Gefährlicher Sommer (Teil 7) - Page 2

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von Annelie Kelch

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holprigen Holzfäller-Tiraden und wenn sie mit den Zähnen knirschte. Man hätte meinen können, sie gurgelte mit geöff­neten Sicherheitsnadeln; aber vermutlich diskutierte sie lediglich mit Oma und Tante Agnes ein (über)lebenswichtiges Thema. Kein Wunder: Das musste unweiger­lich zu lebhaften Träumen führen! Um Fragen von der harmlosen Sorte kreisten Lenis Traumphantasien ganz gewiss nicht, und welche von den Frauen die Fleissig­ste auf Hof Lachau sei, steht schließlich tagtäglich zur Debatte. Die drei alten Damen (Leni, Oma und Tante Agnes) befinden sich längst im fortgeschrittenen Alter, und es ist ihnen vollkommen schnuppe, dass sie nicht mehr zu den Schönsten im Dorf zählen (ich glaube übrigens, dass Leni sich diese Frage nie gestellt hat), während Mutti nach wie vor ihr (Un)Möglichstes ausprobiert, damit man sie für die Schwester von Vera Tschechowa hält.
Auf dem Hof war das Leben längst im vollen Gange: Für den armen Heiner hatte der Tag um vier Uhr dreißig im Kuhstall begonnen, damit die Milch Punkt sieben zur Abholung durch den Molkereiwagen am Eingang der Allee bereit stand. Das Scheppern und Klirren der silberfarbenen Milchkübel drang bis in in den zweiten Stock des herrschaftlichen Anwesens, und wer zu jener Stunde noch schlief, wurde spätestens durch diese Geräusche aus dem Bett ge­scheucht.

Wo Heiner sich nach dem Frühstück aufhielt, war ebenfalls kein Geheimnis: Ver­mutlich half er Henry, einem Landarbeiter aus dem Dorf, beim Füttern, Wa­schen und Striegeln der Pferde, nachdem sie die Boxen ausgemistet hatten. Trotzdem müffelt das Heu im Pferdestall ständig nach warmem Dung und Ammoniak, aber nicht eben unangenehm; so dünstet es nun mal in einem Lagerhaus, wo die warm­blütigen Haferlokomotiven und Dampfrösser auf ihren Einsatz warten.

Meine Augenlider fühlten sich dermaßen schwer an, als habe jemand Blei­klumpen draufgepackt, um mir das Spiel zu verderben, und ich kämpfte eine geraume Weile verbissen dagegen an, wieder einzuschlummern.
War Axel Kröger beim Frühstück eingedöst? Ich wartete und wartete ... eine Ewigkeit verstrich. Aber dann ... endlich! Im Hof wurde eine Autotür zugeschlagen; kurz darauf heulte ein Motor auf, und das Fahrzeug, vermutlich der BMW von Herrn Kröger, kurvte mit quietschenden Reifen vom Hof. Ich stellte mir die riesi­ge Staubwol­ke vor, die der Inspektor zurückließ, die entgeisterten Augen der Lachauer Hühner und wie der Schotter in der Kastanienallee gegen die Radkap­pen spritzte.
Jetzt war es endlich soweit! Jetzt konnte ich hundertprozentig sicher sein, dass der neue Verwalter das Feld geräumt hatte. Hastig schlug ich das leichte Feder­bett mit dem rot-weiß gewür­felten Leinenbezug zur Seite und begab mich an den Waschtisch, um mich in fieberhafter Eile der Mor­gentoilette zu widmen. „Katzenwäsche“, hätten Oma und Mutti dazu gesagt, aber ich musste mich mächtig sputen, damit Leni mir nicht in die Quere kam. Noch rascher kleidete ich mich an (blaue Nietenhosen und meine neue rote Leinenblu­se, deren Drei­viertel-Ärmel ich hochkrempelte, so weit es möglich war) und schlich auf Zehen­spitzen über den Flur zum Jagdzimmer, Axel Krögers exotischem Schlaf­gemach. Ein paar Dielenbretter knarzten, und ich hielt erschrocken den Atem am.
Sollte Knuts Nachfolger die Tür hinter sich abgeschlossen haben, so war dies eben­falls sehr leise ge­schehen und nicht an meine gespitzten Ohren ge­drungen. Ich drückte die altmodische, wunderschön verzierte Messingklin­ke herunter und – die Tür sprang auf. Ein Umstand, den ich mir zwar erhofft, mit dem ich jedoch nicht vorbehaltlos gerechnet hatte.

