Das Volk der Fugoten - eine Erzählung - Page 17

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hatte Zweifel daran. Sie schien instinktiv zu ahnen, dass es dieses Mal keine Reise an einen anderen Ort werden sollte, sondern eine Reise in den Tod.
Um Punkt 8:00 Uhr traf ein Konvoi aus vier Bussen ein, die mit Nummern versehen waren. Es waren die gleichen Nummern, die auch auf den Zelten der Registratur aufgedruckt waren.
Nach einer halben Stunde befahl ein Mann mit schwarzen Anzug den Fugoten, aus ihren Zimmern zu treten. Alle, mit Ausnahme der Frau, die an den See gelaufen war, kamen langsam mit ihren bepackten Rucksäcken aus den Baracken und stiegen in die Busse.
Ihr seid nicht vollständig, Volk! rief er den Fugoten zu. Es fehlt noch eine Frau. Dann kam ein anderer Mann mit schwarzem Anzug zu dem Verkünder und flüsterte ihm etwas in sein Ohr.
Ah ha, soso, sagte er. Die Frau will nicht mitkommen? Dann schrie er den fünfzehnjährigen Kamil an.
Wo wohnt diese verfluchte Frau, die hier nicht angetreten ist! Ich will es auf der Stelle wissen!!
Der Junge schwieg. Keiner gab eine Antwort, alle schwiegen, denn keiner konnte es mit seinem Gewissen vereinbaren, das Zimmer preiszugeben, wo sich die Frau verschanzt hielt.
Ich frage Euch zum letzten Mal, Volk. Wo wohnt diese Frau? Seine Stimme bebte vor Wut.
Dann zog er seine Pistole aus dem Halfter und ging auf Thea zu.
Wo wohnt diese verdammt Frau, schrie er Thea an. Als sie nicht antwortete, legte er die Mündung an ihre Stirn und feuerte einen Schuss ab. Das Blut spritze aus ihrem Gehirn, und sie fiel rücklings zu Boden, wo sie noch einen Moment mit den Beinen zuckte und dann tot am Boden liegen blieb. Auch der Mann mit dem schwarzen Anzug hatte Blutspritzer im Gesicht, die er sich angewidert mit einem Taschentuch wegwischte.
Wo wohnt diese verfluchte Frau, Ihr verdammtes stures Volk, schrie der Mann mit dem schwarzen Anzug abermals. Und auch dieses Mal schwiegen alle. Da wurde der Mann mit dem schwarzen Anzug wütend und stampfte schnurstracks in das Rathaus. Wenige Minuten später kam er mit einem Maschinengewehr heraus, klappte die Metallständer aus und stellte sie auf die Veranda auf, bereit dazu, das ganze Volk zu erschießen.
Halt, schrie Gereon, die Frau kann nicht aus ihrer Wohnung kommen, sie ist tot. Sie hat sich das Leben genommen.
Der Mann mit dem schwarzen Anzug sicherte das Maschinengewehr und lief auf Gereon zu.
Dann führe mich zu der Wohnung, damit ich mich dessen versichern kann. Wenn es nicht stimmt und Du gelogen hast, werfe ich Dich in den See. Sagst du die Wahrheit, kannst du mit deinem Gewissen weiterleben, dass deine späte Antwort Schuld am Tod dieser Frau ist, und zeigte auf die ausblutende Thea.
Gereon sagte aber kein Wort. Ein anderer Fugote sprach zu dem Mann mit dem schwarzen Anzug, der Thea getötet hatte:
Der Junge hat deine Frage gar nicht gehört und hätte es auch nicht sagen können, er ist nämlich taubstumm.
Ach so, taub ist er, lachte der Mann mit dem schwarzen Anzug höhnisch. Taube sind also auch unter Euch Brüdern und verzog sein Gesicht zu einer angeekelten Fratze. Dabei spuckte er braunen Schleim auf den Boden, den er aus der Nase hochgezogen hatte.
Und warum hast Du denn nichts gesagt?, drehte er sich zu Gereon hin.
Weil ich es nicht wusste, ich wohne in einer anderen Baracke.
Und wer von Euch wohnt denn noch in der Baracke, wo die Frau sich scheinbar das Leben genommen hat. Noch ist es ja nicht druckreif, schrie er die anderen an.
Dann sagte ein anderer Fugote, nur Thea wohnte in der Baracke, wo die Frau sich umgebracht hat und zeigte auf die am Boden liegende Tote.
