Der Abschied

Bild von Anita Zöhrer
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Wenn dunkle Wolken meinen Sonnenschein trübten und kalter Regen mein Herz frieren ließ, war er der Regenbogen in meiner Traurigkeit. Neue Kraft wuchs in mir durch seine Gegenwart, seine Nähe schenkte mir Wärme. Bei niemandem sonst fühlte ich mich so geborgen wie bei ihm. Oft verweilte ich nächtelang in seinen Armen.

Angelehnt an die Wand saß mein Freund der Tod auf meinem Bett und ich schmiegte mich an ihn. Ich hatte einen harten Tag hinter mir und war froh über seine Anwesenheit, als plötzlich ein Engel in meinem Zimmer erschien. Ich klammerte mich an den Tod, ahnte nichts Gutes. Und tatsächlich: Er war ein Bote, der uns eine Nachricht überbrachte, die nicht niederschmetternder sein hätte können.
Der Tod erhob Einspruch und auch ich wollte die Kunde nicht wahrhaben.
Ein Schutzengel würde an seiner statt von nun an für mich sorgen – ich lehnte es vehement ab. Ich
wollte keinen Schutzengel, wollte niemand anderen als ihn an meiner Seite wissen.
Er war der Tod, darum durfte er nicht bei mir bleiben, hatte das himmlische Gericht entschieden,
und ich verfluchte sie alle dort oben. Sie hatten ja keine Ahnung, wie wertvoll er mir geworden war,
wie sehr auch er sich nach jemandem an seiner Seite sehnte.

Noch eine einzige gemeinsame Nacht gewährte der Himmel uns. Noch lange umarmten der Tod und ich uns beim Anbruch des Morgens, bevor mein Schutzengel zu uns auf die Erde kam.
Der letzte Stern erlosch am Himmel und mit ihm meine Hoffnung, dass mein Freund bei mir bleiben durfte.
„Wir werden uns wiedersehen“, waren seine Worte zu unserem Abschied.
Seine Hand glitt aus der meinen. Ich weinte. Wie sollte ich nur weiterleben ohne ihn? Mein Schutzengel versprach ihm, auf mich aufzupassen, doch ich liebte ihn nicht. Ich kannte ihn ja kaum. Mochte er sich auch noch so sehr um mich bemühen, er würde doch nie den Platz meines Freundes einnehmen können.

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