Das Erbe

Es traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Gerade als mein Leben nicht tiefer sinken konnte, lag der Brief irgendeines schottischen Notariats in meinem Briefkasten.
Zuerst dachte ich, dass er nicht an mich adressiert sei, doch dann sah ich in feinsten geschwungenen Lettern meinen Namen auf dem parfümierten Kuvert. Verschlossen war er mit einem Wappensiegel schottischer Adliger, glaubte ich.
Was konnte das bedeuten?
Ich hatte gerade mein fünfzigstes Lebensjahr vollendet, von Sein oder Nichtsein trennte mich mein karger monatlicher Lohn, den sich der Chef der Baufirma, für die ich arbeitete, abrang.
Meine Frau war vor Jahren mit einem neureichen Dänen durchgebrannt, die Kinder sind mit ihr gezogen. Niemand wollte mit mir stinknormalem, dauerpleiten, viel zu weichen, immer „ja“ sagenden Dauerloser zusammen sein.
Meine Eltern waren viel zu früh verstorben und Geschwister hatte ich keine, sagten sie jedenfalls.
Die Kredite, die ich mit meiner Exfrau aufgenommen hatte, hatte ich jahrelang allein abgezahlt und von daher kam ich nie auf einen grünen Zweig.
Da ich von Beziehungen die Nase voll habe, lebe ich jetzt lieber allein und bin recht zufrieden damit.
Nur zu den Feiertagen tut die Einsamkeit ein wenig weh.
Und nun das.

Vorsichtig öffnete ich den Umschlag und fand darin einen Brief und das vergilbte Foto eines schottischen Herrenhauses.
Es sah sehr, sehr vornehm aus, war riesig groß und in Form eines offenen Karrees gebaut.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass da etwas auf mich zukam, und ich goss mir einen Whiskey ein. Ich fand, das passte jetzt einfach.
Darauf passierte etwas sehr Ungewöhnliches, denn gerade als ich den Brief aus dem Umschlag ziehen wollte, bewegte er sich und eine dicke, schwarze, ekelhafte Spinne kam herausgekrabbelt. Angewidert und äußerst paralysiert blickte ich ihr nach, bis sie vom Tisch herunterfiel und verschwinden wollte. Das konnte ich nicht zulassen, denn wenn ich etwas auf dieser Welt nicht leiden kann, dann sind es Spinnen.
Diese Arachnophobie hatte ich seit Kindesbeinen an. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass ich einmal in meinem Kinderwagen nach einem warmen Herbstnachmittag komplett hinter einem Spinnennetz gefangen war und in seiner Mitte hockte eine fette Spinne und glotzte mich an. Als sie das Netz entfernen wollte, wurde sie gebissen und unter meinem Kissen liefen viele, viele kleinere rotäugige Spinnentiere herum und hatten wohl irgend etwas mit mir vor.
Ich nahm also die Whiskeyflasche und zerdrückte sie. Es ertönte ein ekelhaftes Knackgeräusch als sie zerplatzte und unter der Flasche spritzten gelbliche Tropfen hervor. Zum Glück hörte ich nicht noch ein widerliches Quieken.
Mit verzogenem Gesicht ging ich ins Badezimmer, holte einen Lappen und bereinigte die Sauerei. Den Lappen warf ich in den Kamin und griff mir den Brief.
Auf dem Briefkopf war das Logo des Notariats „Phelbie und Phelbie“ abgebildet.

Sehr geehrter Herr Dahm, stand dort (sie hatten sich die Mühe gemacht, in Deutsch zu schreiben)
es gab einen Todesfall und nach langen Recherchen sind wir zu dem Schluss gekommen, dass sie der einzige Erbe der Grafschaft Tollington sind.
Der Graf von Tollington, der schon sehr früh verstarb, hatte eine junge Frau, die nach seinem Tod die Geschicke der Grafschaft mehr oder weniger steuern musste. Da sie ein gewaltiges Vermögen übernommen hatte, sind die Ländereien und auch die Objekte dieser Liegenschaft in erstaunlich gutem Zustand, weil ein Großteil des Vermögens in die Erhaltung der Anlage gesteckt wurde.
Vor ziemlich genau elf Monaten ab Datum des Briefkopfes verschwand sie plötzlich auf mysteriöse Weise, um genau vier Monate später skelletiert auf dem Dachboden des Südflügels von Tollington gefunden zu werden. Da sich kein weiterer Erbe von Seiten Lord Tollingtons fand, machten wir uns auf die Suche nach einem Erben der anderen Seite.
Es dauerte sieben Monate, bis wir Sie, Herr Dahm, ausfindig machten.
Es freut uns außerordentlich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass die verstorbene junge Frau ihre Halbschwester Luise war. Wir gehen weiter davon aus, dass Sie von ihrer Existens überhaupt nichts wussten.
Ihre Mutter hatte eine außereheliche Affäre, aus deren Verbindung die spätere Gräfin von Tollington hervorging.Sie wurde kurz nach ihrer Geburt zur Adoption freigegeben und gelangte dann weiterhin nach Schottland, wo sie ihr weiteres Leben verbrachte.
Es liegt nahe, dass sie von Ihnen genauso wenig wusste wie Sie von ihr.

Herr Dahm,
Damit sind Sie der Erbe der Grafschaft Tollington mit weitläufigen Wäldern, Feldern, einigen Häusern, sowie dem grafschaftlichen Anwesen und einem flüssigen Vermögen in Höhe von siebenunddreißig Millionen Pfund Sterling!
Wir bitten Sie nun, sich mit Ihrer Geburtsurkunde bei uns einzufinden und, wenn Sie es wünschen, das Erbe anzutreten.

Hochachtungsvoll Phelbie und Phelbie
Notariat und Kanzlei

Rumms machte es in meinem Kopf, ich kippte mir einen weiteren Whiskey ins Glas und dachte, wenn ich die siebenunddreißig Millionen auf meinem Konto hätte, dann würden die zweitausend Euro Dispo, in denen ich steckte, wohl ausreichend ausgeglichen sein. Doch dafür müsste ich erst einmal nach Schottland reisen, um mich zu legitimieren.
Da ich ja arm wie eine ausgeraubte Kirchenmaus war, musste ich mir wirklich Gedanken machen, wie ich dort hinkam.
Geld für einen Flug hatte ich nicht, ebenso wenig Erspartes.
Alles, was ich tun konnte, war, meinen Dispo noch tiefer auszuschöpfen. Außerdem hatte ich meinen erst vierundzwanzig Jahre alten Ford Mondeo.
So gewappnet und perfekt gerüstet wollte ich die Fahrt in mein neues Glück antreten. Ich wollte Fortuna nicht enttäuschen, wenn sie schon einmal so gewaltig an meine Türe klopfte.
Da ich eigentlich sowieso nicht mehr viel Lust auf das Arbeiten verspürte, rief ich meinen Chef an und stellte klar, dass ich endlich den ausstehenden Urlaub der letzten fünf Jahre nehmen wollte. Er belief sich inzwischen auf vier Monate. Zähneknirschend willigte er ein und damit war meine Reise in einen vielleicht neuen, glücklichen Lebensabschnitt besiegelt.
Am nächsten Tag suchte ich meine Geburtsurkunde und noch andere Legitimitätspapiere zusammen, um auf Nummer sicher zu gehen, betankte meinen Mondeo und holte tausend Euro vom Konto, für die Unkosten der Fahrt.

Die letzte Nacht vor meiner Abreise schlief ich sehr schlecht, ich hatte schlimme Vorahnungen, unbewusst zwar, aber ich hatte sie.

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