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sei urplötzlich Noahs Arche auf Rädern vorgefahren und hätte den Sommertag einkassiert. Sogar die Wipfel der alten Linden traten im Dämmerschatten nur noch schemenhaft hervor, und der Wind, der sich säuselnd im dichten Blätterwerk verfangen hatte und die ausladenden Äste gegen die Fenster schlug, peitschte die dunklen dicken Wolken voran, als wollte er sie foppen.
Die Gnädigste und der Gutsinspektor werden entzückt sein, die Pflanzen äußerst dankbar, und Oma Anita wird sämtliche amtlichen Papiere bereithalten für den Fall eines drohenden Gewitters, dachte ich, sah mir die Geheimschrift der bizarren Schatten an, die die Blätter an die Wände warfen, und lauschte eine Weile dem Duell, das sich das laute Ticken der antiken Standuhr mit dem Prasseln der dicken Tropfen gegen die Fensterscheiben lieferte. Dann stand ich auf, lief in den Hof hinaus und ließ mich bis auf die Haut nassregnen. Der warme Sommerguss verzog sich ebenso schnell, wie er gekommen war. Das Wasser versickerte fluchtartig in den grauen Puderstaub des Hofes, der mit den weißen Blütenblättern der Linden bedeckt war, die der Wind aufgewirbelt hatte.
Der Regenschauer war auf und davon, bevor sich die Sonne in den Pfützen spiegeln konnte, während das uralte Tagesgestirn die plötzlichen Sommertränen, die gemächlich von den Dächern über die alten Gemäuer und aus dem erfrischten Laub der Bäume perlten, wie grünes Kristall, ja, nahezu juwelengleich, funkeln ließ.
Die Wolken hatten sich restlos verzogen. Selbst das alte Hufeisen über dem Pferdestall blitzte und blinkte, als hätte Leni sich überwunden und es zur Feier des Tages gewienert. In den Linden, die ein wenig zerfleddert aussahen, aber nichtsdestotrotz ihren süßen Duft verströmten, tummelten sich wieder zahlreiche Bienen, und die Vögel waren längst wieder bei Stimme und zwitscherten, was das Zeug hielt. Sämtliche dunkle Wolken waren über das Dorf hinweggezogen; der Himmel zeigte sich ungetrübt wie eh und je in diesem Sommer, in seidiger Bläue nämlich. Die noch feuchten Blätter der Fliederbüsche dampften im Sonnenlicht, und unter ihnen lag ein wahres Blütenmeer. Auf den blaugrün schimmernden Mooskissen unter der Eiche perlten Myriaden von Regentropfen und in den hohen, vom Dach überschatteten Verandafenstern spiegelten sich die besonnten Linden. Sie sahen zum Träumen schön aus.
Die strahlende, unverhüllte Sonne ließ Hof Lachau in einem neuen, fast unwirklich herrlichem Glanz erstrahlen und überschwemmte das Gut mit gleißendem Licht. Die alten Fenster schimmerten rötlich in der Sonne, deren Widerschein nicht nur über den Dachpfannen schwebte, er lag auch über den vor Feuchtigkeit dampfenden Blättern hoch oben in den Baumkronen. Wie ein Märchenschloss lag das Herrenhaus plötzlich vor mir; es fehlte nur noch ein Regenbogen, und ich dachte mit Wehmut an das Ende der großen Ferien. Begierig atmete ich die sonnendurchtränkte Luft ein, die leicht und frisch war, als käme sie geradeswegs vom Meer heraufgezogen. Schon bald würde erneut drückende Schwüle über dem Hof lasten.
Die Sonne hatte die letzte Feuchtigkeit vom Hof und von den Wegen bereits fortgebrannt, als ich den engen Trampelpfad zum Kuhstall einschlug. Aus der halb geöffneten Stalltür schlug mir ein warmer Rinderdunst entgegen, der dem typische Güllegestank entwich. Reinhild und Marga, die krankgeschrieben waren und schlaftrunken von einem Bein aufs andere traten, hatten heute nicht mit auf die Weide gedurft. Sie mahlten gelangweilt mit den Kiefern im gesenkten Kopf ihr Heu, muhten leise vor sich hin und schlugen mit den Schwänzen hin und her, um die Fliegen zu vertreiben. Ganz hinten in der Ecke langweilte sich Lachaus Zuchtbulle Werner, der kürzlich auf den friedlichen Weiden randaliert hatte und deshalb zum Stallknast verdonnert worden war. Er drehte neugierig seinen Kopf herum und musterte mich verächtlich, als dächte er: Die und den Stall ausmisten! Das kann ja heiter werden! Unsere Gedanken waren gar nicht mal so verschieden. Durch die Ritzen zwischen den Dachschindeln und die halbblinden Fenster drang helles Sonneslicht in den Stall.
