Seiten
Ampen aussteigt, über die Straße geht und den Friedhof betritt, kommt man direkt darauf zu. Es liegt unmittelbar am Hauptweg. Und da steht sie nun also – ein Vierteljahr nach der Beisetzung . Sie sieht den schönen großen Grabstein aus weißem Marmor – darauf die verschlungenen Ringe als Zeichen für „Ehepaar“ und dann vier Namen: Die Namen seiner Eltern - und dann :
„Monika 1947 – 2016“ und „Klaus 1943 – 2016“.
“NICHT der Tag... - also ob man hätte verbergen wollen, dass sie gemeinsam gestorben sind...” denkt sie.
Sie stellt die Tasche mit den Blumen ab... Narzissen und weiße Perlhyazinthen. Eigentlich hatte sie Schneeglöckchen mitbringen wollen, weil ER diese Blumen so geliebt hat. Jedes Jahr schickte er ihr Fotos von den ersten Frühlingsblumen. Aber Schneeglöckchen gab es keine...
Der Grabhügel, der die beiden Urnen birgt, ist kahl, bis auf einen großen klotzigen Kranz mit einem Trockenblumengesteck – vermutlich noch von Weihnachten, denkt sie... Und vor dem Grab ein kleines, unscheinbares Gesteck mit einem handschriftlich gekennzeichneten Band: „Letzter Gruß von den Klassenfreunden“..
. Sie nimmt die kleine Schaufel aus ihrer Tasche und gräbt ein Loch unmittelbar am Grabstein – pflanzt dort ihre Frühlingsblumen ein...
Die Urnen liegen 50 cm tief unter der Erde... mit ein bisschen besserem Werkzeug wäre es vielleicht gar nicht so schwer, seine Urne auszugraben und die Asche zu stehlen... aber es ist schon mühselig genug, das Loch für die Pflanzen zu graben... und außerdem... was würde das nützen. ER wird ja doch nicht wieder lebendig... Aber warum ist der Grabhügel noch nicht bepflanzt? Will Mario vielleicht DOCH irgendwann die Asche ganz diskret ausgraben und nach Cap Fistera bringen? Sie erinnert sich an ein Telefongespräch mit Marios Ehefrau, kurz nachdem sie die Todesnachricht bekommen hatte.
Im Laufe dieses Gesprächs fragte sie nach dem Wunsch des Merlin, dass seine Asche bei Cap Fistera ins Meer gestreut werden sollte. Die Frau sagte daraufhin: „Wir werden im Sommer eine symbolische Wallfahrt nach Santiago machen... die ganze Familie...“ DANN muss ich wiederkommen, bevor die Sommerferien anfangen, denkt sie.. Sie darf nicht allzu sehr auffallen an diesem Grab – hin und wieder kommen Besucher vorüber – manche bleiben auch an dem Grab stehen... sie verlässt den Friedhof und geht die wenigen Straßenecken weiter bis zu seinem Haus...
.Zu Merlins Lebzeiten war sie nur einmal hier – damals als er in Rente ging und seine Abteilung zu einem Abschiedsabend zu sich nach Hause eingeladen hatte . Er hatte sie für ein Kulturprogramm nach dem Abendessen engagiert. Damals lag das Haus im Dunkeln , aber es pulsierte vor Leben...
Jetzt... Die Klingel ist abgestellt, das Telefon abgemeldet und die Fenster zugenagelt... Sie kann unangefochten um das Haus herum bis in den Garten gehen. Er ist kleiner, als sie es sich vorgestellt hat.
Aber alles ist so, wie sie es von seinen Fotografien kennt: der Springbrunnen mit dem Putto, der ihm, als er ihn dort hinsetzte, beinahe auf die Schulter gefallen wäre – der gemauerte Freisitz am Ende des Gartens mit dem Quellstein und dem kleinen Wasserlauf, den er noch im Sommer vor seinem Tod angelegt hat...
