Stadt in Not - Page 13

Bild von Magnus Gosdek
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Gesicht. Mühsam kämpfte er sich die angrenzende Treppe zur Innung hoch, doch erreichte er sie bald und riss die Tür auf.
„Melchior Thesis, ich bin's, der den Ritt nach Loddin wagen will!“ rief er noch am Eingang in den Saal.
Die Männer des Rates wandten sich nach ihm um und Gemurmel hob an. Melchior Thesis hob seine Hand und gebot den Männern schweigen, woraufhin er Niels zu sich winkte.
„So tritt herbei. Wenn ich es recht sehe, so bist du Niels, der Sohn von Johannes Brack.“
„Es stimmt. Ich bin Niels Brack und erbitte euer Pferd“, bestätigte Niels, kaum dass er zwei Schritte auf die Gruppe zutrat.
„Es sei euch wohl gewährt“, entgegnete Melchior Thesis. „Glaubt ihr, bei diesem Wetter Loddin zu erreichen?“
„Wenn ich es nicht wage, so werden wir keine Hilfe erhalten“, antwortete Niels. „Und fliegen will ich diesen Weg. So verzeiht mir, dass ich eure Rede nur kurz beantworte. Sobald ich zurückgekehrt bin, will ich euch über alles Auskunft geben.“
Melchior Thesis mochte die Entschlossenheit des Jünglings spüren. Er wandte sich kurz zu den Anwesenden um, die ihm einstimmig zunickten.
„Eilt hinüber zu dem Stadttor. Dort befindet sich mein Stall. Sagt meinem Knecht, dass ich euch schicke und er euch Avernus geben mag. Ich werde es ihm mit Gold entlohnen“, sagte der Alte daraufhin.
„Dies will ich ihm ausrichten“, entgegnete Niels. „In zwei Tagen bin ich zurück und so Gott es will, mit genügend Männern, dass die Schweden zurück nach Gothland getrieben werden.
Niels Brack riss die Tür wieder auf und stemmte sich in den Regen hinein. Es kam ihm wie eine Unendlichkeit vor, bis er sich zum Stadttor durchgekämpft und den Stall gefunden hatte. Der Regen hatte sich in einen Sturm verwandelt, der über Vineta hinwegfegte, dass alle Einwohner sich in ihre Häuser zurückgezogen hatten. Der Knecht aber saß auf einem Schemel im Stall und sang eine alte Weise, vielleicht um die Pferde zu beruhigen.
„Melchior Thesis sendet mich“, keuchte Niels, der mühsam hereingestürzt kam, „dass ihr mir Avernus geben möget.“
Der Knecht hielt in seinem Gesang inne, wandte dem Fremden den Kopf zu und kniff die Augen zusammen.
„Wer sagt mir, dass es wirklich stimmt? Aus welchem Grunde sollte mein Herr jemanden wie euch sein bestes Pferd überlassen?“
Niels war zu erschöpft, um geduldig zu sein.
„Die Schweden kommen und ich reite nach Loddin, um Hilfe zu holen. So gebt mir das Pferd und Melchior Thesis wird es euch mit Gold entlohnen.“
Darüber schien der Knecht nachdenken zu müssen.
„Entscheidet euch, schnell! Die Zeit ist nicht zu verschwenden, wenn es gelingen soll“, sagte Niels ungeduldig und machte einen Schritt auf den Knecht zu.
„Bei diesem Wetter würde niemand wohl ein Pferd stehlen“, entgegnete der andere schließlich. „Und das Gold meines Herren kann ich gar wohl gebrauchen, will ich doch das herrlichste Mädchen Vinetas freien. So nehmt den Braunen dort. Ich wünsche euch Glück, dass es euch gelingen mag.“
In dieser Rede wies der Knecht auf ein Pferd in der hinteren Ecke des Raumes. Niels rannte hinüber und zerrte das Seil vom Balken. Der Sturm nahm zu. Wenn er diesem Wüten nicht entkam, würde das Unwetter ihn festhalten und er müsste warten, bis es abgezogen war. Es mochte den ganzen Tag dauern, womit die Hilfe ganz sicher nicht mehr rechtzeitig zu erreichen war. So entschied Niels, dass ihm keine Zeit mehr blieb, einen Sattel aufzulegen, er schwang sich auf den Rücken des Pferdes und befahl:
