Das Volk der Fugoten - eine Erzählung - Page 12

Bild von Volker Schlepütz
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mit seinem herausgespritzten Gehirn in den Dreck fiel.
Hat sonst noch jemand Lust zu lachen?, brüllt er lautstark in die Menge der Schneemänner. Augenblicklich wurde es still, so unheimlich still, dass man die Baumkronen hörte, die vom Wind leise raschelten. So fror jede Bewegung für einige Minuten ein, bis der Mann im schwarzen Anzug sprach:
Ihr werdet noch eine Menge lernen müssen, vor allem werdet ihr lernen, mir zu gehorchen, denn ich bin ab jetzt derjenige, der über euch entscheidet. Bringt mich also nicht auf die Palme, ihr seht, welche Konsequenzen es hat. Dann knipste er in die Finger und ein Mann mit schwarzem Anzug, der an der Tischreihe saß, trabte heran. Eine kurze Handbewegung des Redeführers und der tote Schneemann sollte zum Vulkansee weggeschleppt werden.
Dieses Mal war den Gesichtern der Fugoten anzusehen, wie abscheulich sie den Mord an dem Fugoten fanden. Geron und Thea schauten sich von weitem an. Sie wussten, wen der Redeführer erschossen hatte. Es war Daniel Leberzeck. Daniel Leberzeck war aus Zelt 4 und damit eine wichtige Ressource für den großen Plan. Er sollte die Strategie entwickeln, wie der Plan umzusetzen war, wenn es zu Problemen kommen sollte. Er war so zu sagen der ranghöchste Problemlöser unter den Fugoten. Ihn zu verlieren, war ein schmerzlicher Verlust. Selbst Gereon, der sich in Algorithmen und Datenstrukturen auskannte, war nicht in der Lage, die zu jeder möglichen Änderung der Regierungspläne optimale Anpassungsstrategie zu finden. Darin war nur Daniel ein Experte aufgrund seiner Militärzeit im ersten Ressourcenkrieg für das Land 8. Neben ihm war nur noch einer ein wenig geschult, Pascal Espenholz, der ebenfalls im Zelt 4 registriert wurde, weil er neben Daniel der zweite Problemlöser war. Selbst aber wurde er im Krieg nicht tätig, sondern er schaute nur zu, wie Daniel Anpassungsstrategien entwarf und ausführte. Er sollte langsam an diese Tätigkeit herangeführt werden. Er hatte zwar mit Daniel den besten Ausbilder, den man sich vorstellen konnte, aber ihm fehlte die eigene Praxis. Nun war nur zu hoffen, dass er sich nach der Ermordung von Daniel reif genug fühlte, diese Aufgabe für ihn zu übernehmen. Genau das ging Gereon und Thea durch den Kopf, als sie sich ansahen.
Der Redeführer der schwarzen Anzugsmänner ging zu der Tischreihe zurück, wo das Brenneisen mittlerweile weiß glühte. In einer Holzkiste, die er vom Boden auf den Tisch neben das Brenneisen stellte, lagen aus Eisen gefertigte Zahlen, die mit einer Zange in das Brenneisen eingerastet werden konnte.
Nummer 1 vortreten!, schrie er in die Menge. Es war Jelika Kopitz. Ihr wurde die Nummer 1 auf die Stirn gebrannt. Dabei drückte sie ihre Stirn noch besonders fest gegen das Brenneisen und verkniff sich nur sehr widerwillig ein Lächeln während der Prozedur. Sie spürte keinen Schmerz und hatte den großen Plan fest im Blick. Auf diese Weise wurden allen anderen Fugoten Nummern auf die Stirn gebrannt, dass es nach verkohltem Fleisch stank, der in der Windstille und der heißen Sonne über dem ganzen Verwaltungsvorplatz wie ein stummer Totenschleier waberte. Nachdem bis zum Mittag alle Fugoten mit Brandzeichen markiert waren, wurden sie in eine Lagerhalle abkommandiert, wo sie sich einer Köperreinigung unterziehen sollten. Dazu hatten sich die vier Männer mit den schwarzen Anzügen in jeder Ecke der Halle mit einem dicken Wasserschlauch bewaffnet, aus denen eiskaltes Wasser herausschoss. Auf den Böden hatten die Männer mit den schwarzen Anzügen Kernseife ausgelegt, so dass der Boden rasch rutschig wurde und einige Fugoten Mühe hatten, nicht auszurutschen und sich zu verletzen. Etwa zwanzig Minuten wurden sie auf diese demütigende Weise gesäubert. Nach der Säuberung wurde ihnen die Haare mit einer Rasiermaschine kurz geschoren, so dass die weiblichen Fugoten männlicher aussahen. Es dauerte bis zum frühen Abend, bis alle Fugoten gesäubert, geschoren und in Leinenwäsche eingekleidet waren. Ihr Aussehen erinnert sehr an die Juden, die vor 150 Jahren dem Holocaust zum Opfer gefallen waren. Es gab nur einen großen Unterschied zwischen den Juden damals und den Fugten heute. Die Fugoten hatten einen großen Plan, während die Juden hoffnungslos verloren waren, wenn sie erst einmal in einem Konzentrationslager angelangt waren. Für die Fugoten war diese ganze Säuberungsaktion deswegen auch nicht so demütigend, wie es von außen betrachtet aussah. Sie wussten, was auf sie zukam und waren in dem festen Glauben, dass ihnen nichts geschehen würde, wenn der große Plan aufging. Gereon und Thea hatten lange zusammengesessen und viele Optionen durchgespielt. Es gab nur ein minimales Risiko, dass der Plan scheiterte, aber dafür zu resignieren, wäre einer Situation gleich, dass ein Fallschirm sich nicht öffnet. Und selbst wenn dies geschehen würde, wären sie immer noch lieber glücklich gestorben als dem Land 8 ihren großen Plan in die Hände zu spielen. Der Plan war eigentlich simple, aber dennoch schwer zu realisieren. Es war wie mit dem Schachspiel, von dem man sagt, dass es leicht zu lernen aber schwer zu beherrschen ist. Der Plan bestand darin, einen dritten Ressourcenkrieg zu provozieren und von den Siegermächten befreit zu werden. Dann würden das Militär und alle, die an den Gräueltaten an den Fugoten mitgewirkt hatten, im Vulkansee ertränkt, was eine angemessene Art der Hinrichtung war. Sie sollten auf dieselbe Art und Weise sterben, wie sie Teile des Volks der Fugoten ermordet hatten. Zu den Mitläufern gehörten selbstverständlich die gesamte Regierung und alle Antragsteller, die der Regierung einen Antrag gestellt hatten, die Fugoten zu internieren. Wenn dies gelingen sollte, waren die Fugoten, die Teile der Bevölkerung, die keinen Antrag gestellt hatten und diejenigen, die keinen Antrag stellen durften, wie die Alten, die in den Seniorenheimen einsaßen die einzigen Überlebenden im Land 8. Und da die Fugoten den Ausweg aus der Klimakatastrophe dank Thea und Gereon wussten, waren sie es, die das Land weiter regieren durften und konnten. Denn der Paragraf 2 der Kriegsgesetzgebung sah vor, dass nicht die Siegermächte die Regierung übernehmen sollten, sondern die Bevölkerung des Landes, gegen den sich der Krieg gerichtet hatte. Auf diesen Verlauf der Zukunft hofften die Fugoten. Ihre Aufgabe bestand darin, alles Mögliche und Denkbare zu unternehmen, diesen Ressourcenkrieg anzuzetteln. Die Schwierigkeit lag darin, in jedem Moment, gleich einem Schachspiel, den besten Plan und

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