Marlene - Page 3

Bild von Maik Kühn
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hinter einem Wasserfall befinden würde. Eine männliche Stimme, sie gewann zunehmend an Deutlichkeit und war dann aufeinander folgend aus mehreren Richtungen zu hören, dazwischen kurze Pausen.
„Nur du und ich … Allein an diesem Ort … Weglaufen kannst du nicht … Nur du und ich …“
Jaron kauerte derweil auf dem Boden des Würfels und hielt sich vergeblich beide Ohren zu.
„Lass mich in Ruhe!!!“
Statt einer Antwort, sprach jetzt eine Frauenstimme zu ihm, scheinbar aus seinem Inneren heraus.
„Lass ES los!!!“
„Marlene!? Hilf mir doch endlich, ich dreh sonst noch durch!!!“
Als glühende Naht fraß sich eine Linie mittig von einem Ende der Decke zum anderen. Er schaute hinauf, heilfroh, überhaupt wieder etwas sehen zu können. Jeweils zwei kürzere leuchtende Nähte hatten binnen Sekunden am linken und rechten Deckenrand entlang (von den beiden Enden der geraden Linie ausgehend) die oberen Ecken des Würfels erreicht. Das Gefängnis glich somit einem Paket mit angedeuteter Öffnung.
„Lass ES los!!!“
Seine geballten Fäuste schlugen wahllos auf den Boden ein, denn leider waren Marlenes Worte bereits durch die fremde Männerstimme verdrängt worden.
„Nur du und ich …“
Gesprochenes besteht bekannterweise aus einzelnen Tönen. In diesem Fall konnte man sich davon allerdings nicht nur mit den Ohren überzeugen, denn jeder Ton wurde sichtbar und leuchtete aus eigener Kraft in Form eines bernsteinfarbenen Tropfens. Das Ganze verklumpte jedoch schnell zu einem hässlichen Gebilde, das anschließend mit voller Kraft in Richtung Decke schoss. Durch die Wucht klappten dort oben beide angedeuteten Deckenhälften nach außen. Somit entstand eine Art Dach ohne Spitze und mit nicht vorhandenen Giebeln. Mindestens zwanzig Zentimeter dick schienen die Flächen des Würfelgefängnisses zu sein, vorausgesetzt, alle sechs Seiten waren gleich beschaffen. Von viel größerer Bedeutung sollte jedoch das einfallende Tageslicht sein, woran sich Jarons Augen nur allmählich gewöhnten. Hatte man ihn etwa so lange eingesperrt? Die gesamte Nacht hindurch bis zum fortgeschrittenen Samstagmorgen? Die Kellertheorie war jedenfalls definitiv widerlegt, denn ein offensichtlich kaum bewölkter blauer Himmel deutete sich über der Öffnung an.
Auf Zehenspitzen stehend legte er beide Handflächen auf das obere Wandende zu seiner Linken, wobei die Seitenwahl rein zufällig getroffen wurde. Mit vereinten Kräften zog sich Jaron hinauf in Richtung Freiheit, verweilte einen kurzen Moment am höchsten Punkt und wagte dann den Sprung ins Unbekannte.
Nahezu karg die ebenerdige Landschaft um ihn herum, weder Tiere noch Menschen. Steppenartige Vegetation in Rotbraun soweit das Auge reichte. Tatsächlich, es war ein nahezu makelloser sonniger Tag mit gefühlten Temperaturen um die 25 Grad Celsius. Lediglich eine Unterhose am Körper zu tragen schien jedoch nicht wirklich passend, aber erst einmal unumgänglich zu sein. Während der neugierigen Umrundung des tiefschwarzen Würfels schlichen sich derweil Gedanken an die Kaaba in Mekka ein.
„Wo bin ich hier bloß gelandet?“
Aufkommender Durst rückte schnell die Notwendigkeit nach entsprechender Linderung in den Vordergrund. Der Sonne entgegengesetzt, also mutmaßlich in Richtung Nordwest, führte daher sein zielloser Weg, getrieben von immer stärker werdender Unsicherheit.

