lass mich deine Gedanken aussprechen, Liebste“, flüsterte Brondo. Er hakte Herta unter und führte sie vom Weg ab ins dichte