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Straße, erneut ohne Ziel und Hoffnung, erwerbs- und mittellos. Es ist wirklich unfassbar schwer, immer und immer wieder, erneut von null beginnend, den Anfang zu wagen, den harten Neubeginn. Ihm kam es so vor, als sei, seit der Entscheidung, dieser wichtigen Beichte, sein Leben in geordneten Bahnen verlaufen. Er hatte seine Chance genutzt. Er ist fleißig gewesen, aufmerksam, hatte hinzu gelernt, die Aufgabe zur vollsten Zufriedenheit des Bühnenmeisters und der Intendanz gemeistert, und in all den jetzt doch immerhin drei Jahren am Theater so viel Anerkennung gewonnen, dass er auch Untergebene hatte, die er gut zu behandeln wusste. Ja, man berief ihn weiterhin auch gern in andere Brigaden, in denen wichtige Kräfte ausgefallen waren. So konnte Karl sehr bald einen großen Einblick in das ‘große Ganze’ gewinnen, die „gewaltige Maschinerie dahinter“, wie sich der Bühnenmeister so gerne ausdrückte.
Er kannte nun fast alle Abteilungen, außer der Schneiderei, der Kostümbildner- und der Küchen-Brigade. Er hatte im Fundus gearbeitet und gestaunt. Für jeden Bereich ein eigenes Kleid, eine Robe, ein Anzug, ein Gewand oder ein Wams. Jede Art von Hut gab es dort, auch exotische Gewänder und reich verzierte Kleider für Prinzen, Prinzessinnen und Königinnen. Nicht selten hatte er das eine oder andere Gewand heimlich anprobiert. Er stand als Mohr von Venedig vor nahezu blinden Spiegeln und er gefiel sich als Kaufmann Jermolaj Alexejewitsch Lopachin aus dem Kirschgarten von Tschechow. Die meisten Gewänder waren mit kleinen Schildchen ausgestattet, so konnte man leicht erkennen, für welches Stück welches Gewand gedacht war. Er hatte seinen Spaß darin gefunden, so manches Schild einem anderen Gewand quasi zuzuteilen. Dies würde für erhebliche Verwirrung sorgen, wenn der Kaufmann von Venedig das Gewand mit dem Dorfrichter Adam aus Der zerbrochene Krug tauschte, Shylock gegen den Richter, beide völlig anachronistisch bekleidet. Es würde sicher eine Zeit benötigen, den Umstand zu bemerken, dass hier „etwas faul war im Staate Dänemark“, um Shakespeare zu bemühen, den Karl Roßmann mit wachsender und nie zuvor gekannter Aufmerksamkeit las. Verschlang. Aus der Heimat ließ er sich die Reclam-Hefte schicken, für nur 2 Silbergroschen. Erst den Faust, hernach Wilhelm Tell und schließlich alles von W. Shakespeare. Der Leipziger Verleger Anton Philipp Reclam hatte das Potenzial sofort erkannt, eine wohlfeile Unterhaltungsbibliothek für die gebildete Lesewelt zu erschaffen, Populäres billig unters Volk zu bringen. Mit nur 21 Jahren hatte der Buchhändler-Sohn seine eigene Druckerei gegründet, Goethes Faust, Lessings Nathan der Weise und schließlich Shakespeares Romeo und Julia, so begann Reclams Erfolgsgeschichte im Jahr 1867; am 10. November gab es den 1. Band überhaupt. Bis Ende 1868 waren es schon 110 Nummern, nach den ersten 10 Jahren sogar knappe 1000. Karl imponierte Reclams Werdegang sehr, er ließ sich aus der Heimat vom Freunde, der ihm leider nur 1 x pro Quartal schrieb, alles genau darüber berichten. Ihm schien es so, als sei ja auch er berufen, ähnliches zu leisten, nur eben auf anderem Gebiete. Er wollte die gedruckten Sätze sprechen, ja er wollte die Charaktere mit Leben erfüllen, die, platt gedrückt, zwischen zwei Deckeln, auf all die Leser warteten. Er wollte den Romeo spielen, unbedingt. Und er wurde in diesem Fall auch nicht enttäuscht. Karl hatte sich ein Portefeuille zugelegt, eine Bewerber- Mappe, mit allerlei Fotos aus der Zeit des Studiums an der Akademie. Es kam jetzt die Zeit, diese Mappe einigen wichtigen „Theater-Leuten“ vorzulegen, damit, dies wusste Karl von Azimuth Wind, sein Name sich in das Gedächtnis der Mächtigen einbrannte. Das Konvolut hatte ihn viel Geld gekostet. Er war sehr stolz auf das seiner Meinung nach sicher großartige Ergebnis. Auch zeigte ein Bild die große Schauspielerin selbst, Madame Wind, mit ihm zusammen, Karl Roßmann, in der unbestritten sehr guten Amphitryon-Vorstellung. Es sollte dem ziemlich großen Foto nichts passieren, daher beließ er es im Portefeuille, hängte es nicht an die Wand zu seinen Schätzen, den 7 Bildern von Jakob, den beiden von Johanna, und den fünfen, die seine Eltern zeigten. Dennoch, das ihm liebste Bild blieb natürlich das Prag-Bild.
