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Gott oder Michelangelo an den Himmel malen konnte, darin das sich färbende Laub, und in diesem goldenen Oktober wurde mein Vater immer schwächer und dämmerte seinem Tod entgegen.
In seiner Patientenverfügung hatte er bekundet, dass er auf künstliche, lebensverlängernde Maßnahmen verzichte. Das bedeutete, dass er auch keine Infusion von Flüssigkeit haben wollte. Die Folge dieser Entscheidung war, dass er langsam verdurstete.
Wenn ein Mensch verdurstet, dann bekommt er Halluzinationen. Das Phänomen ist meiner Generation aus Karl-May-Büchern bekannt. Old Shatterhand, alias Kara Ben Nemsi in der arabischen Wüste hat es sicher irgendwo beschrieben. Aber diese Halluzinationen in echt zu erleben, ist irritierend. Man könnte lachen darüber, aber das Lachen blieb mir im Halse stecken, nicht nur weil ich mich fragte, ob es richtig sei, auf eine künstliche Flüssigkeitszufuhr zu verzichten, sondern auch weil die Situationen so surreal waren. Von seinem Sterbebett aus konnte mein Vater durch das Fenster den Himmel sehen, eine Hauswand und ein paar Bäume. Ich saß neben ihm und hielt seine Hand. Plötzlich meinte er ganz unvermittelt, ob ich diese Frau gesehen habe, die habe ja unglaublich tolle, lange Beine!
Ja sie schmunzeln. Natürlich, das würde ich an Ihrer Stelle auch tun, es ist so menschlich. Auch die Sexualität scheint uns bis zur letzten Stunde zu begleiten. Erstaunlich.
Natürlich stimmte ich meinem Vater zu und bestätigte ihm, dass diese nicht vorhandene Frau wirklich tolle, lange Beine habe. Meine Zustimmung geschah nicht aus Höflichkeit oder Respekt, nicht weil ich ein Jasager bin, sondern weil ich weiß, dass die Phantasien eines Menschen in dem Moment seine Realität sind. Widerspruch bedeutet, ihn nicht ernst nehmen. Am nächsten Tag steigerte sich seine phantastische Wirklichkeit. Er war sehr unruhig, wälzte sich auf seinem Bett hin und her, versuchte sich aufzurichten und suchte mit seinen Händen nach etwas. Auf meine Frage, was er denn suche, antwortete er, das da ein Stück Fleisch ins Bett gefallen sei, dass müsse raus, das mache schließlich alles dreckig. Ich erhob mich, beugte mich über ihn, wühlte ein wenig im Bett herum und meinte zu ihm, dass ich das Stück Fleisch gefunden habe, tat so als würde ich es in ein Tempotaschentuch wickeln und warf es in den Papierkorb. Danach wurde er wieder ruhiger. Ich begann zu zweifeln, ob dieser Flüssigkeitsentzug richtig sei, aber ich sprach mit niemanden darüber. Merkwürdig! Das hätte ich machen können. Die Pfleger, Ärzte, Hilfskräfte waren alle freundlich, differenziert, nahmen sich Zeit für Gespräche, weit entfernt von den gruseligen Berichten über Alters- und Pflegeheime.
Aber der liebe Gott hatte auch so ein Einsehen. Irgendjemand entschied, dass eine Infusion gelegt wurde und mein Vater erwachte wie ein Phönix aus der Asche zu neuem Leben. Von Tag zu Tag schien es ihm besser zu gehen und das war gut, denn am nächsten Wochenende hatten sich seine Brüder zu Besuch angemeldet. Drei oder vier seiner Nichten und Neffen kamen ebenfalls, es war ein großer Auftrieb. Sie alle wollten sich verabschieden, und ich glaube, dass mein Vater es – ja wie soll ich sagen – ‚genießen‘ ist das falsche Wort, aber es entsprach seiner Vorstellung eines würdigen Sterbens. Abschied nehmen, vielleicht jedem noch etwas mitgeben, geprägt von dem Wunsch, in Erinnerung zu bleiben, wenn Sie so wollen, ein letztes Mal Hof halten, Audienzen geben, Respekt entgegennehmen. Ob es am Sterbebett Ludwig des XIV ebenso zuging?
An jenem Tag begrüßte ich meine Onkel, Cousins und Cousinen ließ, sie dann aber mit meinem Vater allein. Die Gespräche waren sicher nüchtern, was soll man auch groß sagen? Etwa es tut mir leid? oder Was können wir noch für Dich tun?