Der Rosenbogen, den seine Frau sich so gewünscht hatte... alles leblos und kahl – nur an einer sonnigen Stelle blühen leuchtend gelbe Winterlinge.
Sie setzt sich auf die Gartenmauer am Rande des Freisitzes. Starrt lange auf die Terrasse und den Erker mit den Buntglasscheiben, hinter denen sie schemenhaft verschiedene Gegenstände aufgebaut sieht – beziehungslos dort aufgereiht, als ob jemand dabei wäre, das Inventar zu sichten … Sie weint leise.... der Kummer schüttelt sie ... plötzlich schreckt sie auf: etwas leuchtet ihr ins Gesicht. Ein Sonnenstrahl hat sich in einer massiven Glaskugel verfangen, die in einem schmiedeeisernen Halter ein Beet schmückt. Sie steht mühsam auf, geht zu dem Beet und nimmt die Glaskugel an sich. Sie wird sie auf einen Tisch in ihrem Arbeitszimmer stellen. In einer Schale mit Erde von seinem Grab... Ihr ist elend zumute und sie geht wie im Traum.
Warum hat sie diese Pilgerreise auf sich genommen? Vielleicht um sich zu vergewissern, dass das alles kein böser Traum ist, sondern bitterböse Realität? Dieses Grab wirkt so steril, so anonym.. das Haus so tot... haben seine Söhne das alles schon abgehakt? Ist er für sie jetzt schon abgeschrieben?
Zurück in Gütersloh kommt sie in ein leeres Haus. Sie hat eine zweitägige Abwesenheit ihres Mannes genutzt um das Grab zu besuchen, will keine Fragen beantworten müssen... Am darauf folgenden Wochenende fährt sie zu einer Tagung in die Evangelische Akademie Loccum. Auf dem Weg dorthin und in ihren freien Minuten formuliert sie einen bösen Brief an Mario. Bitter und voller Sarkasmus . Sie schreibt sich ihre Wut und ihren Frust von der Seele und überspielt damit ihre Traurigkeit. Aber sie weiß, dass sie diesen Brief nicht abschicken wird.:
Ungeschriebener Brief an einen Ältesten Sohn
Sehr geehrter Herr Mario W.. …
Ich muss etwas zwischen uns zurecht rücken , deshalb schreibe ich Ihnen .
Zunächst einmal entschuldige ich mich dafür, Sie belästigt zu haben. Halten Sie diesen Fauxpas meiner Trauer und meiner Verzweiflung zugute. Ich war auf der Suche nach Menschen, mit denen ich über Ihren Vater hätte reden können. Keine Profis wie Pfarrer oder Therapeuten, für die der Umgang mit Trauernden zur Berufsroutine gehört, sondern Menschen die ihn gekannt und geliebt haben und mit denen ich meine Trauer und meine Erinnerungen hätte teilen können.
Das war ein Fehler.
Und dass wir uns nicht verständigen konnten, ist mein Verschulden:
1. Ich habe den Kontakt zu ihnen emotional überfrachtet. Und nicht daran gedacht, dass konventionelle Menschen von zu viel Emotionen abgeschreckt werden.
2. Ich habe in Sie Dinge hinein projiziert, die unrealistisch sind. Wenn man viel über einen Menschen zu wissen glaubt, weil jemand gut von ihm gesprochen hat, dann hat man Vertrauen zu diesem Menschen, auch wenn man ihm nie begegnet ist. Im Geschäftsleben spricht man glaube ich von einem "guten Leumund" und "Treu und Glauben". Und ich war so naiv, anzunehmen, dass ich bei Ihnen denselben guten Leumund hätte , wie Sie bei mir.
Natürlich war das ein Irrtum. Warum hätte es
Seiten
Der Bilderzyklus von dem in diesen Aufzeichnungen die Rede ist, kann auf der Facebook-Seite "Eros und Thanatos - Liebe und Tod" eingesehen werden