Ach ja? Das ist ja allerhand, das ist ja wirklich allerhand, da wohnen also nur zwei Frauen in einer Baracke, die zweiundzwanzig Zimmer hat. Waren sie vielleicht lesbisch? Wie ekelhaft seid ihr Volk eigentlich noch? Euch ist es wohl egal, wenn ihr als Missgebildete auch noch homosexuell seid. Er schlug den taubstummen Jungen mit einem kräftigen Hieb zu Boden. Hast Du auch heimlich mit dieser Frau geschlafen? Dabei wippte er mit der Hüfte so, als würde man eine Frau von Hinten nehmen. Der Taube verstand die Mimik und schüttelte heftig mit dem Kopf. Nein?, schrie der Mann mit dem schwarzen Anzug ihn an. Lügst du mich an und wippte abermals mit der Hüfte. Wieder schüttelte der Taube heftig mit dem Kopf. Ach, dann bist Du also am Ende auch noch schwul oder was?, schrie er. Aber der Taube verstand ihn nicht. Und auch die Bewohner schwiegen, obwohl sie alle den Grund kannten. Doch niemand wollte es aussprechen. Der Mann mit dem schwarzen Anzug blieb stehen und schwenkte seinen Kopf von einem Bewohner zum nächsten und blickte in alle schweigenden Gesichter, während der Taube weiterhin auf dem Boden lag und sich das Blut vom Mund wischte, denn der Fausthieb hatte seine Oberlippe aufplatzen lassen. Dann spuckte er erneut auf den staubigen Boden und befahl dem Tauben, aufzustehen und ihn zu der Wohnung der Frau zu führen. Und es war wahr. Die Frau hatte sich an der Neonröhre ihrer Wohnung mit ihrem Rucksack erhängt, die Augen quollen aus den Augäpfeln hervor und am Boden hatte sich eine Urinlache gebildet.
Keine Stunde später wurden die Fugoten mit den Bussen abtransportiert, der sieben-türige Mercedes mit den Männern in den schwarzen Anzügen ließ die Kaserne mit ihren beiden Villen und den Baracken unverschlossen als Ruine zurück.

7

Einige Monate später kehrte ein Wanderer mit langem Lodenmantel und einem Strohhut in die verlassene Kaserne ein. Vermutlich hatte er die Kaserne auf seiner Karte entdeckt und sich erhofft, seine Wassertaschen aufzufüllen und frisches Brot zu kaufen. Als er sah, dass die Kaserne einsam verdorrt war und die Hecken rund um die Villen lang geworden waren, blieb er stehen und suchte nach Hinweisen, ob noch jemand in der Kaserne war. So ging er in die Baracken, in das Verwaltungsgebäude und die Villen und rief jedes Mal nach möglichen Bewohnern. Aber es antwortete niemand, er sah die immer noch aufgebauten Tische, die von der Witterung einen grünlichen Farbton bekommen hatten und fragte sich, was wohl geschehen sein mag. Die Tische erinnerten ihn an eine Registratur, aber ob es sich um Soldaten handelte, die hier rekrutiert worden waren oder ob es eine Feier zu einem Gedenktag gewesen sein könnte, er konnte nur spekulieren, was ihn unzufrieden stimmte. Da er müde wurde und die Sonne hinter den Bäumen verschwand, legte er sich schlafen. Als er am Morgen aufwachte, ging er durch alle Gänge, Zimmer und Säle des Verwaltungsgebäudes, in der Hoffnung, irgendetwas zu finden, was ihm Hinweise darauf gab, was geschehen sein könnte. Dann fand er in der Schublade einer verstaubten Kommode eine Liste. Es war die Liste mit den Namen der Fugoten, wie sie in der Registratur auf dem großen Platz der Regierung erfasst wurden und auf die vier Zelte aufgeteilt wurden. Der Liste entnahm er Vor- und Nachnamen sowie das Alter von Personen. Als er auf den Namen Gereon Rosenheim stieß, begann er zu verstehen. Es war die Liste der Fugoten. Und der Wanderer war kein anderer als Ruben Zoloff, einst der Chef einer der mächtigsten Wirtschaftsunternehmen im Land 8, der im Alter erkannt hatte, dass es wichtigere Dinge gibt, als sein ganzes Leben zu schuften, um Reichtümer anzuhäufen, die ab einer bestimmten Menge keinen zusätzlichen Wert mehr hatten. So hatte er sich vorgenommen, sein über viele Jahre verdientes Geld nur noch für gute Zwecke auszugeben, um dem Land 8 eine neue Mitmenschlichkeit zu vermitteln. Ruben kannte Gereon, da er ihn vor etwa zehn Jahren bei seiner Firma als IT-Systemadministrator eingestellt hatte. Er leistet hervorragende Arbeit, denn Gereon war einer der besten Informatiker in seinem