„Habt ihr euch für Sonntag schon etwas vorgenommen?“, fragte Kröger, während wir mit den Mistforken die dampfende, übel riechende Jauche vom Stallboden auf den Leiterwagen, der unmittelbar vor der Stalltür geparkt war, beförderten. Dabei guckte er mich ganz sonderbar an, und Reinhild und Marga glotzten zu uns herüber, als käme ihnen die Reinigungsprozedur nicht nur äußerst spanisch, sondern auch total ungewohnt vor.
„Nicht, dass ich wüsste“, gab ich im gleichgültigen Tonfall zur Antwort und dachte an die Geldübergabe, die am frühen Nachmittag stattfinden sollte.
„Nun, fuhr Kröger fort, „ich wollte mit Kora, Konny, Hannes und dir nach Travemünde fahren – wir könnten uns die Stadt ansehen und vielleicht eine Weile am Strand entlanglaufen.“
Er lächelte mich freundlich an, aber es ging nicht anders; ich musste ihm eine Abfuhr erteilen, zumindest was mich betraf.
„Ach, da fällt mir ein ... das geht leider nicht. Ich habe eine wichtige Verabredung, aber Kora, Konny und Hannes würden sich gewiss sehr über einen Ausflug freuen.“
„Du gibst mir schon wieder einen Korb?“, tat Kröger erstaunt und sah mich mit bitterer Belustigung an. Dann schmunzelte er, was mich ein wenig ärgerte. So wichtig war es ihm dann wohl doch nicht, dass ich mit von der Partie war. Reinhild und Marga scharrten plötzlich ungeduldig mit den Hufen, als wollten sie gegen meine Entscheidung protestieren.
Ich blickte vor lauter Verlegenheit angewidert auf meine Stiefel, an denen die glitschige Güllesoße emporschwappte. Das Stroh stank bestialisch nach Jauche und altem Heu, und auf meinem nackten Armen trippelten Fliegen und dicke, blauschillernde Brummer. Ich bewegte mich mit rasender Geschwindigkeit Richtung Brechanfall und mein Verständnis für Hannes nahm unerwarteterweise geradezu groteske Formen an.
Hannes' Vater zog nachdenklich ein Tabakpäckchen aus seiner Arbeitsjacke und stopfte umständlich seine Pfeife, deren Stiel aus der Brusttasche seines Hemdes herauszuragen pflegt, wenn sie nicht in Betrieb ist, was glücklicherweise meistens der Fall ist. Es herrschte eine eigentümliche Stimmung zwischen uns; ich sah mich genötigt, eine Erklärung abzugeben und stammelte: „Dieses Treffen hat wirklich eine große Bedeutung für mich; es ist sozusagen lebenswichtig für mich“, ließ ich Kröger wissen, wobei ich „lebenswichtig“ besonders stark betonte, während ich meine Blicke bewusst aus einem der sichelförmigen flaschengrünen Stallfenster, die von dem tiefen Dach überschattet wurden und durch die nur wenig Licht fiel, schweifen ließ, um mich von meiner aufwallenden Übelkeit abzulenken. Mir fielen natürlich sofort die heiligen Kühe ein, und ich sagte mir inwendig die wedische Hymne auf, die Hannes' gebildeter Vetter, der pfiffige Konny, zitiert hatte, während Hannes sich mal wieder über die armen Tiere lustig gemacht hatte: „Die Kuh ist der Himmel, die Kuh ist die Erde ... Die Kuh lässt die Menschen leben. Die Kuh – das ist alles, was ist, alles, was die Sonne betrachtet.“
„Kenn ich ihn?“, fragte Hannes' Vater. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass er sich über mich lustig machte.
