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hat.
Gullan saß bereits an einem Tisch. Sie lächelte etwas erstaunt, als zwei Männer sie begrüßten. Sie hatte nur mit einem gerechnet, Hans-Erik, den Schweden, den sie kannte. Nun kam ein Deutscher dazu, was bedeutete, dass sie ein gemütliches Gespräch auf schwedisch vergessen konnte.
Und ich fühlte mich plötzlich am Platz, um mit Gullan einen Anfangskontakt zu bekommen.
Wir hatten schon einige Biere hinter uns, Horse-Erik war in Spaßlaune und bestellte eine Runde. Gullan hatte Apfelsaft im Glas und blieb dabei. Ich blieb beim Bier und sprach nicht soviel. Ich hatte auch keine Lust, etwas zu essen. Sie erzählte, dass ihre Eltern sie besucht hatten, und dass sie gestern, an ihrem Geburtstag, wieder Richtung Schweden fuhren. Ich war so voller Eindrücken, dass ich fast froh war, als wir nach kurzer Zeit das Gasthaus verließen. Es dunkelte schon.
Mein Zimmer auf der Anton-Bruckner-Straße war etwas weiter weg. Gullan bot sich an, mich nach Hause zu fahren. Ich war überrascht, geschockt, doch sagte: ja, gerne. Wir gingen ein Stück. Gullan nahm den Autoschlüssel aus der Handtasche und öffnete die Tür zum offensichtlich neuen Mercedes auf. Der Schock in mir verstärkte sich. Mein etwas alkoholgetränkte Gehirn brauchte eine Zeit bis ich zum Schluss kam: Ihre Eltern kamen von Schweden nach Ravensburg und haben ihr ein Edelauto gekauft!
Ich fühlte mich wie ein Alkoholabhängiger, der von einer mitleidsvollen Frau nach Hause gebracht wird. Aber ich bedankte mich anständig bei der jungen, schmalen Frau, gratulierte ihr noch einmal zu ihrem Geburtstag gestern und bat um Entschuldigung für das nicht abgesprochene Treffen meinerseits im Obertor. Sie antwortete freundlich: Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.
Zwei Tage später, am 10. Mai, kam eine große Überraschung: Gullan lud Hans-Erik und mich mit ihrem Auto zu einer Ausstellung in Friedrichshafen ein. Wieder zurück in Ravensburg aßen wir etwas im Gasthof Obertor. Dabei schlug Hans-Erik vor, dass Gullan und ich uns duzen sollten. Sie schaute auf mich, ich auf sie und nahmen lächelnd den Vorschlag an. Ich konnte und wollte meine Freude nicht verbergen.
Wir unterhielten uns über das eine und das andere. Ich erfuhr eine Menge von Karlstad, der Stadt in der Hans-Erik und Gullan wohnen und arbeiten, aber Gullan ist an den meisten Wochenenden bei ihren Eltern in der Kleinstadt Åmål, in der sie geboren ist.
Sie erzählte, dass sie gerne in andere Länder reist und dort eine Zeit lang arbeitet, wie z. B. Amerika, England und jetzt in Deutschland.
Ich erzählte von meiner schönen Kindheit nach dem Krieg im bayerischen Bauerndorf Segringen, meiner Jugend in Düsseldorf mit seinen Ruinen, mein "Wanderleben" nach meiner Lehre als "Leihkonstrukteur" in verschiedenen Städten. Wir sprachen über Gullans Auto, das nicht ihres ist, obwohl sie es gekauft hat. Sie hat es für ihren Bruder gekauft. Sie muss es mindestens ein Jahr besitzen, dann übernimmt es ihr Bruder, der auf diese Weise eine Menge Geld spart. (Gefahren hat er es sobald es in Åmål ankam.)
Es war ein schöner, gebender Tag, den Gullan uns - besonders mir - beschert hat. Wir gingen zu "ihrem" Auto. Hans-Erik stieg ein, er wohnte in der Nähe von Gullan. Ihre Augen trafen meine, während sie die Tür vorsichtig zuschlug.
Eine freundliche Wolke brachte mich schwebend zur Anton-Bruckner-Straße und bis in das Bett in meinem Zimmer.
