Der gestohlene Kuss

Bild von Gherkin
Bibliothek

Auf der sehr wilden Fete der hiesigen Mietervereinigung Drangsal im Haus internen Fetenkeller waren 21 Personen aus neun Wohneinheiten anwesend. Man hatte sich gegen das „Gangster-Pack“ des Vermieter-Konsortiums zur Wehr setzen müssen. Daraus waren Freundschaften fürs ganze Leben - und sogar 2 Liebesbeziehungen entstanden. Seit es „Drangsal“ gab, fanden die wilden Feten im Partykeller statt.

Politisch korrekt war das nicht gerade, dieses Treiben. Prof. Wieler und, vor allem, ein Herr Lauterbach hätten sich gewaltig aufgeregt. So konnte Corona nicht besiegt werden. So nicht! Gut alle 6 Wochen fand eine Fete statt in diesem Haus. Und nicht ein einziges Mal hielt man sich dabei an die AHA plus L-Regel. Nicht einmal. Wobei ganz besonders die erforderliche L-Regel im Partykeller völlig außer acht gelassen wurde. Und kein Feierbiest trug je eine Maske.

Nun feierte man einen Etappensieg im Partykeller der Wohnanlage mit insgesamt 12 Wohneinheiten. Wieder einmal hatte man die Stirn gezeigt. „Diese Vermieterwerwolf-Mafia darf nicht obsiegen“, schrie Uwe trunken laut, der Sprecher der Mietervereinigung Drangsal. Genau da stahl Torti der Barbarella einen Kuss. Barbarella hieß eigentlich, gut bürgerlich, Barbara. Doch durch die verblüffende Ähnlichkeit mit der Schauspielerin Jane Fonda nannten sie alle, schon seit 1968, Barbarella. Jetzt war sie schon fast 70, aber immer noch eine attraktive Frau. Der „Überkreuz-Fremde“ aus dem vierten Stock, Torti Blocker, war solo und knapp 55 Jahre alt. Und der hatte sich tatsächlich erdreistet, sich an sie heranzupirschen und ihr einen fetten Schmatz aufzudrücken.

Einfach so. Mitten hinein in den Song „Ring of Fire“ von Johnny Cash. Unglaublich! Bei der Textzeile "Bound by wild desire" schlug Torti zu. Er hatte das lange und exakt geplant:

Love is a burning thing
And it makes a fiery ring
Bound by wild desire
I fell into a ring of fire

Raffiniert heranpirschen, solo tanzend, hernach blitzschnell Position beziehend, "wild desire" abwartend, Barbarella bei den Ohrwascheln packen uuuuuund KNUTSCH! Und so geschah es dann auch. Mission accomplished.

Barbara kannte Torti nur vom Sehen, man grüßte sich beiläufig. Einmal hatte er seinen Winter-Container-Dienst vergessen, da musste Barbarella ihn zurechtweisen. Sie hatte laut Monatsplan den „Hausmeister“ geben müssen. Torti versprach Besserung und gelobte, seinen Pflichten ab sofort stets nachzukommen, zum Wohle der Haus-Gemeinschaft. Barbara hatte das Verhalten als ein wenig überzogen betrachtet. Sie konnte ja nicht wissen, dass Torti ab diesem Zeitpunkt für sie zu schwärmen begann.

Und nun dieser Eklat... Ein Affront. Weder hatte Barbara mit Gesten, mit der Mimik oder über ihre Körpersprache, und noch gleich gar nicht mit Blicken zu signalisieren versucht: Hey Torti, komm und küss mich endlich! Weder war sie, seit Jahren Witwe, auf dem Parship-Trip, noch konnte sie sich überhaupt einen weiteren Mann an ihrer Seite vorstellen. Da geht der freche Kerl her und küsst mich einfach auf den Mund! Barbarella musste den Mann zur Rede stellen. Nur - der wollte rein gar nicht mit ihr über den Kuss reden!

