Ein Kind fand uns - Page 2

Bild von Willi Grigor
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wird. Wir machten einen Ausflug zur Hauptstadt Dakar. Allein das Herumspazieren in einer Großstadt, ohne einen einzigen Weißen zu sehen, war die Reise im Bus ohne Federung wert. Unvergesslich die vielen Handwerker, die vor ihren Häusern ihrer Arbeit nachgingen. Ebenso die bettelnder Kinder, denen man nur entkommen konnte, indem man eine Handvoll Münzen über sie warf.

Morgens war die Luft merkbar kühler. Das war die richtige Zeit für Gullan und mich, einen etwas längeren Strandspaziergang zu machen. Die - nicht sichtbare - Grenze des Clubgeländes wurde von angestellten Männern überwacht. Die Gäste aus dem Ausland durften diese übertreten, nicht aber Einheimische. Bei so einem Spaziergang sahen wir einen schwarzen Jungen, vielleicht 13 Jahre alt, der fast sehnsüchtig hinüber zur "Grenze" schaute. Er trug bunte Plastiksandalen, an denen die Fersen herausragten. Wir nickten ihm zu und gingen weiter. Nach etwa 2 km kehrten wir um, wie üblich. Wir waren allein, wie üblich. Von weitem sahen wir, dass uns jemand entgegenkommt. Es war dieser Junge. Wir wollten mit ihm sprechen. Konnte er englisch? Französisch bestimmt, das können alle Einheimischen hier, aber nicht wir. Wir sprachen ihn an - er konnte englisch! "Woher kannst englisch?" fragten wir staunend. Der Junge: "Mein Französischlehrer gibt mir auch Englischunterricht."
"Wie heißt du?" - "Ich heiße Ibou, mein zweiter Name ist André."
"Du hast zwei schöne Namen. Wir heißen Gullan und Willi und kommen aus Deutschland.
Wo wohnst du?"
"Ich wohne mit meiner Familie in einem der kleinen, runden Hütten aus Stroh im Dorf dort hinten."
"Ah ja, wir sahen es von dort, wo wir umkehrten."
Wir waren sehr angetan von diesem 13-jährigen Jungen, er sprach englisch und französisch sowie mindesten eine der vielen Sprachen im Senegal. Wir fragten ihn, ob wir uns wieder treffen können. Er meinte: "Ja, ich gehe gerne zu diesem neuen Platz für die Fremden. Kann aber nicht so oft, habe Schulaufgaben zu machen und muss meiner Mutter helfen, sie ist nicht so gesund."
"Wir werden nach dir Ausschau halten."
Dann ging Ibou in sein Dorf und wir zum "Dorf der Fremden".

Am nächsten Tag war Heiligabend. Mein Magen gab mir zu verstehen, dass es ihm nicht so gut geht. Ich dachte an das Wasser aus der Dusche. Aber ich war, wie wohl alle ca. 500 Aldianerinnen bzw. Aldianer, am Nachmittag am Strand dabei. Auf einem Wagen, gezogen von einem Esel, kam um 17 Uhr der Weihnachtsmann. Er war schwarz, hatte einen weißen Bart und einen roten, afrikanisch anmutenden Umhang. Jedem schenkte er ein Paket. Gullan bekam ein grünes Halsband, wie sie sich mit Hilfe ihres Tagebuchs erinnert.
Bei den Speisen an den beiden Weihnachtstagen wurde nicht gekleckert: Vier Vorspeisen, ein Hauptgericht mit verschiedenen Beilagen, französische Käseplatte, zum Abschluss Eis mit Ingwergeschmack. Mein Magen hielt sich zurück.
Die schwarzhäutigen, verständlicherweise noch nicht so eingeübten, Servierer und Serviererinnen machten ihre Sache mit Eifer. An einem Nachbartisch versuchte einer von diesen eine Sektflasche mit dem Korkenzieher zu öffnen.

Wir zogen uns doch bald zurück in unseren Rundalow. Ich hatte ein kleines Weihnachtsgeschenk schon seit Wochen vor meiner Lieben versteckt. Ein rotes Nageletui aus Solingen, gekauft in Erlangen. Nun lag es unter dem Strohdach, sichtbar auf einem Balken. Wir spielten "heiß und kalt". Gullan kam nicht darauf, nach oben zu schauen. Mein unruhiger Magen wollte, dass ich ihr helfe. Dieses Etui, jetzt 47 Jahre alt (2020), tut immer noch seinen Dienst. Solinger Qualität!