„Öffnet die Tür!“
Der Knecht war bereits so weit gegangen, dass er nicht mehr zögerte. Er stemmte dich gegen das Türblatt und drückte es mit aller Kraft gegen den Wind auf. Einen Augenblick später jagte Niels hinaus.
Der Regen traf ihn wie Peitschenhiebe. Das Pferd wieherte erschrocken und stellte sich auf die Hinterbeine. Niels aber zwang es wieder in den Galopp. Das Stadttor stand geöffnet, so wie die Bracks es bei ihrer Ankunft vorgefunden hatten. Einzig der Wächter fehlte. Auch er hatte sich ob dieses Wetters einen sicheren Unterschlupf gesucht.
Den Wind im Rücken, preschten Reiter und Ross ungehindert aus der Stadt heraus und den Weg zu der Anhöhe hinauf. Schon jetzt brannten Niels die Lungen und der Weg nach Loddin war noch weit. Avernus warf den Kopf zur Seite, dass Niels ihn fest in den Griff nehmen musste und weiter die Hügel hinaufstürmte. Mit jedem Meter war es ihm, als würde der Sturm nachlassen und das Pferd schneller galoppieren.
Und auch der Regen verlor seine Kraft, dass Niels, der sich bislang, weit nach vorn gebeugt, an den Hals des Pferdes geklammert hatte, aufrichten konnte. Das Unwetter verlor an Kraft. Es mochte sich auf der See ausgetobt haben und seine letzten Ausläufer Vineta erreichen. Vielleicht hielt es die Schweden auf, dass der Bote ein wenig Zeit gewann. Doch bereits jetzt verspürte Niels Müdigkeit. Der Kampf gegen den Sturm in den Straßen der Stadt und sein Ritt hatten ihm fast all seine Kraft gekostet. Als er die Anhöhe erreichte, tröpfelte der Regen bloß noch und der Wind ließ gänzlich nach.
Niels hielt das Pferd an. Auch Avernus pumpte in der Brust, dass Niels ihm eine Pause gönnen musste. Der Reiter richtete sich auf dem Rücken des Pferdes auf und schnaufte tief durch. Dann wandte er sich um.
Von hier aus sah er Vineta in tiefer Entfernung unter sich liegen. Er erkannte den Marktplatz und glaubte sogar, das Handelshaus der Bracks ausmachen zu können. Dahinter lag der Hafen mit seinen Schiffen, und danach gab es nur noch die See. Auf ihr tobte der Sturm, die Wellen stiegen an und vereinten sich, dass all ihre Gewalt die Stadt so winzig erschienen ließ. Blitze schossen aus dem Himmel, als ob Gott selbst das wilde Spiel anzutreiben versuchte. Der Donner krachte im Gebälk des Firmamentes und augenblicklich wühlte sich das Wasser empor.
Ein grausiger Anblick, der sich dem Reiter bot, dass er vom Rücken des Pferdes heruntersprang und zu dem Rand der Anhöhe lief. Sogleich verdichtete sich der Regen wieder.
Mochte dies ein Unwetter sein, von dem er gehört hatte, dass es an der See immer wieder vorkam? Solch eine Gewalt hatte er sich nicht vorgestellt, dass es ihm bang um den Vater werden mochte. Vielleicht war er hinauf in den Raum der Innung geflüchtet. So hoffte der Sohn. Der Sturm erzürnte sich an seinem eigenen Toben. Der Regen fiel so dicht, dass ein milchiger Schleier die Stadt überzog und den Blick des Boten vernebelte.
Die Schiffe im Hafen schwankten bedenklich unter den Wogen des Wassers und drohten fast zu kentern. Doch noch hielten sie sich. Vinetas Schiffe waren stark und gut.
