Stadt in Not - Page 10

Bild von Magnus Gosdek
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so jung an Jahren – beseelte die Vorstellung, ihrem Ruf zu folgen.
Er musste durch einige Straßen und Gassen laufen, die sich jedoch nicht wesentlich von der unterschieden, in der das Haus der Bracks stand. Dann aber öffnete sich vor ihm ein Platz, und kaum verließ der junge Mann den Schutz der Häuserfronten, erwischte ihn eine Windböe, dass er sich einen Augenblick dagegenstemmen musste.
Auf der Weite vor ihm wurden keine Waren angeboten. Hier waren keine Stände zu sehen, wie Niels sie auf dem Marktplatz kennengelernt hatte. Stattdessen reihten sich hölzerne Unterstände dicht aneinander, dass jeweils nur ein Fuhrwerk hindurch gelangen konnte. Unter den festen Dächern aber lagerten Berge von Pelzen und edlen Stoffen. Daneben stapelten sich Tonnen, auf denen Zeichen geschrieben standen. Niels konnte sie nicht entziffern, allerdings war er sicher, dass es sich um Gewürze handelte. Unvermittelt erkannte Niels, dass er die Schatzkammer Vinetas vor sich haben musste. Von hier aus wurde die Ware tief ins Land hinein gebracht und mit jeder Fuhre mehrte sich der Ruhm der Stadt.
Ganz sicher wurde dieser Reichtum nicht unbewacht gelassen. Der Regen aber hatte zugenommen und so mochten die Aufpasser sich irgendeinen Unterschlupf gesucht haben. Niels jedenfalls sah niemand, doch kümmerte es ihn nicht weiter. Er war nicht gekommen, um ein Schwätzchen zu halten. Sein Ziel lag hinter den Unterständen. Dort begann die See.
Niels roch bereits die grabesnasse Kälte, welche von Norden über das Wasser kroch, welche ihm noch schlimmer als der Regen erschien. Er rannte durch die Reihen von Unterständen. Mit jedem Schritt glaubte er, die Stadt hinter sich zu lassen. Die Innung verlor an Bedeutung, das Haus seines Oheims, die Pelze und selbst das Bild Johannes Bracks verschwamm für den Augenblick zu einer unscharfen Erinnerung. Niels war mit seiner Sehnsucht allein.
Endlich hatte er die Lagerstände hinter sich gelassen, und unvermittelt bemerkte der junge Mann ein Dutzend Schiffe direkt vor sich. Es waren Handelskähne, die am Kai vertäut worden waren und darauf warteten, beladen zu werden.
Jedes der Schiffe war größer als das Haus des Oheims und schwankte auf den Ausläufern der Wellen, die sich am Kai brachen. Den gesamten Hafen umgab eine Brandungsmauer und nur eine kleine Lücke wies die Ausfahrt auf das offene Meer. Hier nun tobte die Gischt in ungezügelter Kraft. Wenn es in Vineta auch lediglich regnete, so mochte es weiter draußen, hinter dem Horizont, ein Sturm sein, der sich mit den Wellen im wilden Tanz vereinte. Wer sich gegenwärtig dort draußen befand, war rettungslos verloren
Trotzdem faszinierte Niels der Anblick. Er konnte die Welt riechen, auch wenn sie ihn derzeit frösteln ließ. Die Sehnsucht überwältigte ihn. Er musste diesen Ort verlassen und sich ins Unbekannte wagen. Der Drang war kaum länger zu ertragen. Was bedeutete dagegen ein kleines Handelskontor; die Aussicht, jeden Tag dorthin zu gehen, und sich über den Verkauf von Pelzen zu unterhalten? Wie konnte er des Abends nach Hause gehen und sich über unendliche Zahlenkolonnen in den Büchern setzen, um spät in der Nacht erschöpft das Licht zu löschen? Dies war kein Leben, wenn die ungezähmte Weite lockte. Nicht für ihn! Noch heute musste er es dem Vater sagen und Niels stellte sich schief in den Wind.
„Nichts auf der Welt kommt diesem Anblick gleich. Finden sie nicht auch?“ fragte da eine Stimme neben ihm.
