Seiten
holprigen Holzfäller-Tiraden und wenn sie mit den Zähnen knirschte. Man hätte meinen können, sie gurgelte mit geöffneten Sicherheitsnadeln; aber vermutlich diskutierte sie lediglich mit Oma und Tante Agnes ein (über)lebenswichtiges Thema. Kein Wunder: Das musste unweigerlich zu lebhaften Träumen führen! Um Fragen von der harmlosen Sorte kreisten Lenis Traumphantasien ganz gewiss nicht, und welche von den Frauen die Fleissigste auf Hof Lachau sei, steht schließlich tagtäglich zur Debatte. Die drei alten Damen (Leni, Oma und Tante Agnes) befinden sich längst im fortgeschrittenen Alter, und es ist ihnen vollkommen schnuppe, dass sie nicht mehr zu den Schönsten im Dorf zählen (ich glaube übrigens, dass Leni sich diese Frage nie gestellt hat), während Mutti nach wie vor ihr (Un)Möglichstes ausprobiert, damit man sie für die Schwester von Vera Tschechowa hält.
Auf dem Hof war das Leben längst im vollen Gange: Für den armen Heiner hatte der Tag um vier Uhr dreißig im Kuhstall begonnen, damit die Milch Punkt sieben zur Abholung durch den Molkereiwagen am Eingang der Allee bereit stand. Das Scheppern und Klirren der silberfarbenen Milchkübel drang bis in in den zweiten Stock des herrschaftlichen Anwesens, und wer zu jener Stunde noch schlief, wurde spätestens durch diese Geräusche aus dem Bett gescheucht.
Wo Heiner sich nach dem Frühstück aufhielt, war ebenfalls kein Geheimnis: Vermutlich half er Henry, einem Landarbeiter aus dem Dorf, beim Füttern, Waschen und Striegeln der Pferde, nachdem sie die Boxen ausgemistet hatten. Trotzdem müffelt das Heu im Pferdestall ständig nach warmem Dung und Ammoniak, aber nicht eben unangenehm; so dünstet es nun mal in einem Lagerhaus, wo die warmblütigen Haferlokomotiven und Dampfrösser auf ihren Einsatz warten.
Meine Augenlider fühlten sich dermaßen schwer an, als habe jemand Bleiklumpen draufgepackt, um mir das Spiel zu verderben, und ich kämpfte eine geraume Weile verbissen dagegen an, wieder einzuschlummern.
War Axel Kröger beim Frühstück eingedöst? Ich wartete und wartete ... eine Ewigkeit verstrich. Aber dann ... endlich! Im Hof wurde eine Autotür zugeschlagen; kurz darauf heulte ein Motor auf, und das Fahrzeug, vermutlich der BMW von Herrn Kröger, kurvte mit quietschenden Reifen vom Hof. Ich stellte mir die riesige Staubwolke vor, die der Inspektor zurückließ, die entgeisterten Augen der Lachauer Hühner und wie der Schotter in der Kastanienallee gegen die Radkappen spritzte.
Jetzt war es endlich soweit! Jetzt konnte ich hundertprozentig sicher sein, dass der neue Verwalter das Feld geräumt hatte. Hastig schlug ich das leichte Federbett mit dem rot-weiß gewürfelten Leinenbezug zur Seite und begab mich an den Waschtisch, um mich in fieberhafter Eile der Morgentoilette zu widmen. „Katzenwäsche“, hätten Oma und Mutti dazu gesagt, aber ich musste mich mächtig sputen, damit Leni mir nicht in die Quere kam. Noch rascher kleidete ich mich an (blaue Nietenhosen und meine neue rote Leinenbluse, deren Dreiviertel-Ärmel ich hochkrempelte, so weit es möglich war) und schlich auf Zehenspitzen über den Flur zum Jagdzimmer, Axel Krögers exotischem Schlafgemach. Ein paar Dielenbretter knarzten, und ich hielt erschrocken den Atem am.
Sollte Knuts Nachfolger die Tür hinter sich abgeschlossen haben, so war dies ebenfalls sehr leise geschehen und nicht an meine gespitzten Ohren gedrungen. Ich drückte die altmodische, wunderschön verzierte Messingklinke herunter und – die Tür sprang auf. Ein Umstand, den ich mir zwar erhofft, mit dem ich jedoch nicht vorbehaltlos gerechnet hatte.
Wahrscheinlich, liebe Christine, ist es unter Gutsverwaltern üblich, weder das Bett zu machen noch zu lüften, ähnlich „wie bei den sieben Zwergen“. Möglicherweise warten sie heimlich auf Schneewittchen. Erinnere dich bitte: Genauso hielt es der arme Knut; aber gewiss ist der Grund dafür die frühe Stunde, zu der sie ihre Arbeit auf dem Hof beginnen müssen. Mir jedenfalls lag nichts ferner, als in die Samariter-Rolle der schönen Stieftochter des bösartigen Weibes (Königin) zu schlüpfen.
