Seiten
er studiert? Jura wie sein Vater?“, fragte Leo interessiert.
„Du hast es erraten“, gab Arnold zur Antwort und sah mich erwartungsvoll an. „Wie war es bei dir, Gilbert?“
„Oh, das ist eine lange Geschichte“, stammelte ich und spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. Wäre ich bei der Wahrheit geblieben, hätte ich in etwa sagen müssen: 'Das ist eine Geschichte, die ich heute nicht erzählen möchte. Vielleicht später einmal.' Ich hätte mir auch irgendetwas ausdenken können und weiß bis heute nicht, weshalb ich es damals nicht tat.
Während der Heimfahrt befand ich mich in einer aufgewühlten Gemütsverfassung. Es fiel mir schwer, mich auf den Verkehr zu konzentrieren. Wir waren nach einem herzhaften Mittagsmahl, das Leos Frau zubereitet hatte, aufgebrochen, und ich kam erst gegen Abend zu Hause an. Als ich Lydia begrüsste, spürte sie sofort, dass ein Vulkan in mir brodelte, der nichts Gutes verhieß. Ich ließ mich auf die Couch fallen, erschöpft von der langen Fahrt und den Grübeleien, und starrte teilnahmslos vor mich hin. Lydia füllte zwei Gläser mit Rotwein und setzte sich neben mich.
„Was ist los, Gilbert? Dich quält doch irgendetwas. Mir kannst du es doch sagen.“ Ihre Stimme klang weich und warm, und ich konnte nicht anders, als ihr die tragische Geschichte zu beichten, die meiner Tante Ada Borsig bis zu ihrem Tod wie ein Stein auf der Seele lag und mich, der Zeuge der dramatischen Ereignisse war, nach so vielen Jahren aus der Ruhe zu bringen vermochte, sobald die Erinnerung an jenen verhängnisvollen Tag in mir wach wurde.
„Du weißt, Lydia“, begann ich zögernd, „dass ich anno '43 mit Mutter bei Tante Ada in Süddeutschland lebte. Vater war im Sommer ‘42 bei Stalingrad gefallen, und Tante Ada bot uns an, zu ihr auf den Hof zu ziehen. Dort seien wir sicher. Außerdem könne sie jede Hilfe gebrauchen, solange dieser wahnsinnige Krieg tobe, der sie von Linus, ihrem lieben Mann, getrennt habe.
Tante Ada hatte mit den Nazis nichts am Hut und war froh darüber, dass ich keinerlei Ambitionen zeigte, der Hitlerjugend beizutreten. Allerdings konnten wir es uns leisten, die NSDAP zu ignorieren, denn Tante Adas und Mutters Brüder, Falk und Enzo Momsen, waren glühende Hitler-Verehrer und dienten der Partei. Falk war kurz vor unserer Ankunft auf Tante Adas Hof zum Ortsgruppenleiter ernannt worden, während Enzo schon seit Jahren als Dorfpolizist sein faschistisches Unwesen trieb. Und obwohl meine Onkel Tante Adas Empörung über „diesen unzurechnungsfähigen Reichskanzler und dessen sinnlosen Krieg“ ganz und gar nicht billigten, wagten sie nicht, gegen sie vorzugehen; denn Tante Ada war nicht nur die älteste der vier Geschwister, sondern auch eine Respektsperson. Sie habe ihnen die Windeln gewechselt, die Rotznasen geputzt und sei wegen der Berufstätigkeit meiner Großmutter für die Erziehung ihrer jüngeren Geschwister zuständig gewesen, die, wie Tante Ada zu sagen pflegte, was Falk und Enzo betreffe, auf keinen fruchtbaren Boden gefallen sei. Soviel zur Vorgeschichte, Lydia. Wir haben uns oft über jene schreckliche Zeit unterhalten.“
Ich stockte; mir saß ein Kloß im Hals, und ich konnte und wollte wohl auch nicht weitersprechen.