Dann, plötzlich, wurde es still. Der Regen hielt inne und die See schien sich zu beruhigen. Ein Atemholen in der Unendlichkeit der Zeit. Da krachte es wieder hoch oben im Himmel. Augenblicklich prasselte der Regen herab, als wollte Gott eine neue Sintflut auf die Erde herabschicken. Die See aber zog den Atem tief ein, und als sie ihn wieder ausstieß, türmten sich die Wellen so hoch, dass sie bis an die Himmelsleiter reichen mochten. Der Sturm stieß die nasse Wand an, dass sie ins Rollen geriet. Erst langsam, dass die Masse sich der Bewegung gewöhnte. Dann schneller und schneller, bis es zu einer wilden Hatz geworden war. Die Fluten stoben über die Brandungsmauer und dem Hafen. Das Holz der Schiffe splitterte und wurde mitgetragen, hinein in die Stadt. Das Wasser jagte durch die Straßen, die Wellen rollten über die Häuser in einem winzigen Schlag, dass nichts, was sich in Vineta aufhielt, dem Zorn entkommen mochte. Ein einziger Augenblick genügte, dass die Wellen an der Anhöhe anschlugen und die Brandung ihren gierigen Rachen öffnete. Kaum zwanzig Fuss unter den Füßen des Reiters schlugen sie zusammen, dass Niels Brack erschrocken zurück sprang.
„Vater“, schrie er unvermittelt. Seine Worte verloren sich in dem Grollen des Sturmes.
Fast wollte er sich in die tobende See stürzen, seine Füße aber sackten zusammen und er fiel auf die Knie. Noch immer stürmte die See, doch wich sie keinen Schritt zurück. Die Stadt lag unter dem Wasser verborgen. Niels starrte in die Fluten, doch sah er nichts mehr von dem Glanz, der ihn gestern noch empfangen hatte.
Es mochte eine Stunde vergangen sein, bis der Himmel sich aufhellte. Der Sturm ließ nach, und bald schon war von ihm nichts mehr zu spüren. Die Wolken zogen auseinander und die Sonne trat hervor. Das Meer beruhigte sich, die Wellen trieben gemächlich dahin. Doch nichts schien sie zu bewegen, die Stadt aus ihrem feuchten Griff zu befreien.
Niels Brack kauerte auf der Anhöhe und starrte hinab in die Fluten. Langsam stiegen Gegenstände an die Oberfläche. Einige Schalen, die aus Ton gefertigt worden waren und nicht die Schwere des Metalls besaßen, um am Meeresgrunde zu verweilen. Und auch Pelze trieben wie Tagesdecken über das Meer. Doch nichts, was daran erinnern konnte, welche eine stolze Stadt untergegangen war. Der Oheim hatte den Weg ins Himmelsreich schon angetreten. Sein Bruder aber schwamm in der Tiefe, dass Niels ihn niemals wieder in die Augen blicken konnte.
Verzweiflung umfing den jungen Mann, der er nun geworden war. Jetzt war er allein auf der Welt. Das Gold hatte ihm die Familie geraubt, welche nicht die Prophezeiung der Wasserfrau hatte glauben wollen. Die Gier war stärker als die Angst.
Niels Brack saß regungslos auf der Anhöhe und blickte hinab in die Fluten, die nun die Herrscher in der Wunderstadt Vineta geworden waren. Als es dunkel wurde, schien es ihm aber, als höre er aus der Tiefe heraus den klagenden Klang der Kirchturmglocke.

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Kommentare

08. Okt 2016

Dieser Text ist stark - und munter:
Er schwimmt oben! (Geht nicht unter ...)

LG Axel

08. Okt 2016

ganz anders wie die ganze Stadt,
sie hatte mein Geschreibsel satt.
LG Magnus

27. Mär 2017

Eine gar spannende Geschicht',
ich konnte fast sie lassen nicht.

Eine wirklich tolle Erzählung über längst vergangene Zeiten, die durch die Charaktere der Geschichte sehr lebendigen Bezug hin zum Heute bekommt..

LG Ekki

27. Mär 2017

Vielen Dank, Ekki, schön das sie Dir gefällt und sie lebendig geworden ist. Ich wollte lange schon eine Vineta Geschichte schreiben. LG Magnus

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