Krögers Nachtgewand, ein blaugrau gestreifter Pyjama, lag neben dem Bett auf dem Fußboden. Ich fingerte eine weiße Garnrolle und eine Nähnadel aus der hinteren Gesäßtasche meiner Nietenhose – beides hatte ich mir aus Omas Nähtischchen geborgt –, ließ mich aufs ungemachte Bett nieder, fummelte den Zwirn durch das winzige Nadelöhr und begann, die Ärmel des Oberteils zuzunähen; die Hosenbeine würden sich noch ein wenig gedulden müssen. Während der Näharbeit ließ ich meine Blicke immer wieder durch das helle Jagdzimmer schweifen. Die beigen Jalousien waren bis zum oberen Fensterrahmen hochgerollt, und die Sonne strahlte ausgesprochen ferienmäßig durch die schmalen, deckenhohen Ostfenster; der helle Tag glitt durch das weitläufige Zimmer und ergoß sich honiggelb auf den Parkettfußboden. Myriaden von Sonnenstäubchen tanzten im zittrigen Licht auf und ab. Ich fühlte mich wie geblendet von der Schönheit dieses Sommermorgens.
Auf dem Nachtschrank ruhten zwei Bücher, aus denen Lesezeichen mit Bärentatzen ragten. „Januskopf der Landwirtschaft“ und „Tiere artgerecht halten“ lauteten die Titel, die mir völlig unbekannt waren. Ich schämte mich ein wenig, dass ich dermaßen unwissend war, was Ackerbau und Viehzucht betraf. Immerhin habe ich Hof Lachau vor unendlich langer Zeit zu meinem erklärten Feriendomizil erkoren, woran eine gewisse Christina Lakoda aus Bremen nicht ganz unschuldig ist. Ich hing meinen Gedanken nach, bis mein erstaunter Blick an einem der Fotos über dem grundsoliden Eichenbett hängen blieb. Aus einem vergoldeten Bilderrahmen lachte mir eine sympatische Frau entgegen. Sie hielt ihren braungebrannten Arm um einen Knaben geschlungen, der herzig in die Kamera linste. Erst auf den dritten Blick erkannte ich Hannes Kröger. Du wirst es nicht glauben, Stine … pardon, Christine: Hannes wirkt auf diesem Porträt total harmlos, wie ein lieber kleiner Junge, kein bisschen frech. Sein treuherziger Gesichtsausdruck verblüffte mich einigermaßen. Mann, hat der sich verändert, grübelte ich diesem Phänomen eine Weile nach.
Die junge Frau mit dem weichen, schmalen Gesicht kann eigentlich nur die Mutter von Hannes Kröger sein, das schöne Eheweib des Inspektors, überlegte ich. Hannes sah ihr allerdings kein bisschen ähnlich. Die Lady auf dem Foto trug rotbraune, lange Locken und schaute aus großen dunklen Augen ein wenig melancholisch drein (das kann ich mir bei Hannes Kröger nun wirklich nicht vorstellen.) Wären nicht die tieftraurigen Augen gewesen, hätte man sie für einen fröhlichen Menschen halten können. Ob Axel Kröger für ihre Schwermut verantwortlich ist? Meine Phantasie war in dieser Hinsicht nicht sonderlich beansprucht.
Weitere Aufnahmen
Die Armleuchteralgen (Charophyceae oder Charales), die ganz am Schluss dieses Kapitels auftreten, sind eine weltweit verbreitete, phylogenetisch urtümliche Organismengruppe von Wasser„pflanzen“. Armleuchteralgen werden zwar manchmal zu den Grünalgen gezählt, haben mit diesen aber nur die Assimilationspigmente und Reservestoffe gemein. Ihr Habitus ähnelt eher höheren Blütenpflanzen (vor allem dem Hornblatt, Ceratophyllum). Mit ihrem Aufbau und ihren Fortpflanzungsorganen stehen Armleuchteralgen im System der heutigen Lebewesen als eine isolierte Gruppe. Phylogenetisch betrachtet gelten sie als Schwestertaxon der Pflanzen. Der wissenschaftliche Name wurde vom lateinischen chara (= eine bestimmte Knollenfrucht von bitterem Geschmack) abgeleitet. Diesen hat Carl von Linné im Jahr 1763 geprägt. Ihren deutschen Namen verdanken sie der Anordnung der Quirläste und der darauf sitzenden Gametangien; diese erinnert an einen vielarmigen Kerzenleuchter (aus Wikipedia).