Wahrscheinlich, liebe Christine, ist es unter Gutsverwaltern üblich, weder das Bett zu machen noch zu lüften, ähnlich „wie bei den sieben Zwergen“. Möglicherweise war­ten sie heimlich auf Schneewittchen. Erinnere dich bitte: Genau­so hielt es der arme Knut; aber gewiss ist der Grund dafür die frühe Stunde, zu der sie ihre Arbeit auf dem Hof beginnen müssen. Mir jedenfalls lag nichts ferner, als in die Sama­riter-Rolle der schönen Stieftochter des bösartigen Weibes (Königin) zu schlüp­fen.
Krögers Nachtgewand, ein blaugrau gestreifter Pyjama, lag neben dem Bett auf dem Fußboden. Ich fin­gerte eine weiße Garnrolle und eine Nähnadel aus der hinteren Gesäß­tasche meiner Nietenhose – beides hatte ich mir aus Omas Nähtischchen geborgt –, ließ mich aufs ungemachte Bett nieder, fummelte den Zwirn durch das winzige Nadelöhr und begann, die Ärmel des Oberteils zuzu­nähen; die Hosen­beine würden sich noch ein wenig gedulden müssen. Während der Näharbeit ließ ich meine Blicke immer wieder durch das helle Jagdzimmer schweifen. Die beigen Jalousien waren bis zum oberen Fensterrahmen hochge­rollt, und die Sonne strahlte ausgesprochen ferienmäßig durch die schmalen, deckenho­hen Ostfen­ster; der helle Tag glitt durch das weitläufige Zimmer und ergoß sich honiggelb auf den Parkettfußboden. Myriaden von Sonnen­stäubchen tanzten im zittrigen Licht auf und ab. Ich fühlte mich wie geblendet von der Schönheit dieses Sommermorgens.

Auf dem Nachtschrank ruhten zwei Bücher, aus denen Lesezeichen mit Bä­rentatzen ragten. „Januskopf der Landwirtschaft“ und „Tiere artgerecht halten“ lau­teten die Titel, die mir völlig unbekannt waren. Ich schämte mich ein wenig, dass ich dermaßen unwissend war, was Ackerbau und Viehzucht be­traf. Immerhin habe ich Hof Lachau vor unendlich langer Zeit zu meinem erklärten Feriendomizil erkoren, woran eine gewisse Christina Lakoda aus Bremen nicht ganz unschuldig ist. Ich hing meinen Gedanken nach, bis mein er­staunter Blick an einem der Fotos über dem grundsoliden Eichenbett hängen blieb. Aus einem ver­goldeten Bilderrahmen lachte mir eine sympatische Frau entge­gen. Sie hielt ihren braungebrannten Arm um einen Knaben geschlungen, der herzig in die Kamera linste. Erst auf den dritten Blick erkannte ich Hannes Krö­ger. Du wirst es nicht glauben, Stine … pardon, Christine: Hannes wirkt auf diesem Porträt total harmlos, wie ein lieber kleiner Junge, kein biss­chen frech. Sein treuherziger Gesichtsausdruck verblüffte mich eini­germaßen. Mann, hat der sich verändert, grübelte ich diesem Phänomen eine Weile nach.
Die junge Frau mit dem weichen, schmalen Gesicht kann eigentlich nur die Mutter von Hannes Kröger sein, das schöne Eheweib des Inspektors, überlegte ich. Hannes sah ihr allerdings kein bisschen ähnlich. Die Lady auf dem Foto trug rotbraune, lange Locken und schaute aus gro­ßen dunklen Augen ein wenig melan­cholisch drein (das kann ich mir bei Hannes Kröger nun wirklich nicht vorstellen.) Wären nicht die tieftraurigen Augen gewesen, hätte man sie für einen fröhlichen Menschen halten können. Ob Axel Kröger für ihre Schwermut verantwortlich ist? Meine Phantasie war in dieser Hinsicht nicht sonderlich beansprucht.

Weitere Aufnahmen

Die Armleuchteralgen (Charophyceae oder Charales), die ganz am Schluss dieses Kapitels auftreten, sind eine weltweit verbreitete, phylogenetisch urtümliche Organismengruppe von Wasser„pflanzen“. Armleuchteralgen werden zwar manchmal zu den Grünalgen gezählt, haben mit diesen aber nur die Assimilationspigmente und Reservestoffe gemein. Ihr Habitus ähnelt eher höheren Blütenpflanzen (vor allem dem Hornblatt, Ceratophyllum). Mit ihrem Aufbau und ihren Fortpflanzungsorganen stehen Armleuchteralgen im System der heutigen Lebewesen als eine isolierte Gruppe. Phylogenetisch betrachtet gelten sie als Schwestertaxon der Pflanzen. Der wissenschaftliche Name wurde vom lateinischen chara (= eine bestimmte Knollenfrucht von bitterem Geschmack) abgeleitet. Diesen hat Carl von Linné im Jahr 1763 geprägt. Ihren deutschen Namen verdanken sie der Anordnung der Quirläste und der darauf sitzenden Gametangien; diese erinnert an einen vielarmigen Kerzenleuchter (aus Wikipedia).

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