An den nächsten Tagen aß ich so gut wie nichts, hatte Fieber. Ich war damit nicht der einzige in diesem Club. Als es mir wieder besser ging, schauten wir nach ihm, Ibou, aber wir sahen ihn nicht. Doch am Tag darauf stand er wieder vor der "Grenze". Er fragte uns, ob wir morgen mit in sein Dorf kommen möchten. Das wollten wir eigentlich schon, bevor wir Ibou kennenlernten. Aber wir trauten uns nicht, wollten uns nicht aufdrängen. Viele Einwohner haben hier zwar durch den Club Aldiana eine Arbeit bekommen; die Fischerei mit kleinen Booten oder mit Netzen direkt vom Strand war dennoch die Haupterwerbsquelle, was wir so sahen. Aber wir waren nicht sicher, dass alle im Dorf die Fremden begrüßten.
**
Wir lernten deine Heimstatt kennen,
ich möchte sie 'sehr einfach' nennen.
Die Mutter saß, nicht sehr bequem,
auf dem Boden, gestampft aus Lehm.
Waren da nicht auch zwei Hennen?

Die Hütte stand nicht weit vom Meer.
Trockenfische rochen sehr
in der Sonne vor sich hin.
Uns stand so gar nicht mehr der Sinn
nach Luxusurlaub oder mehr.

Der Junge, 'Ibou', der auch André hieß,
uns eine gänzlich neue Tür aufstieß.
Er zeigt' uns einen Lebensast,
wie dieser sich (vielleicht verpasst?)
bei uns noch niemals blicken ließ.
**
Zusammen mit unserem jungen Freund fühlten wir uns sicherer. Wir gingen den endlosen Strand entlang bis zum Dorf, sahen die Fischer mit ihren Netzen und überquerten bald unsere bisherige Grenze, ein gutes Stück vor dem Dorf. Das Erste was wir sahen und rochen, war ein etwa 20 Meter langes und 5 Meter breites Lager ohne Dach. Es war voll mit getrockneten Fischen. "Das ist das Hauptnahrungsmittel bei uns im Dorf." sagte Ibou. Das Lager ist eine Reserve, wenn der Fischfang nicht so gut ausfällt. Es waren nur wenige Schritte bis zu diesem Dorf, wie wir es noch nie vorher sahen. Einfache, runde Strohhütten - mit einer Eingangsöffnung und einem Rauchabzug - standen auf dem Sandboden. Alle waren gleich, hier gab es keine Klassen. Frauen saßen im Schatten mit irgendwelcher Beschäftigung. Kleine nackte Kinder sprangen umher und sammelten sich um uns und Ibou. Die halbwüchsigen Mädchen waren hübsch anzusehn. Ein Tuchverkäufer war in das Dorf gekommen. Er versuchte sofort, uns etwas zu verkaufen. Aber was wir mithatten, wollten wir an die Kinder verteilen. Der Händler wurde richtig böse, redete auf uns ein. Ibou rettete uns regelrecht.
Dann führte er uns in die Hütte seiner Mutter. Sie lag auf einer Art Teppich, der wiederum auf einem Lehmboden. Sie schaute auf uns, als ob sie uns nicht sah. "Meine Mutter ist krank" hatte Ibou gesagt. Von einer "Möblierung" konnte man hier nicht sprechen. Wir stellten keine Fragen an Ibou, sondern nahmen es so, wie es eben ist, hier.
**
Wir gingen heim zu unsrer Hütte,
mit echten Betten in der Mitte.
Ein strohbedecktes Luxusrund,
laut Ferienbuch ein Schnäppchenfund.
'Hello Sir, zwei Wasser bitte.'