...Doch plötzlich kam das Glück geflogen,
sein Leben wurde ausgewogen.
Ein Frauenengel zu ihm fand,
das Leben wurd´ ein Hand-in-Hand,
die dunklen Schatten sich verzogen...
Der Mai - der ganze Sommer, bis in den Herbst hinein - wurde ein einziger Urlaub. Unsere Arbeit bei Escher Wyss war kein Hindernis. Wir sahen uns kurz, indem wir ohne echten Grund durch das entsprechende Büro gingen. Unseren allerersten Zufallsblick im Treppenhaus wiederholten wir bei fast jeder Mittagspause. Dann machten wir einen kleinen Spaziergang, aßen Joghurt mit Fruchteinlage und ein Brötchen.
Der Ravensburger Flappachweiher war unser liebster Platz, aber wir besuchten auch alle Nachbarorte, fuhren um den Bodensee, hatten Freude mit den Freunden, wenn wir mit ihnen waren.
Ich zeigte ihr das Dorf Segringen meiner frohen Kindheit in Bayern. Wir wohnten bei meinem lieben Onkel in Dinkelsbühl, der als einziger unserer Großfamilie - die nach der Flucht aus Polen in Segringen eine Bleibe bekam - dort blieb.
Wir beglückten uns mit all den Dingen, die in und um uns waren.
Wir drückten uns beim Wiedersehen und küssten uns zum Abschied.
Aber der wahre Abschied kam immer näher. Gullans letzter Arbeitstag in Ravensburg war der 31. August. Der 11. September war unser letzter Tag zusammen. Am Abend aßen wir ein Abschiedsessen im Gasthof Sonne. Ich begleitete sie bis zur Haustüre, wo sie wohnte. Wir küssten uns und versprachen uns, dass wir uns wiedersehen werden.
Früh am nächsten Tag begann mit dem Auto ihre Reise zurück nach Schweden.
In einem deutschen Städtchen
die Liebe ich einst fand.
Sie war ein liebes Mädchen
aus einem andern Land.
Ich sah ihr Auge funkeln,
so wie ein Sonnenstrahl.
Mein Herz lag tief im Dunkeln,
sah Licht zum ersten Mal.
Wir über Wiesen schwebten,
sie Blumenkränze band.
Wir spürten, dass wir lebten,
so wie wir's nie gekannt.
Doch waren wir nur Gäste,
in dieser Schwaben-Stadt.
Zu End' gehn alle Feste,
auch dies ein Ende hatt'.
Ich sah ihr Auge glänzen,
sie drückte mir die Hand.
Uns trennten wieder Grenzen,
die Liebe uns verband...
Nun war ich wieder einsam, ohne sie. Die freundlichen Arbeitskollegen halfen mir in dieser Situation nicht so viel.
An jedem einigermaßen sonnigen Wochenende ging ich den ca. 3 km langen Pfad vom Obertor bis zum Flappachweiher, legte mich auf eine Bank und schrieb Gullan einen Brief. (Ich, der so gut wie nie einen Brief geschrieben hat, schrieb jetzt Liebesbriefe!) Wenn er geschrieben war, ließ ich meinen Gedanken freien Lauf. Aber sie blieben immer in der gleichen Spur: Wie soll diese Geschichte weitergehen?
Aber ich machte mir Mut:
...doch gibt es keine Grenze,
die Liebe hindern kann.
Und dauert es zig Lenze -
wir werden Frau und Mann...
Am 9. Oktober ging mein Auftrag in Ravensburg zu Ende. Ich fuhr wieder nach Düsseldorf und wohnte bei meinen Eltern in einem eigenen Zimmer im Dachgeschoss. In einem Büro des Arbeitgebers Paul Kahle arbeitete ich bis zum 3. November 1970. Am nächsten Tag fuhr ich nach Erlangen, um in einem längeren Kernkraftprojekt mitzuarbeiten.
In Erlangen war ich schon vor meinem Ingenieurstudium, das war aber über 4 Jahre her. Einige Kollegen, auch von anderen
© Willi Grigor, 2022