Energieunternehmen. Als Ruben das Unternehmen verlassen hatte, um die restliche Zeit durch das Land zu wandern, verließ auch Gereon das Unternehmen. Dann sah der Wanderer auf die Tische vor dem Verwaltungsgebäude und schöpfte einen Verdacht. Wahrscheinlich waren die Fugoten hier interniert worden. Und er wusste natürlich, dass sich die Fugoten in der Öffentlichkeit tanzend bewegten. Und da er auf seinen vielen Wanderungen durch das Land in den vergangenen Monaten keinen tanzenden Fugoten mehr gesehen hatte und auch in den Gesellschaftsräumen häufiger Gast war und Gerüchte von der Internierung der Fugoten aufschnappte, erhärtete sich sein Verdacht zu einer starken Vermutung, dass die Fugoten hier interniert worden waren. Aber was war mit ihnen geschehen, wenn sie nun nicht mehr hier waren, fragte er sich. Er ging nachdenklich auf dem großen Platz herum, bis er nach einer Weile stehenblieb, in seine Manteltasche griff und ein kleines Notizbuch herauszog. Dort hatte er Telefonnummern zu Freunden und Regierungsbeamten notiert. Als Chef des größten verstaatlichten Energieunternehmens war er einst gleichzeitig Minister für Energie und Umwelt und pflegte Kontakte zu Regierungsmitarbeitern. Einer von ihnen war Regierungssekretär Dr. Arnold Kaufmann. Sie waren sich nicht nur in Energiefragen einig, insbesondere was die Klimaproblematik betraf, sondern sie trafen sich auch gelegentlich privat zum Essen oder zum Schachspiel bei einem Rotwein. Überglücklich fand er im Verwaltungsgebäude der Kaserne im Zimmer des Kommandanten ein funktionierendes Telefon. So rief er Kaufmann an und unterbreitete ihm ein Angebot. Das Gespräch dauerte sehr lange, so dass bereits die Dämmerung einsetzte, als er endlich den Hörer auflegte. Aus dem Gespräch erfuhr er, dass die Fugoten in einem Gefängnis im Süden des Landes einsaßen und auf ihre Hinrichtung warteten. Die Todesurteile sollten am 1. November 2081 vollstreckt werden. Aber dazu sollte es nicht kommen. Denn Ruben hatte Kaufmann nach langer und zäher Verhandlung dazu überreden können, der Regierung die Fugoten abzukaufen. Der Preis war enorm hoch, aber Ruben war dazu bereit, denn er konnte nicht zusehen, wie ein so freundliches, optimistisches und mutiges Volk vernichtet werden sollte. Ruben hatte sich eine andere Perspektive für sich und die Fugoten ausgedacht. Und natürlich war auch das Gegenstand der langen Unterredung mit Kaufmann. Ruben hatte eine der beiden Inseln ersteigert und schlug Kaufmann vor, die Fugoten auf seiner Insel weiterleben zu lassen, denn dort war niemand anderer als Ruben. Die Ersteigerung der Insel war mit der Pflicht verbunden, eine Fabrik zu bauen, die dem Wohle des Landes dienen sollte. Ruben war es dabei freigestellt, was dort produziert werden sollte. Kaufmann war ein intelligenter Mensch, er wusste, dass der neue Rohstoff so gut erforscht war, dass er in die Anwendung durch die Industrie gehen konnte, um Katalysatoren zu bauen, die Abgase in Atemluft transformieren. Denn das war das Ergebnis vieler Tests mit dem Rohstoff. So kaufte Ruben die Fugoten und einigte sich mit Kaufmann darüber, dass auf der Insel von Ruben eine Fabrik zur Produktion dieser neuen Katalysatoren errichtet werden sollte. Den größten Streit zwischen ihnen gab es um einen wichtigen Zusatzpunkt. Kaufmann war strikt dagegen, dass sich die Fugoten tanzend auf der Insel bewegen dürften. Aber Ruben gelang es auch hier, Kaufmann umzustimmen, indem er ihm den gleichen Betrag als Privatzuschuss zusprach, den er bereits auch für die Fugoten insgesamt zu zahlen hatte. Und er musste die Insel mit einer vier Meter hohen Hecke bepflanzen, damit es der Bevölkerung auf Seereisen nicht zugemutet werden sollte, tanzende Fugoten zu sehen und sie damit zu erregen und zu empören. Ruben hatte hart verhandeln müssen, aber so sollte es geschehen und so geschah es auch. Die Fugoten wurden auf die Insel gebracht, die Insel wurde nach ihnen benannt, die Fabrik wurde errichtet und jeden Abend tanzten die Fugoten am Strand zur untergehenden Sonne.
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