Wir packten unsre Koffer aus,
einer kam fast leer nach Haus.
Ein' Mann sah ich mein T-Shirt tragen,
ein rostoranges, sozusagen.
Beide sahen prima aus.
**
So wohnte Ibou also. Einen Vater oder Bruder von ihm bekamen wir nicht zu Gesicht.
Wir gingen wieder nach draußen, etwas betroffen. Fröhliche Kinder kamen uns entgegen. Alle waren wohl arm, hatten aber eine frohe, mitnehmende Ausstrahlung, auch die Älteren. Wir verteilten unser mitgebrachtes Geld. Ich zog mein rostrotes T-shirt aus und gab es einem jungen Mann, der es sofort überstreifte. Gullan sah nichts dabei, ihren BH einem Mädchen zu schenken, das fast in Ohnmacht viel vor Freude. Wahrscheinlich wollen alle Frauen hier einen tragen, können sich aber keinen leisten.
"Aldiana, wo die Glücklichen leben!" Der neue Luxusclub Aldiana hilft sicher mit, dass die Menschen hier neue Wünsche bekommen, sich für die meisten aber nicht erfüllen.
Ibou begleitete uns ein Stück zum Strand. Wir fragten ihn wie es mit der Schule geht. Er antwortete:
"Ich gehe gerne in die Schule und habe gute Noten. Und nächstes Jahr kriege ich auch Unterricht in Spanisch, von einem Missionar."
"Wie lange gehst du noch zur Schule?"
"Das nächste Jahr noch. Dann muss ich aufhören. Wir haben kein Geld für das Gymnasium."
Am Trockenfisch-Lager trennten wir uns. "Morgen ist der letzte Tag des Jahres, Ibou. Sollen wir uns am 1. Januar hier treffen?"
"Ja, um zwei Uhr, dann könnt ihr mit mir zu einem Boxkampf gehen, das ist beliebt hier."

Silvester lagen wir, wie die meisten Aldianer/innen, am Strand unter einem Sonnenschirm. Am Nachmittag erfrischender, afrikanischer Volkstanz, am Abend Feuerschlucker statt Feuerwerk. Wir gönnten uns eine Premiere: eine Flasche Champagner (70 DM). Unsere Gedanken waren bei Ibou. Morgen werden wir uns wieder treffen.

Um halb zwei gingen wir zur Grenze von "Aldiana der Fremden". Ibou stand schon bereit, zwei Meter von einem Bewacher entfernt. An den Füßen trug er, wie immer, die zu kleinen Plastiksandalen, an denen die Fersen herausragten. Wir gingen vielleicht einen Kilometer in Richtung Inland. Eine Reihe hauptsächlich junger Männer hatten das gleiche Ziel. Einen von ihnen erkannte ich, besser gesagt sein rostrotes T-shirt. Bald sahen wir die Boxarena nahe dem kleinen Ort Nianing - ein sandiger Ring, im wahrsten Sinne des Wortes, inmitten einer mit einigen Bäumen geschmückten Einöde. Gut 100 Schaulustige waren gekommen und feuerten die "Kämpfer" an. Mir kam das Gerangel eher wie ein Tanz oder ein freundlicher Ringkampf vor. Nach einer Stunde machten wir uns auf den Rückweg. Noch vier Tage, dann fliegen wir wieder zurück in den hessischen Winter.

Am 2. Januar lagen wir, nach einem erfrischenden Bad im Meer, hauptsächlich unter dem Sonnenschirm und überlegten, wie wir Ibou, dieser Ausnahmejunge betreffend Wesen und Intelligenz, helfen könnten.

Am 3. Januar hat meine kommende Frau nur einen halben Satz im Tagebuch notiert, dessen Sinngehalt eine Frage provozierte: Wahl Mr Aldiana, Walter gewann.

Am 4. Januar trafen wir Ibou wie abgemacht an der Aldiana-Grenze. Wir wollten uns verabschieden und hatten ihm gebeten, uns seine Adresse zu geben, damit wir ihm schreiben können. Wir bekamen sie, er hatte sie auf die Rückseite seiner Zeichnung - die er für uns gemacht hat - geschrieben. Diese zeigt, auf einfachem Papier mit einer Kartonunterlage, den afrikanischen Kontinent mit einer runden Strohhütte, vor der das Jesuskind, Maria und Josef zu sehen sind. Sein Land (MON PAYS) hat er mit den Landesfarben (grün gelb rot) hervorgehoben.
Wie gewünscht bekamen wir auch die Adresse der Schule.
Wir gaben Ibou zum Abschied unser restliches Senegal-Geld und eine gefüllte Tasche mit Dingen aus unseren Koffern, für die er oder andere im Dorf vielleicht Verwendung hatten. Wir umarmten ihn, wünschten ihm alles Gute und versicherten ihm, dass wir schreiben werden. Ich glaube, wir hatten alle drei etwas feuchte Augen.