Nicht gerade ein Tenderloin, dachte Barbara, als sie den renitenten Mann vor sich betrachtete. Und viel zu jung für mich. „Warum willst du nicht mit mir über diesen Kuss reden?“ Man duzte sich hier im Haus, das war seit Jahren üblich. „Weil ich´s einfach nicht möchte, basta!“ Auch eine Antwort, dachte Barbarella. Dir komm ich schon noch bei. Torti war eher einfach gestrickt, ein Chiaroscuro. So nannte Barbara einen schwarz-weiß malenden Mann ohne Feingefühl, der nur dunkel-hell-Töne kennt und keine Nuancen dazwischen. Ein schlichtes Gemüt. Den Begriff dafür hatte sie selbst erfunden, den Chiaroscuro. Ihr imponierten Menschen, die diesen Begriff aus der Malerei sofort richtig zu übersetzen wussten. Insofern war der Name ein Test.

Torti vermutete Unbill und Unruhe. Sein Kuss hatte Unbehagen ausgelöst, dessen war er sich nun durchaus bewusst geworden. Die Miene der tollen Barbara zeugte unverhohlen von einiger Antipathie. Er sorgte sich. Hatte er sich denn eventuell zu viel herausgenommen? Zu viel gewagt? Zu offensichtlich ist seine Attacke auf die hübsche Witwe gewesen. Nun wussten alle, dass er, Torti, sie begehrte. Darüber wollte er nicht reden. Das würde sicher eine hochnotpeinliche Befragung werden. Nein, lieber hielt er den Mund und spielte den leicht Betrunkenen.

„Lass uns exakt 3 Minuten in der Küche darüber reden. In dieser Zeit musst du die Wahrheit sagen, darfst nicht meinem Blick ausweichen und musst durchhalten, die kompletten 3 Minuten. In der Küche ist eine Eieruhr. Die stellen wir auf 3 Minuten. Nach Ablauf dieser 3 Minuten gebe ich Ruhe und spreche das Thema nie wieder an. Versprochen. Ist das ein Deal?“

Torti schlug ein. Man ging in die Küche. Dort fand man auf Anhieb die Eieruhr. Sehr flott war der Timer gestellt. „Die Zeit tickt, antworte mir ehrlich, Torti: Warum hast du mich auf den Mund geküsst?“ Torti: „Ich? Auf den Mund?“ „Ja, zum Teufel. Du hast mich geküsst. Auf den Mund. Ich fragte: Warum hast du das gemacht?“ Torti: „Aber liebe Barbarella, das streite ich ja auch gar nicht ab. Nämlich, dass es diesen besagten Kuss, hicks, gegeben hat. Wie meine kleine Nichte sagen würde: Das war für den lieben Torti eine sehr große Erfreuung. Nein, Barbarella, den Kuss gab es wirklich. Darüber müssen wir nun ganz bestimmt nicht disputieren...“

Da unterbrach ihn Barbara, die nicht glauben konnte, dass solch ein eher schlichtes Gemüt das Wort „disputieren“ kennt. „Hast du gerade disputieren gesagt, Torti?“ Er sah verblüfft aus. „Ich? Disputieren? Nein, ganz sicher nicht!“ „Doch, du hast meiner Meinung nach, ich habe es ja recht gut hören können, disputieren gesagt. So gib es schon zu. Disputieren!“

Torti: „Ich kenn nur diskutieren. Und genau das hab ich auch gesagt. Darüber muss gar nicht diskutiert werden. Den Kuss hat es wirklich gegeben. Warum also noch darüber diskutieren?“ „Du hast disputieren gesagt! Das ist ein immanenter (sie holte tief Luft) Unterschied, Torti. Das eine, diskutieren, meint damit, dass man Ansichten und Meinungen austauscht, das andere, disputieren, besagt, das man gravierende Meinungsverschiedenheiten auszutragen hat, also ein Streitgespräch führt. Wie ich finde, ist das ein gewichtiger Unterschied. Ein exorbitanter Unterschied sogar. Daher ist es hinsichtlich des Kontext´ und deines persönlichen Hintergrundes von nicht unerheblicher Bedeu...“

Da schnarrte die Eieruhr. Torti stand vom Küchenstuhl auf und meinte, verschmitzt: „Ich fand´s schön, dass wir darüber gesprochen haben, Barbarella...“