Am Nachmittag jenes langen Tages waren alle wieder abgefahren. Ich war allein mit ihm. Er war wach und offensichtlich erregt und murmelte einen Satz, den ich nicht verstand. Als er ihn wiederholte, war ich überrascht, gerührt, und es war mir sofort klar, was er damit wollte. Sofort telefonierte ich mit meiner Schwester und berichtete ihr, dass unser Vater noch ein Glas Sekt mit uns trinken wolle. Das habe er schon vor ein paar Tagen zu ihr gesagt, entgegnete sie, und sie habe es für einen Witz gehalten, Aber natürlich würde sie schnell alles organisieren. Nur gut eine halbe Stunde später saßen wir zusammen in seinem Zimmer. Ich habe ein Foto gemacht, hier sehen Sie. Da sitzt er in seinem alten gemütlichen Lehnsessel, eine dunkelblaue Decke über dem Schoß, ein hellblaues, kurzärmeliges Hemd an, seine große, Alte-Leute-Brille auf der Nase, der Haarkranz etwas zerzauselt, ein Glas Sekt in der Hand und schaut direkt in die Kamera. Er lächelt nicht. Vielleicht war er zu erschöpft oder man kann einfach nicht mehr lächeln, wenn man weiß, dass man bald sterben wird. Die Augen nicht klar, sondern trüb, nach innen gerichtet.
Meine Schwester, meine Mutter, meine Nichten und ich, die engere Familie saß um ihn herum, jeder bekam ein Glas Sekt in die Hand und wir stießen an und plauderten. Ja wir plauderten, als sei nichts, als sei dies ein ganz normaler Sonntagnachmittag im Haus meines Vaters. Viel gesagt hat er nicht. Gelegentlich dämmerte er weg, aber das Glas Sekt hielt er tapfer in der Hand und trank es sogar aus. Was allerdings noch erstaunlicher war, war, dass er den Sekt bei sich behielt. Er konnte sonst fast nichts mehr zu sich nehmen, aber dieses Glas Sekt hat er bis zum letzten Tropfen getrunken. Vielleicht ist Bild etwas weit hergeholt, aber in gewisser Weise war dieses Glas Sekt sein Schierlingsbecher, sein Todestrank. Diese Abschiedsfeier hat mein Vater gekonnt inszeniert, und wir alle spielten mit. Als mich einen Moment die Trauer übermannte, wollte ich keinesfalls diese scheinbar leicht daher plaudernde Runde mit meinem Geheule aus dem Gleichgewicht bringen, also trat ich auf den kleinen Balkon und ließ dort den Tränen freien Lauf.
Wir alle haben in diesem Akt des Dramas unsere Rollen perfekt gespielt, und ich meine das voller Respekt, es war der letzte Dienst an meinem Vater.
Für ein paar Tage musste ich anschließend zurück nach Berlin, aber die Unruhe hielt mich nicht lange dort. Wenige Tage später kehrte ich zurück. Nach meiner Ankunft ging mein erster Gang zu ihm und ich war verblüfft. So gut gelaunt hatte ich ihn in der ganzen Zeit nicht gesehen. Er begrüßte mich – nahezu fröhlich – mit den Worten „Guten Morgen Peterchen, wie geht es Dir?“ und das erste Mal, seit ich mich erinnern kann, begrüßte ich ihn mit einem Kuss auf den Mund.
Dies war der letzte Satz, den mein Vater sagte, dies war die letzte Berührung, die er bei Bewusstsein erlebte. Vielleicht bilden wir uns solche Dinge einfach nur ein, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass mein Vater auf mich gewartet hatte, er wollte mich noch einmal sehen, bevor er starb. Warum ich nicht weiter mit ihm sprach? Nun, vor lauter Verblüffung ob seines guten Zustandes suchte ich sofort nach einem Pfleger, um mir das Phänomen erklären zu lassen und als ich wieder in das Zimmer kam, war er nicht mehr bei Bewusstsein.
Es dauerte noch drei Tage, in denen wir recht optimistisch waren, darüber sprachen, dass wir unseren Vatter – wie man in seiner Heimat sagt – auch an Weihnachten noch erleben würden, bevor mich meine Schwester am frühen Morgen des 11.10.2012 weckte und dreimal denselben Satz wiederholen musste, bevor ich ihn verstand. Sie drückte in diesem einen, klarsichtigen Satz aus, dass es nicht der Tod war, der meinen Vater geholt hatte, sondern mein Vater hatte sich entschieden, zu ihm zu gehen.
„Unser Vater hat sich vom Acker gemacht.“
(c) Peter K. 2018