Der nächste Tag, 5. Januar, war unser Abreisetag. Aber wir hatten noch fast den ganzen Tag Urlaub. Um 18 Uhr sollte ein Bus uns nach Dakar bringen. Wir spielten noch drei Sätze Tennis, badeten und lagen unter dem Sonnenschirm. Um 16 Uhr war unser Gepäck gepackt. Dann hatten wir die Eingebung, ein letztes Mal an die "Grenze" zu gehen. Wir wollten unseren Augen nicht trauen: Ibou stand dort und winkte. Wir hatten uns gestern verabschiedet, er konnte doch gar nicht wissen, dass wir noch einmal den Spaziergang machen würden. In seinen Händen hatte er einige Schneckenhäuser, die man am Strand finden kann. Er gab sie uns. Welch ein Junge!

Es wurde ein langer Nachtflug.
Um 6 Uhr morgens, es war Sonntag, landeten wir in Frankfurt. Unser Auto stand noch da, wo wir es abgestellt hatten. Müde kamen wir in Königstein an. Es war kalt.
Früh am nächsten Tag begann der Alltag. Ich brachte Gullan zu ihrer Arbeit in Oberursel und fuhr weiter zu meiner in Erlangen.
Meine Lebenspartnerin fühlte sich bereits an diesem Tag nicht so ganz wohl, was sie mir aber verschwieg. Das Duschwasser in Aldiana, da "wo die Glücklichen leben" meldete sich bei ihr erst jetzt.
Am Abend bekam sie hohes Fieber und Durchfall. Die Nachbarin holte einen Arzt und anschließend das verordnete Medikament. Als ich am Freitag wieder zu meiner Lieben kam, war sie auf dem Weg zur Besserung. Gut zwei Kilo hatte meine zarte Schwedin in kurzer Zeit abgenommen.
**
Zurück daheim in deutscher Nässe
wir schickten Post an die Adresse,
die wir, mit deinem vollen Namen,
von dir an deinem Strand bekamen.
Auf Urlaubshaut wuchs wieder Blässe.

Wir schrieben hin und her ein Jahr,
doch leider wurd' es offenbar:
Das, was wir planten, ging nicht auf -
wir nahmen klagend es in Kauf.
Das "Projekt'"damit am Ende war.
---
Das alles ist jetzt lange her,
wohl vierzig Jahre, wenn nicht mehr.
Doch denken wir so manches Mal,
zurück an dich in Senegal.

Lieber Ibou, alter Freund,
du kamst uns irgendwie abhanden.
Mit deiner Klugheit, wie uns scheint,
hast du dein Leben gut durchstanden.

Und solltest du dies Schreiben lesen,
auf dem Foto dich erkennen,
schick uns ein Zeichen, sei so nett,
das ist heut leicht, dank Internet.
**

© Willi Grigor, 2020

Zugehöriges Gedicht:
literatpro.de/gedicht/190516/du-kamst-uns-irgendwie-abhanden

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Interne Verweise

Kommentare

30. Sep 2020

(D)Ein Text, der wieder fasziniert!
(Bloß Bertha Krause schien schockiert,
Dass man den Sekt so falsch serviert ...)

LG Axel

30. Sep 2020

Ich frag mich heut noch ab und an:
"War das ein Spaß von Neckermann?"

LG
Willi

01. Okt 2020

Ein spannend beschriebenes Stück deiner Lebensgeschichte umrahmt von Gedichten; Du lässt uns teilnehmen, danke dafür, ich habe es mir großem Interesse gelesen, lieber Willi -
und grüße Dich herzlich!

Marie

01. Okt 2020

Danke für den Kommentar, Marie.
Der Bericht kam zustande dank eines wiedergefundenen Tagebuchs meiner Frau.

Freundliche Grüße
Willi

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