Meine Muse

Bild von Johanna Ambrosius
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Lebte in den Tag hinein
Leidlos, freudlos heute;
Kannte selber mich nicht mehr,
War wie andre Leute.

Wie ich das empfunden hab‘
Und mich darüber gräme,
Gähnt gelangweilt gleich das Herz;
Wenn doch etwas käme.

Leise klopfte es. – „Herein,“
Rief ich fast beklommen.
„Ei, was seh‘ ich, Du mein Freund,
Schmerz, bist angekommen?“

„Ja, mein Kind,“ und leise streicht
Er mir meine Wangen,
„Sage mir, nach wem trägst Du
Denn solch groß Verlangen?“

„Meine Muse, die mich einst
Lieder lieb gelehret,
Ist seit langen Monden nicht
Bei mir eingekehret.

Doch nun bleibe Du bei mir,
Bin sonst ganz alleine,
Plauderten doch öfters schon
Beid‘ im Mondenscheine.“

Und er setzte sich zu mir,
Küsst‘ mich immer wieder,
Und ersten Kusse schon
Fand ich meine Lieder:

„Lass die Muse weiter gehn,
Wenn ich Dich nur habe!“
Heimlich hat bei sich gelacht
Da der ernste Knabe:

„Nimm zurück das schnelle Wort,
Deine Muse bin ich,
War Dir allezeit getreu.“ –
Und ich küsst‘ ihn innig.

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