Ruth - Page 10

Bild von Lou Andreas-Salomé
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ungestörtesten Beisammenseins, – und immer geht sie fort. Aber mit knapp sechzehn Jahren handelt man doch nicht aus Takt.«

»Nein, das tut sie auch nicht. Du idealisierst Ruth immer. Sie liebt uns einfach nicht genug, um sich enger an uns zu schließen. Manchmal denk ich: sie ist vielleicht herzlos.«

»Aber Mathilde! wie kannst du dem kleinen Ding etwas so Böses nachsagen! Lies mal den letzten Brief aus Belgien, wie sie sie da in der Pension loben und zurückverlangen.«

»Ja, das kennt man, mein Lieber. Sie war ein einträglicher Pensionär. Und dann sind sie dort katholisch. Wie kann man ihnen trauen? Ich bin es grade, die deswegen für Ruths Übersiedlung zu uns gewesen ist. Wir sind doch schließlich verantwortlich für sie. Dafür, daß sie in Zucht und Ordnung aufwächst. Was hat man davon, daß ihre Verwandten dort von flämischem Adel sind? Die Ansichten sind doch die Hauptsache. Und diese Leute dort kennt man nach der Richtung gar nicht.«

Der Onkel schwieg mit verdrießlichem Gesicht. Er wußte, daß für seine Frau alle Menschen außer halb der kleinen baltischen Provinzen »diese Leute« waren, – während für ihn, grade umgekehrt, die Welt erst jenseits der russischen Grenze anfing. Ihm kam nicht nur die beschränkte provinzielle Exklusivität seiner Frau lächerlich vor, sondern sogar auch ihr baltisches Heimatsgefühl. Mit seinem französischen Namen und den deutschen und slawischen Elementen in seiner Familie fühlte er sich dermaßen als Kosmopolit, daß er nie eine Gemütsbeziehung zu irgend einem Lande und Volke besessen hatte. Er schalt und klagte nur deshalb nicht über Rußland, wie die meisten seinesgleichen, weil er dies für unvornehm hielt.

»Ruth würde jetzt gewiß nicht von hier fortgehn mögen, Mama,« bemerkte die Tochter, »jetzt, wo sie so gut wie erwachsen ist. Nirgends kann man doch so gut in die Welt eingeführt werden wie hier.«

»Aber mir scheint, das will sie gar nicht,« versetzte der Onkel lächelnd, der seine hübsche Tochter sehr gern in Gesellschaften begleitete, »sie hat ja ohnehin so viel Welt und Menschen gesehn, und macht sich nichts draus. Gott sei Dank also, daß wir mit ihr nicht noch einmal dieselben Umstände haben werden, wie seit einem Jahre mit dir, Liuba.«

»Nun bist du wahrhaftig imstande und setztest dein eignes Kind für Ruth herab,« sagte seine Frau nervös, die kein Gehör für einen scherzenden Ton besaß, »laß sie doch nur in Gottes Namen nach Belgien reisen!«

»Nein!« entgegnete er ärgerlich, drehte seinen Stuhl vom Tisch ab, ergriff eine Zeitung und vergrub sich hin in. Als eine der unangenehmsten Eigenschaften an seiner Frau war ihm stets ihre unleugbare Vortrefflichkeit erschienen, wogegen es nirgends einen Appell gab, aber beinahe noch unangenehmer erschien ihm dieser gänzliche Mangel an Humor.

Die Stunde des »intimsten, ungestörtesten Beisammenseins« war gründlich verdorben.

*

Ruth freilich ahnte nicht, daß sie von ihrem leeren Platz am Tisch den unschuldigen Störenfried spielte, ja sie hatte im Augenblick vielleicht fast ganz vergessen, in welchem Lande der Erde, ob in Belgien oder Rußland oder Deutschland oder sonstwo, sie sich befand. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kopf ein wenig gesenkt, ging sie rastlos in ihrer Stube auf und ab, und dabei trug ihr Gesicht den Ausdruck angestrengtesten Nachdenkens, wie vorhin auf der Schulbank während des Unterrichts. Ihre Wangen waren heiß und lebhaft gerötet, und von Zeit zu Zeit schüttelte sie den Kopf, als könne sie mit ihren Gedanken nicht recht ins reine kommen.

