Ruth - Page 7

Bild von Lou Andreas-Salomé
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einem kurzen Ruck zurück warf, wobei der Kopf ein wenig hochmütig oben blieb. Es war kurzgehaltenes, schlichtes, dichtes Haar, und es ärgerte sie förmlich, daß es sich nirgends ein klein bißchen locken wollte, – nur ein bißchen; in Gedanken ließ sie ihm lange Locken wachsen, die sahen aber drollig aus, und so schnitt sie sie ihm wieder ab. Darüber mußte sie lachen; sie hätte fast laut aufgelacht, und der Sicherheit halber stützte sie den Mund auf die Hände.

Aber bei alledem sah sie nicht aus, als ob sie sich in losem Mutwillen mit solchen Äußerlichkeiten beschäftige, sondern als sinne sie angestrengt und ganz in sich vertieft einem schwierigen Problem nach. So hatte sie schon neulich, in seiner ersten Stunde, dagesessen, von ihm unbemerkt.

Ruth machte noch immer dasselbe verträumte, nachdenkliche Gesicht, als nach Beendigung des Unterrichts sich ein ganzer Schwarm von Mädchen zum Heimgehn um sie drängte. Sie hatten diesen Augenblick kaum erwarten können, denn nun sollte Ruth ihnen ja den »Unglücklichen« zeigen, der aller Phantasie beherrschte. Arm in Arm, hintereinander, und mit den Ranzen schlenkernd, gingen sie lachend und schwatzend die Straße hinab und bogen in den Newskyprospekt ein, Ruth vorauf und ohne auf sie zu achten. Einige sahen sich vorsichtig um, ob ihnen auch niemand folge auf den Wegen, die sie Ruth führen sollte, aber die Straße war ziemlich menschenleer, nur ein paar Dienstmädchen, die den Verwöhntesten den Schulsack trugen, folgten in bescheidener Entfernung, und hinter diesen sah man Erik herankommen.

»Eigentlich ist die Ruth doch eine Glückliche!« sagte die hübsche Wjera zu ihrer Nachbarin, »daß sie solche Geschichten treiben kann. Ich glaube, ihre Verwandten kümmern sich gar nicht drum. Ja, es ist ganz anders, wenn man noch Eltern hat.«

»Pfui, schäme dich!« empörte sich das Mädchen, das neben ihr ging, und stieß sie mit der Frühstücksbüchse in die Seite, »es ist doch ein schreckliches Unglück, seine Eltern so früh zu verlieren. Die arme Ruth! Denke nur, wo sie von ganz klein auf schon alles gewesen ist, – in Belgien und Deutschland, und immer unter fast Fremden.«

»Ja, da kommt man eben auch weit herum,« beharrte der gemütlose Backfisch, »sogar in einer Schweizer Pension ist sie gewesen. Und grade da möcht' ich so gern hin.«

»Sogar in einem Glaspalast hat sie einmal gewohnt,« behauptete eine von ihnen etwas unsicher.

Ein schallen des Gelächter erhob sich.

»Ja, im Traum! Das ist doch nur ein Märchen, das sie erzählt hat. Höre nur, Ruth, das hält sie für Wirklichkeit!«

»Da kommt er!« sagte Ruth mit einem Male.

Das Wort fiel wie ein Schrotkorn in einen Haufen lärmender Spatzen. Im ersten Augenblick stoben sie fast auseinander, aber dann sammelten sie sich wieder, räusperten sich, zupften an ihren Kleidern, reckten die Hälse, und die meisten von ihnen wurden rot.

»Hier der Blonde?«

»Nein! Der Herr im Zylinderhut.«

Es war keiner von beiden. Ruth blickte ernsthaft gradeaus und einem Herrn ins Gesicht, der auf sie zuschritt. Ein junger brünetter Mann, im hellen Sommerüberzieher, mit etwas verlebten Zügen, einem kleinen Schnurrbart und mandelförmigen Augen.