Alleine, in der Küche, brachte Barbarella die Eieruhr wieder an den angestammten Platz gleich neben der Salatschüssel zurück und seufzte. „Dieser Schuft... Und ich wette darauf, er hat disputieren gesagt. Eigentlich, wenn man´s ganz genau nimmt, ist Torti nicht einmal so unflott. Was soll´s schon, dann ist er eben 15 Jahre jünger. Na und? Aber dieser Name... Torti. Meine erste Amtshandlung wird sein: Torti kriegt einen neuen Spitznamen verpasst. Danach soll er sich den Bart abrasieren. Ab da können wir ja dann mal sehen...“ Barbarella seufzte erneut. Einfach war das Leben nun wirklich nicht. Nein, alles andere als einfach.

Interne Verweise

Kommentare

23. Dez 2020

Auch mir tut ein Disput
Mit Krause selten gut ...

LG Axel

25. Dez 2020

Da beneide ich Dich auch so gar nicht, Axel.
LG zurück, hab ein wunderschönes Fest,
auch, wenn es nur noch ein Tag ist. Gruß,

Gherkin

25. Dez 2020

Die Witzischkeit dringt durch? Sogar bis zu Dir?
Dann ist mir um meinen Humor nicht mehr bang.
Vielen Dank, liebe noé. War nur eine Etüde, so
ziemlich in 14 Minuten runtergeschrieben. Daher
eher ein Wagnis. Aber da ich selbst bei meiner
Arbeit oft schmunzeln musste, dachte ich, gib
das Baby ruhig mal frei. Du kennst das sicher:
Bei manchem Werk ist man sich einfach nicht
so ganz klar, wie das wohl beim Leser ankommt.

Dein Kommentar hat Mut gemacht. Vielen Dank.
Und ein frohes Restfest. Gruß von Gherkin

26. Dez 2020

Och, ich sehe nicht, dass DU dir über deine Witzigkeit oder deine Phantasie irgendwelche Sorgen machen müsstest.

25. Dez 2020

Nun denn lieber Gerd,

...könnt' zweifelsfrei hier diskutieren,
über das Wann, Wie und das Warum,
anstatt vielleicht zu disputieren
wenn ein gestohl'ner Kuss - wie dumm,
erregt sogleich auch manch Gemüt,
wie wohl wenn Liebe selbst erblüht!

Doch Eines weiß ich ganz gewiss -
dass Liebe sicherlich
in drei Minuten nur
nicht abzuwickeln ist.... ;-)))

Immer augenzwinkernd, mit breitem Grinsen gerne gelesen!

Mit herzlich lieben weihnachtlichen Grüße zu Dir - g'sund bleiben! Uschi

25. Dez 2020

Schön, von Dir zu hören, Uschi. Dir auch noch immer
weihnachtliche Grüße aus dem verregneten Ruhrgebiet.
Bleib herzerfrischend gesund. Vielen Dank für Dein sehr
nettes Kommentar-Poem. Hat mich sehr gefreut. Meine
Verehrung,

Gruß von Gerd

26. Dez 2020

Liebe Leser, ein Experiment über Kompromisse.
Mini-Idee, sehr flott umgesetzt, hat keine 15 Min.
gedauert. Und flott rausgehauen die Szene. Mein
Küchen-Debatten-Disput hat mich selbst extrem
stark erheitert. Kann es so etwas im WAHREN
Leben geben? Ich denke, das ist durchaus drin.

Grüße nach allen Seiten, ein frohes Rest-Fest
Euch allen, wo immer Ihr zuhause seid. Bleibt
gesund. Vielen Dank für die vielen Kommentare.

Gruß von Gherkin

26. Dez 2020

Ich danke dir für deinen tollen Text !!!
Rutsche heiter und besinnlich ins neue Jahr hinein.
Vor allem: Bleib gesund, Corona zum Schwund.
HG Olaf

26. Dez 2020

Lieber Olaf,

auch Dir die besten Grüße. Möge für Dich und
alle hier bei LiteratPro ein deutlich besseres
Jahr starten in wenigen Tagen! Bleibe gesund.
Und vielen Dank für Dein Lob. Grüße,

Gherkin