„Niemand kennt ihn wirklich“, entfuhr es mir schroffer, als ich beabsichtigt hatte.
Der Gutsverwalter sah mich amüsiert an.
„Na ja“, erklärte ich trotzig. „Schon Hermann Hesse sagte in einem seiner bekanntesten Gedichte, dass kein Mensch den anderen kenne, dass jeder allein sei.“
„Seltsam, im Nebel zu wandern“, zitierte der Gnädigsten Untertan. „Ich finde allerdings, er hat bessere Gedichte geschrieben.“
„Nämlich?“, erkundigte ich mich.
„Na ja“, begann der Gutsverwalter etwas verlegen, „es gibt da ein Gedicht von Hesse mit dem Titel: ,Kennst du das auch?'“
„Dieses Werk kenne ich nicht. Er hat ja sehr viel Lyrik geschrieben. Wissen Sie es auswendig?“
Kröger nickte mit nachdenklicher, melancholischer Miene.
„Kennst du das auch, dass manchesmal
inmitten einer lauten Lust,
bei einem Fest, in einem frohen Saal,
du plötzlich schweigen und hinweggehn musst?
Dann legst du dich aufs Lager ohne Schlaf
wie einer, den ein plötzlich Herzweh traf;
Lust und Gelächter ist verstiebt wie Rauch,
Du weinst, weinst ohne Halt – Kennst du das auch?“
„Ja!“, sagte ich (automatisch) gedankenverloren. „Das ist wirklich ein sehr schönes Gedicht. Hannes hat mir gar nicht erzählt, dass Sie sich für Lyrik interessieren.“
„Hannes weiß so manches nicht“, gab Kröger lächelnd zur Antwort. „Ich wollte eigentlich Lehrer werden – für Deutsch und Englisch.“
„Das hätte ich nie gedacht“, sagte ich. „Hannes hat mir verraten, dass Sie mit Leib und Seele Gutsverwalter sind und die Landwirtschaft über alles lieben.“
„Das hat mein Hannes tatsächlich verlauten lassen?“, staunte Kröger. „Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass mein Sohn sich darüber Gedanken machen könnte.“
„Oh“, erwiderte ich. „Hannes macht sich über viele Dinge Gedanken. Sie kennen ihn nur nicht richtig.“
Kröger lächelte wieder.
„Hannes hat gar nicht so ganz Unrecht. Mein Beruf bedeutet mir zwar sehr viel, aber längst nicht alles, Katja“, sagte er mit plötzlich sehr ernst gewordener Miene. „Ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn du uns am Sonntag begleiten würdest. Ich habe das ungute Gefühl, dass du dich mit jemandem treffen willst, den du nicht wirklich kennst und außerordentlich unterschätzt.“
Seine Stimme klang eindringlich, fast beschwörend. Er sah mich an und mir ward zumute, als schösse er mir geradewegs einen glühenden Pfeil in die Augen. Außerdem war mir bei seinen Worten ein riesiger Schreck durch die Glieder gefahren. Wen zum Teufel meinte er? Doch nicht etwa Helge? Was wusste der Gutsverwalter – und vor allem: Was wusste er woher?
Kröger sah mich dermaßen eigentümlich an, als erriete er, was mir durch den Kopf ging. Eine Welle von widersprüchlichen Gefühlen stieg in mir auf. Ich senkte hastig meinen Blick (womöglich sah er mir gar ins sommergepeinigte Herz hinein, rein psychisch selbstverständlich; ich trug meine sämtlichen Blusen zwar nicht hochgeschlossen, aber mehr als zwei Knöpfe standen niemals offen) und stotterte, nachdem ich meinen hochroten Kopf hinter dem Stiernacken eines der Rindviecher verborgen hatte: „Es tut mir sehr leid, aber es geht wirklich nicht, Herr Kröger. Ich habe diese Verabredung schon vor einigen Tagen getroffen und kann sie jetzt nicht mehr absagen. Vielleicht im nächsten Jahr, zusammen mit meiner Freundin Christine. Falls Sie dann noch hier auf diesem Gut sind ...“
„Wo sollte ich denn sonst sein, Katja?“, lächelte Hannes' Vater.