Nach einer Weile blieb sie stehn, strich sich das Haar aus der Stirn und entsann sich ihres Versprechens, »wunderschön aufzuräumen«. Damit ging es außerordentlich rasch. Jedes einzelne Ding, das herumlag, wurde in die ihm zunächstgelegene Schublade befördert, und als dies gewissenhaft geschehen war, zeigte es sich, daß im Zimmer verblüffend wenig Gegenstände übrig geblieben waren, die man nach der Vorschrift der Tante »zierlich« hätte ordnen können. Es war ein ganz wohnliches kleines Zimmer, mit hübschen Möbeln, einem rotsamtenen Ecksofa und sogar einer Nippesétagère, worauf ein gläserner Mops stand. Aber es trug nicht das Gepräge seiner Besitzerin, sondern das einer gut eingerichteten Hotelstube. Weder Arbeiten noch Liebhabereien plauderten etwas über das Wesen derjenigen aus, die hier schlief und lernte und träumte. Es hatte den Anschein, als sage Ruth täglich auch zu dieser Umgebung, wie vorhin in der Schule: »Ich gehe doch bald fort.«

Als Ruth fertig war, griff sie hastig nach einem weichen englischen Wollbarett von leichter grauer Strickerei, setzte es wie eine Knabenmütze auf den Kopf und rief den Diener aus der Dienerstube neben der Küche. Dieser saß in seinem geblümten Zitzhemde, die Messer putzend, rittlings auf einer Bank und sang dazu, so daß die Messer im Takte flogen. Es war ein junger Tatar, sehr gewandt und, als Mohammedaner, musterhaft nüchtern. Beten, Singen und Schlafen waren seine liebsten Beschäftigungen. Als er Ruth rufen hörte, schlüpfte er eilig in seine dunkle Livree und öffnete ihr die Haustür.

Sie ließ sich von ihm bis zum finnländischen Bahnhof begleiten; dort entließ sie ihn.

»Jetzt kannst du zu deinen Bekannten gehn, Basil,« sagte sie zu ihm, als er mit gezogenem Hut an der Waggontür stand, »aber um neun Uhr mußt du mich hier wieder erwarten.«

Er nickte verständnisvoll mit dem kurzgeschorenen Kopf, der oben eine kreisrunde, glatt ausrasierte Stelle zeigte, sah aber dabei seine kleine Herrin etwas besorgt an. Er wollte gern zu »seinen Bekannten« gehn, aber unerhört kam es ihm vor, sie so schutzlos in die weite Welt hinausfahren zu lassen, namentlich gegen Abend, wo es so viele Betrunkene auf den Straßen gab.

»Dürfte ich nicht um die Erlaubnis bitten, mitzufahren?« fragte er und kämpfte mit dem heroischen Entschluß, freiwillig auf sein Vergnügen zu verzichten.

Ruth lachte über sein pfiffiges Tatarengesicht, das eben jetzt fast treuherzig aussah, und schüttelte den Kopf.

»Wo ich jetzt hingehe, darf niemand mitgehn!« sagte sie feierlich.

Während der Fahrt blickte sie ungeduldig hinaus, wie eine, die froh ist, alles hinter sich zu lassen; die kurze Strecke kam ihr lang vor, als führe sie wirklich weit – weit in eine ganz andre Welt. Aber als sie dann am kleinen Stationsgebäude ausstieg und sich nach dem richtigen Weg durchfragen mußte, da wurde ihr bänglich zumut. Was ihr vorgeschwebt hatte – zwingend, unwiderstehlich, – war ein ganz bestimmtes Traumbild, und solange nur ihre Phantasie daran

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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