Er schien wie geschaffen zum Helden der Tragödie, – darüber waren alle einig. Aber während sie ihn noch anstarrten wie ein Meerwunder, geschah vor ihren Augen das Ungeheuerliche, woran sie eigentlich doch nicht im Ernst geglaubt hatten: Ruth grüßte ihn, ganz ernsthaft grüßte sie ihn, ohne eine Miene zu verziehen, aber doch so wie einen alten Bekannten.

Ein halbes Lächeln glitt über sein Gesicht; er hatte sie fest fixiert, jetzt griff er eilig an den kleinen runden Filzhut und grüßte wieder. Ziemlich vertraulich tat er das.

Die hübsche Wjera schrie fast auf vor Überraschung und Vergnügen, sie war feuerrot geworden, und um ihrer Herzensbewegung Herr zu werden, mußte sie ihre Begleiterin unwillkürlich in den Arm kneifen. Ein paar von den andern aber hielten sich von der Gruppe etwas getrennt, sie genierten sich sichtlich, gingen verlegen neben dem Trottoir auf dem Straßendamm einher und schlugen die Augen nieder. Doch fand der heldenhafte Unbekannte noch eine beträchtliche Anzahl unter ihnen, die mit Augen und Mienen das Spiel fortsetzten. Während er mit ganz verlangsamten Schritten an ihnen vorüberging, flogen Blicke und Lächeln zu ihm hinüber, empfingen deutliche Antwort und wurden wiederholt. Ein paar Köpfe drehten sich auch noch nach ihm um, und auch er wurde nicht müde, zurückzusehen.

»Nein! Das ist aber zu arg!« brach eine von den Sittsamen auf dem Straßendamm los, »es ist gradezu sündhaft!«

»Ach, du liebe Tugend! Wir sind es ja gar nicht gewesen, die angefangen haben. Ruth hat es getan. Sie hat ihn gegrüßt. Wenn sie jetzt auch so gleichgültig drauf los geht, als ging es sie nichts an.«

»Ja, was schadet's denn auch?« verteidigten mehrere ihr Benehmen etwas betreten.

»Gewiß schadet es, – abgesehen davon, daß es sündhaft ist,« behauptete die Sittsame, »hast du nie gehört, daß man nicht geheiratet wird, wenn man ein Verhältnis gehabt hat?«

»Ja, sie hat ganz recht; es bringt uns in Verruf,« half ihr eine zweite, »und der da würde euch gewiß nicht heiraten, bildet euch das ja nicht ein. Er kann euch ja auch gar nicht alle heiraten!« setzte sie schlagend hinzu.

Einzelne suchten zwischen den Streitenden zu vermitteln.

»Es ist doch alles nur Unsinn. Eine bloße Phantasiegeschichte. Also laß doch! Morgen in der Frühstückspause spielen wir mit verteilten Rollen weiter, dann ist wieder eine von uns der edle Unglückliche, und alle Gefahr ist vorbei.«

»Nein, nun ist es keine bloße Phantasiegeschichte mehr. Du hättest ihn uns nicht zeigen sollen, Ruth.«

Diese zuckte ungeduldig die Achseln.

»Das kann ich nicht so trennen. Wenn wir's spielen, leben wir's ja auch. Aber macht es doch, wie ihr wollt,« sagte sie zerstreut.

»Nein, erst mußt du's weiter ausdenken. Eigentlich ist es auch sehr lustig. Grade als ob man zweimal lebte: einmal zu Hause und in der Schule, – und dann noch einmal ganz wo anders, wo alles grade so ist, wie man sich's ausdenkt. – Aber diesen Weg wollen wir lieber nicht wieder gehen.«

»Ach, seid ihr Feiglinge!« rief Wjera dazwischen, die sich bis jetzt nicht am Streit beteiligt hatte, weil sie sich noch mit dem »Unglücklichen« zu tun gemacht hatte, der irgendwo an einer Straßenecke stehn geblieben war, »ich finde diese Geschichte tausendmal interessanter als all die Phantastereien drum herum. Was hat

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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