das Fremde in mir

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mir tagträumte von fremden Lettern, die über altes Packpapier krochen, ihre goldenen Schleimspuren formten fremde Namen, die ihren Sinn in keckerndem Kichern verbargen, doch als der nachmitternächtliche Wintermond sein fahles schattenarmes

Scheinen auf das kryptisch beschriftete Papier fallen ließ, gaben sich die Buchstaben zu erkennen und erhoben sich zum Tanz, die eckigen mit den runden, die runden mit dem eckigen, und ich tanzte mit ihnen, barfuß und im Halbschlaf, mit geschlossenen

Augen im Gleichgewicht schwebend, einen unersättlich ungestillten Hunger habe ich auf Fremdes, fremde Name, die ihre Vokale verbergen, fremde Formen, fremde Laute, fremde Farben, fremde Menschen, ich will sie aus ihren Verstecken holen

und mich befreunden mit ihnen, das Fremde weckt meine Neugier, auch das Fremde in mir, ich mach’s mir zu eigen, benenne es neu, wenn du mich rufst, sag Magali zu mir, das ist fremd, das ist schön, dich, Tisch nenne ich стол, denn du siehst

russisch aus in deiner Robustheit, du Hängelampe heißt lamppu, weil du ein Geschenk bist meines finnischen Freundes, und meine Nase benennt sich nun auf chinesisch 鼻子, das spricht sich so aus, Bízi, und seit ich meinen Kater zärtlich auf türkisch

Akşamdan kalmalık rufe, will er öfter gestreichelt werden, mein Gang in die Stadt zu Fuß am sehr frühen Morgen im Dunkel, wenn die Glitzerläden noch stumm sind und die mir fremden Menschen schlafen, das ist meine Zeit, da bin ich ganz bei mir,

ich hör den Beton atmen und rede mit ihm, auch der Asphalt hebt und senkt sich um Millimeter, wenn ich mein Ohr darauf lege, alles hat sein Eigenleben, alles ist fremd und neu und will entdeckt und benannt werden, damit es seine Fremdheit verliert,

als ich wieder nach Hause reise im Dämmerlicht, komme ich in der U-Bahn zwischen zwei Frauen zu sitzen in schwarzen Hijabs, Xsemile und Hürrem nenne ich sie, weil es so fremd klingt und vertraut, wenn man es mehrmals sagt,

es sind die wandelbaren farbigen leichten Luftschlösser aus unbekannten umbenannten Wortgebilden der Liebe, die ich gemeinsam mir dir bauen und bewohnbar machen möchte, nicht die aus Stein, die unverrückbar sind und mir fremd bleiben

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Kommentare

04. Jan 2019

Tanzen Worte - im Gedicht -
Es direkt zum Leser spricht ...

LG Axel

05. Jan 2019

Worte, auf Papier gebannt, fremde Silben, unbenannt,
magisch sind sie, haben Macht, wollen tanzen in der Nacht …

LG und danke - Marie

04. Jan 2019

Ein wundervoller Text. Chapeau! Und danke für deine treuen Rückmeldungen zu meinen Gedichten.

04. Jan 2019

Mein Dank und Gruß geht an Dich zurück, liebe Angelika, und Deine Gedichte lese ich immer – mit besonderer Freude.

LG zu Dir - Marie

04. Jan 2019

Liebe Magali, dieser Text spricht mir aus der Seele und ist in jeder Hinsicht dermaßen hervorragend, dass mir die Worte fehlen ...

Ich kann Dir nur noch dafür danken - Deine Zeilen
werden mir heute nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Liebe Grüße,
Annelie

04. Jan 2019

Danke vielmals für Dein riesengroßes Lob, liebe Annelie, die Phantasie dreht manchmal Kapriolen, Magali ist ein Mädchenname aus der Provence, ein sehr guter französischer Freund hatte eine Tochter dieses Namens, vielleicht hat er deshalb für mich eine besondere Magie, lieb, dass Du mich grade so genannt hast, sei herzlich gegrüßt -

Marie

04. Jan 2019

Marie - so gar nicht fremd - so typisch und immer wieder neu verwoben - das nur unerkannt scheinende Fremde mit so weit und weichtragenden Marieworten nahe- hineingegeben aus dem Herzen in die Herzen - einfach grübelndschön-harmonische Gedanken zum Eingehen, Einlassen und Hineinfühlen ---
LG Yvonne

04. Jan 2019

Eine wunderbare Antwort mit yvonnischem Esprit und Charme, danke dafür und

LG zur Dir zurück - Marie

04. Jan 2019

Fremdes bleibt nur so lange fremd
Bis man hinschaut und es kennt

Sehr schöne, eindringliche Zeilen !

Lieben Gruß,
Ella

04. Jan 2019

Das stimmt, Ella, der Name, mit dem man gerufen wird, ist so wichtig und ent-fremdend, AT, Jesaya 43, „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen.“ Kann sein, dass mich diese Stelle unbewusst beeinflusst hat, wenn man sucht, findet man in der Bibel Texte, die durch ihre starke, archaische Sprache beeindrucken, selbst, wenn man nicht religiös orientiert ist ...
liebe Grüße - Marie

04. Jan 2019

Gedankenreich und anspruchsvoll kommt Dein Text daher, liebe Magali. Bin fasziniert vom Wesen des Fremden, das mir hier vielschichtig und voller Lebensfreude präsentiert wird. Eine Kaskade leuchtender Gedanken, die unsere Welt bereichern.
>es sind die wandelbaren farbigen leichten Luftschlösser aus unbekannten umbenannten Wortgebilden der Liebe,<
so Deine Beschreibung mit wunderschönen Worten. Dafür ein Dankeschön.

LG Monika

04. Jan 2019

Ein „Dankeschön“, das ich von Herzen erwidere - für Deine Worte der Anerkennung meiner luftigen Schlossgebilde, liebe Monika, lass es Dir gut gehen im kommenden Jahr; ich freue mich jetzt schon auf weitere Texte und Gedichte mit Tiefgang aus „Deiner Feder“, wie man früher sagte …

liebe Grüße zu Dir zurück - Marie

04. Jan 2019

Ein ganz besonderes Gedicht, liebe Marie, das viel Wärme ausstrahlt und Steine in den Hintergrund rückt …

Viele liebe Grüße
Soléa

05. Jan 2019

Steine in den Hintergrund rücken - klingt gut, danke, Soléa,

liebe Grüße - Marie

07. Jan 2019

Holpercomment:

Magali? Ist eher Ilagam,
kein Fremdes ist in ihr,
ich finde Kilogramm
an Phantasie in dir!

Was ich auch lese von Marie,
das ist niemalen etwas Fremdes,
steht nie für braches Feld,
sondern schönes Ungekämmtes!

Gar nichts Feines ist ihr fremd,
was sie jemals hat benannt,
es lebt in ihr toll ungehemmt,
bist unsern Herzen wohlbekannt!

Liebe Marie,
ein tolles Gedicht!
LG Uwe

Niemals fehlt ihr Fantasie,

25. Mai 2019

Die schönste aller Zuschriften, so wunderbar uwig, habe ich erst jetzt entdeckt … danke dafür!!!

Verspätete, sehr herzliche Grüße zu Dir -
Marie

25. Mai 2019

Deine eigne Schuld! Dein seltsames Geschreibsel fordert schließlich solche feinen Zuschriften heraus!
LG an die liebe Marie!
Uwe

(Heißt vielleicht auch, ich habe mich sehr über deine heutige Reaktion gefreut?)