Niels wandte sich erschrocken um. Bislang hatte er sich alleine an diesem Ort gewähnt. Jetzt freilich stand ein Mann neben ihm. Er mochte ein Matrose sein und sah nun ebenfalls über den Rand des Hafens hinaus. Er war nur ein paar Jahre älter als Niels. Sein Gesicht aber war mit tiefer Bronze überzogen und die ersten Falten gruben sich in seine Wangen. Dieser Mann hatte bereits alles erlebt, wovon Niels noch träumte.
„Es ist unaussprechlich“, bestätigte er.
„Es ist die See. Eine unbändige Geliebte, die man niemals wieder vergessen kann“, bemerkte der Matrose. „Mag es noch so schön in den Städten sein, es zieht mich immer von neuem hinaus.“
„Von woher kommt ihr?“ fragte Niels.
„Wir brachten Ware aus Bordeaux, morgen laufen wir nach Jütland aus. Wir bringen Seidenstoffe in das Land der Dänen.“
„Wie wunderbar das klingt“, erklärte Niels sehnsüchtig.
„Ich freue mich darauf, Vineta endlich entfliehen zu können. In dieser Stadt ist es mir nicht geheuer“, sagte der Matrose, kniff die Augen zusammen und sah hinaus bis an den Horizont des Meeres.
„Was meint ihr damit?“ fragte Niels.
„Seltsame Dinge geschehen hier“, erklärte der Matrose und senkte seine Stimme.
„Ihr meint die Luftspiegelung? Von der habe ich bereits gehört.“
„Sie ist es nicht allein, schaurige Gegebenheiten sind es, die mich zur Eile drängen.“
„So erzählt mir davon“, forderte Niels ihn auf. Der Matrose schien darauf bloß gewartet zu haben. Ohne Umschweife begann er mit seiner Geschichte.
„Drei Wochen ist es her und wieder war es um die Mittagszeit. Die See lag ruhig wie an dem Tage, als wir die Luftspiegelung sahen. Im Hafen ankerten neben unserem Schiff nur eine Handvoll anderer Kähne, dass die Ausfahrt so offen wie der Orient schien. Wir waren gerade damit beschäftigt, unser Schiff für eine Fahrt zu beladen, da kräuselten sich die Wellen und urplötzlich erhob sich die Gestalt aus dem Wasser wie ein Dämon aus dem Grab. Es war die Wasserfrau, die sich vor dem Hafen der Stadt erhob. Noch niemals zuvor hatte ich sie gesehen, doch gab es daran keine Zweifel. Dreißig Meter oder mehr hoch wuchs sie aus den Wellen. Wie der sagenumwobene Koloss von Rhodos thronte sie vor der Hafenausfahrt. Die Gischt umspülte ihre Waden; die Nässe troff von ihren langen Haaren. Ihr Gesicht und die Augen waren so grün, als wäre sie im dichten Tang geboren. Einige von uns rannten in die Stadt, um davon zu berichten. Fast alle Leute Vinetas eilten hierher, um die Wasserfrau zu sehen.
Die Fluten tropften wie Speichel aus ihrem Mund. Ganz still stand sie, bis sich ihre Gestalt gänzlich aus dem Wasser erhoben hatte und sie mit nackten Füßen auf den Wellen stand, wie Jesus, der über das Wasser gegangen war.
Sie sprach kein Wort und auch alle Bewohner, die sich im Hafen versammelt hatten, wagten nicht zu reden. Wir warteten, was nun geschehen würde. Ihre

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Kommentare

08. Okt 2016

Dieser Text ist stark - und munter:
Er schwimmt oben! (Geht nicht unter ...)

LG Axel

08. Okt 2016

ganz anders wie die ganze Stadt,
sie hatte mein Geschreibsel satt.
LG Magnus

27. Mär 2017

Eine gar spannende Geschicht',
ich konnte fast sie lassen nicht.

Eine wirklich tolle Erzählung über längst vergangene Zeiten, die durch die Charaktere der Geschichte sehr lebendigen Bezug hin zum Heute bekommt..

LG Ekki

27. Mär 2017

Vielen Dank, Ekki, schön das sie Dir gefällt und sie lebendig geworden ist. Ich wollte lange schon eine Vineta Geschichte schreiben. LG Magnus

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