Die ganze Situation ist doch wirklich absurd. Du wachst auf, gefangen in einem schwarzen Würfel und dieser wiederum steht irgendwo mitten im Nirgendwo. Du irrst fast völlig nackt umher, was mir aber jetzt ehrlich gesagt mehr oder weniger egal ist …
Da entsteht gerade ein Sonnenbrand. Kein Wunder, denn mein Rücken, vor allem im hinteren Schulterbereich, wird unaufhörlich gegrillt. Meinetwegen soll es doch geschehen, Hauptsache, ich finde möglichst bald Wasser. Ein Fluss wäre perfekt, aber schlammiges Nass täte es auch für den Anfang. Keine Spur mehr von dem Kubus. Möchte gerne mal wissen, wie viele Kilometer mittlerweile zwischen uns beiden liegen.
Meine Kehle ist nahezu ausgetrocknet. Falls man mich jetzt zum Sprechen nötigen würde, käme wohl nur noch Gekrächze heraus ... Dort in der Ferne spiegelt sich etwas … Nein, das habe ich mir wohl leider eingebildet …
„Nur du und ich!“
Niemand zu sehen, also sofort alle noch vorhandenen Energiereserven mobilisieren. Auch wenn ihr schmerzt, hier auf dem Steppenboden gibt es nun einmal mehr „Anstößiges“ zu entdecken als beispielsweise in der Wüste, aber dafür ist der Untergrund nicht ganz so heiß. Los, tragt mich schnell weg, so schnell ihr könnt!
„Gib auf!“
Toll, diese Strategie war ja so richtig zielführend. Noch größeres Fußleiden, erbärmlicher Durst und dank der Lauferei eine beschwerte Atmung, als ob mein Körper um mindestens 60 Jahre gealtert wäre. Jetzt zittert er auch noch, was allerdings nicht ausschließlich an der Erschöpfung liegen dürfte. Nein, ich werde dieser Stimme nicht antworten. Vielleicht erbarmt sie sich ja und lässt von mir ab. Eben im Würfel wäre doch die Chance gewesen mich in den Wahnsinn zu treiben. Stattdessen ein machtvolles Verschwinden ihrerseits und dabei öffnete sie mir sogar das Tor in die Freiheit. Freiheit?! Dieses Gefängnis ist mindestens genauso schlimm, nur deutlich größer.
„Lass ES los!“
Engelchen links, Teufelchen rechts, wenn es wenigstens so einfach wäre. Ja, Marlenes Worte sind wie ein gut gemeintes Mantra, aber die dazugehörige Person ebenfalls nicht sehen zu können nährt berechtigte Zweifel in mir, ob hier gerade wirklich jemand ist oder aber sich alles lediglich in meinem Kopf abspielt. Um es hoffentlich herauszufinden, halte ich mir die Ohren zu. Es funktioniert, denn nichts bis auf natürliches Rauschen bahnt sich dort im Inneren seinen Weg.
„Ups, bin ich wirklich nur in deinem Kopf oder vielleicht doch nicht?! Oder sowohl als auch?!“
„Lass ES los!“
Tränen statt Schreie leiten die Kapitulation ein. Ich bin am Ende, sacke hinunter zum staubigen Boden, drücke mein Gesicht in rotbraune Monotonie. Derweil fangen beide Hände an unkoordiniert zu graben. Ein letzter verzweifelter Versuch des Entkommens.

„Du suchst dort nicht ernsthaft nach Wasser, oder?!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, half er Jaron beim Aufrichten des Oberkörpers. Wer war dieser Fremde? Wo kam er so plötzlich her? Die Feldflasche an dem auffälligen Gürtel löste sich routiniert dank weniger Handgriffe und wurde ihres Verschlusses entledigt, um kurz darauf Flüssigkeit zu spenden.
„Danke!“
Erst jetzt fiel ihm das Pferd auf, wenige Meter von den beiden entfernt stehend. Xander, so hieß sein Retter, entnahm einer Satteltasche getrocknete Feigen.
„Iss und dann ziehen wir dir mal etwas an.“
Schnell wechselten die Früchte den Besitzer.
„Wer hat dich so erniedrigt?“
Klar, die jüngsten Ereignisse waren mit Sicherheit alles andere als plausibel, aber warum sollte er lügen? Betont konzentriert folgte sein Zuhörer den abenteuerlichen Worten, hatte allerdings dabei die eigene

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