Lydia, sie hatte die ganze Zeit über geschwiegen, nahm meine Hand und sagte: „Nur Mut, Gilbert. Wenn Gott vernünftig ist, lässt er mit sich reden.“ Diesen Spruch gebrauchte sie oft, wenn ich niedergeschlagen war.
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus, bevor ich meine Beichte fortsetzte.
„Gegen Mai ’44 begann die Räumung des Konzentrationslagers Dachau mit dem Aufbruch der Häftlinge. Das Wetter hätte damals schlechter nicht sein können. Die oft wochenlang währenden Fußmärsche, begleitet und überwacht von SS‑Chargen, die den Gefangenen Grausamkeiten zufügten, die an Rohheit kaum zu überbieten waren, wurden später von den Opfern als „Todesmärsche“ bezeichnet. Es hieß, das Ziel für die Dachauer Häftlinge sei Tirol, was sich niemand von uns vorstellen konnte. Wir glaubten, Falk und Enzo hielten uns zum Narren. Jener Mai war bitterkalt, mit heftigen Schnee- und Regenfällen, und nicht weit hinter München, so erfuhren wir später, hätten unzählige Tote und Verwundete die Straßenränder gesäumt. Häftlinge, die sich nicht mehr auf den Beinen halten konnten, wurden kurzerhand erschossen. Ihr Leben war den Bewachern, die einzig und allein ihre eigene Flucht im Auge hatten, keinen Pfifferling wert.
Ich stand mit einigen Dorfbewohnern am Straßenrand und verteilte Proviant an die ausgezehrten Menschen, die blicklos an uns vorüberwankten. Tante Ada hatte einen Sack mit Brot und Äpfeln gefüllt, der im Handumdrehen leer war.
Falk erhielt kurze Zeit später den Befehl, jene Frauen und Männer, die vom endlosen Strom der Gefangenen abgefallen waren, bei Bad Tölz in Empfang zu nehmen und nach Waakirchen zu bringen.“
Ich räusperte mich und nahm einen Schluck Rotwein, bevor ich fortfuhr.
„Es dauerte vier Tage, bis Falk mit seinen Schützlingen im Dorf eintraf: Zwanzig Männer taumelten mehr tot als lebendig auf Tante Adas Scheune zu, und mehr als die Hälfte brach vor dem offenen Tor, durch das hindurch Falk und Enzo sie treiben wollten, zusammen. Beide stießen derbe Flüche aus, betteten die Erschöpften dann aber zu guter Letzt eigenhändig aufs Heu, weil Tante Ada darauf bestand. Als wir ins Haus gehen wollten, meine Onkel, um zu beratschlagen, was mit den Männern geschehen solle, Tante Ada, Mutter und ich, um Decken zu holen und heißen Tee zu kochen, kam ein Soldat der Wehrmacht in den Hof gestürmt und verkündete aufgeregt, dass Bayern kapituliert habe und in Kürze mit der Ankunft der Amerikaner zu rechnen sei. Falk beauftragte Enzo, ihre beider Höfe aufzusuchen, die ganz in der Nähe lagen, und alles zu vernichten, das auch nur im Entferntesten an Hitler erinnere.
'Was hast du damit vor, Falk?', erkundigte sich Tante Ada im scharfen Ton, als ihr Bruder das Haus mit einer Flinte verlassen wollte, die er dem Waffenschrank meines in russische Gefangenschaft geratenen Onkels Linus Borsig entnommen hatte.
'In die Scheune gehen, Ada', erwiderte Falk kühl, 'und die Männer von ihren Qualen erlösen. Oder sollen uns die Amis verhaften?'
'Das wagst du nicht, Falk', begehrte Tante Ada mit resoluter Stimme auf. 'Diese Menschen haben dir nicht das Geringste getan und ein Recht auf Leben wie alle anderen. Sie vor allem, und dann kommt erst einmal eine ganze Weile gar