Nachdem er einen Umtrunk zum 4jährigen Dienst-Jubiläum am Theater, in seinem Kollegenkreis, hinter sich gebracht hatte, auch die Intendanz hatte ihm einen Brief hierzu geschickt, mit einem Billett für eine Uraufführung, auf den teuren Plätzen, gab es die nächste Überraschung: „Romeo und Julia“, mit ihm als Romeo, sollte nun der große Schritt in die richtige Richtung für ihn bedeuten. Die ehemalige Cléanthis war nun, plötzlich, eine „Julia“. Azimuth Blip Wind wollte oder konnte hier nicht als Julia agieren. Die große Zeit der Mimin war dahin, eine Julia konnte sie nicht mehr geben. Karl war darüber mehr als erfreut. Endlich mehr Schlagzeilen für ihn und die wahrlich entzückende Julia, die sich ebenfalls sehr gut entwickelt hatte. Auch er hielt Madame Wind mittlerweile für zu dick, um die Julia geben zu können. Ein zartes Persönchen, das war´s, was die Rolle verlangte. Und die ward sehr bald gefunden, eben diese Ex- Cléanthis. Blass, schlank und wunderschön. So hatte Karl sich auch während seiner erstmaligen Lektüre die Julia vorgestellt. Irgendwie erinnerte ihn die Akademie-Chefin sehr nachdrücklich an die Oberköchin des Hotels Occidental, aus Salzburg, die Grete Mitzelbach, einst etwa 50 Jahre alt. Brunelda, Wind und Mitzelbach, das war nun in der Phantasie des Karl Roßmann eine Gewichtsklasse: Extrem dick. Die gemütlichen Dicken aber machten ihm Freude. Wer war es noch gleich, der gesagt hatte: Lasset wohlbeleibte Männer um mich sein, mit glatten Köpfen, die des Nachts gut schlafen?
Der Cassius dort hat einen hohlen Blick.
Er denkt zuviel: Die Leute sind gefährlich.
Richtig, es war William Shakespeare. Und er ließ es den großen Julius Cäsar sagen.
Dicke Menschen wollen dir kein Leid antun, sie sind meist verträglichen Charakters.
Hatte in früheren Zeiten Karls Herz für Fanny geschlagen, zusätzlich zur stetig gleich gebliebenen Zuneigung zur Kindesmutter Johanna, erbebte es nun für die wunderbar leicht agierende, wunderschön anzusehende Julia. Den Proben war es bereits recht deutlich anzumerken: Die Chemie stimmte zwischen den beiden, denn auch die süße Ex-Cléanthis zeigte leichtes Erröten, näherten sie sich einander an während des oft intensiven Spiels um die zarte Liebe, die von den verfeindeten Eltern nicht geduldet wird. Viel wurde gemunkelt, aber letztlich war es, wie eigentlich