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zuzog, der Unglücklichen einige Milde zuteil werden ließ. »Mein Engel,« sprach sie eines Tages, »ich fürchte, daß ich dir nicht genug Vertrauen einflöße, da du bereits von einem meiner Kameraden hintergangen worden bist. Ich schwöre dir aber, daß ich dich nicht täusche, und daß mein Mund die lauterste Wahrheit spricht. Man verlangt von mir in Lyon für einen Kaufmann ein junges Mädchen, seine Neigungen sind allerdings seltsam, aber er bezahlt sie dafür reichlich. Der Mann, von dem ich spreche, ist gottlos, er wird dich, während man die Messe vor ihm liest, bearbeiten, und zwar mit einer Hostie, während der messelesende Priester dich gleichfalls mit einer Hostie besteigen wird.« – »Wie furchtbar!« rief Justine aus. – »Ja, ich habe mir wohl gedacht, daß bei deinen Grundsätzen ein solcher Vorschlag Widerstand finden würde, aber ist es nicht besser, als hier zu bleiben?« – »Gewiß.« – »Nun denn, dann entscheide[392] dich.« – »Ich bin's bereits,« antwortete Justine mit ein wenig Gewissensbissen, »mache mit mir, was du willst.« Seraphine eilte nun zu Gaspard, hielt ihm vor, daß die Strafe Justines schon genug lang dauere und daß man die Truppe nicht länger der Dienste eines Mädchens berauben dürfe, daß Justine draußen mehr taugen würde wie im Innern der Erde. Die Gnade wurde gewährt. Man gab Justine noch gute Lehren und nach einem fünfmonatlichen Aufenthalt in dieser scheußlichen Höhle erhielt sie endlich die Erlaubnis, ihrer Beschützerin nach Lyon zu folgen. »Großer Gott,« rief Justine aus, als sie die Sonne wiedersah, »ein Werk der Barmherzigkeit, und ich werde durch fünf Monate lebend begraben; weil ich versprochen habe, ein Verbrechen zu begehen, löst man mir meine Ketten. O Vorsehung, erkläre mir doch deine unfaßbaren Wege, sonst müßte sich mein Herz aufbäumen.«
Unsere zwei Reisenden machten in einem Gasthaus halt, um zu frühstücken. Justine sprach kein Wort, dachte aber trotzdem immer an ihre Befreiung. »Madame,« rief sie aus und wandte sich an die Wirtin, eine ziemlich hübsche, gutmütige Frau, »oh, Madame, ich beschwöre Sie, mir Ihre Hilfe angedeihen zu lassen. Das Geschöpf, mit dem Sie mich sehen, zwingt mich, ein Haus aufzusuchen, in dem meine Ehre verletzt wird. Ich habe ihr das Versprechen gegeben, um einer Bande von Schuften zu entgehen, die mich gefangen hielten. Ich bitte Sie, ihr beizubringen, sie möge keine Ansprüche an mich stellen und dann behalten Sie mich bis morgen bei sich, damit ich meinen Weg für mich einschlagen kann.« »Verbrecherin,« rief Seraphine wütend aus, »bezahle mich wenigstens.« – »Ich schwöre beim Himmel, daß ich nichts schulde, zwingen Sie mich nicht, Seraphine, mich deutlicher auszudrücken.« Seraphine erschrak und verschwand fluchend. Justine verbrachte achtundvierzig Stunden bei der liebenswürdigen Wirtin und am Morgen des dritten Tages brach sie reich beschenkt auf, indem sie die Richtung nach Vienne einschlug, um darüber hinaus nach Grenoble zu gelangen.
Justine wanderte traurig vor sich hin, als sie in einem Feld rechts von ihrem Wege zwei Reiter sah, die einen Mann mit ihren Pferden zerstampften, um dann mit verhängten Zügeln davonzureiten. Dieses furchtbare Schauspiel rührte sie zu Tränen. »Ach!« sprach sie, »der Mann ist noch mehr zu beklagen als ich. Ich bin mindestens gesund und kräftig, aber wenn dieser Unglückliche nicht reich ist, was soll aus ihm werden?« So sehr auch Justine mit ihrem Mitleid Unglück gehabt hatte, sie konnte doch dem heftigen Wunsch nicht widerstehen, näher zu treten und dem Manne zu Hilfe zu eilen. Sie lief auf ihn zu, ließ ihn ein wenig Weingeist einatmen, zerriß dann ihr einziges Gepäckstück, ein Hemd, um das Blut des[393] Unglücklichen zu stillen, und schließlich sah sie ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt. Obwohl der Mann zu Fuß reiste und mäßig gut gekleidet war, schien er ihr doch ziemlich vornehm zu sein. Er besaß Ringe, eine Uhr, Dosen, die allerdings durch sein Abenteuer stark mitgenommen waren. »Wer ist,« sprach er, als er wieder zu sich gekommen war, »der Engel, der mir hilft? Und was kann ich tun, um ihm meine Dankbarkeit zu beweisen?« Die unschuldige Justine, die noch immer glaubte, daß man sich durch Wohltaten eine Seele verpflichten könne, begann nun ihre Unglücksfälle zu erzählen. Er hörte mit großem Interesse zu, und als sie mit ihrem letzten Abenteuer zu Ende war, rief der sonderbare Mensch aus: »Wie bin ich glücklich, mich für alles dankbar erweisen zu können was Sie mir angetan. Hören Sie, Fräulein, vielleicht bin ich in der Lage, Ihnen behilflich zu sein.«
»Man nennt mich Roland, ich besitze ein sehr schönes Schloß, das fünfzehn Meilen von hier in den Bergen liegt. Ich lade Sie ein, mir zu folgen, und damit dieser Vorschlag Ihr Zartgefühl nicht verletze, will ich Ihnen gleich mitteilen, wieso Sie mir nützlich sein können. Ich bin Junggeselle, habe aber eine Schwester, die ich leidenschaftlich liebe und die bei mir in der Einöde wohnt. Ich bedarf jemandes, der sie bedient. Diejenige, die bisher diesen Stelle innehatte, verloren wir und ich biete Ihnen nunmehr diesen Posten an.« – Unsere Heldin dankte vorerst ihrem Schützer und fragte ihn dann, wieso es käme, daß er ohne Bedienung reise, und warum er von den Spitzbuben so behandelt worden sei. »Ich habe seit einigen Jahren die Gewohnheit, so wie Sie mich hier sehen, nach Vienne zu reisen. Ich tue dies für meine Gesundheit und aus Ersparnis. Nicht daß ich arm wäre, im Gegenteil, aber Sparsamkeit schadet nie. Was die beiden Männer betrifft, die mich verletzten, so sind es zwei Kerle, denen ich vergangene Woche hundert Louis in Vienne abgewann. Sie gaben mir ihr Wort, mich zu bezahlen und da ich sie heute daran erinnerte, haben mich die Verbrecher derart zugerichtet.« Unsere teilnahmsvolle Reisende gab ihrem Bedauern nochmals Ausdruck, als Roland ihr vorschlug, aufzubrechen. »Dank Ihrer Sorgfalt fühle ich mich ein wenig besser und in zwei Meilen Entfernung liegt ein Haus, wo wir Pferde finden können.«
Justine war vollkommen entschlossen, die Hilfe, die ihr der Himmel bot, anzunehmen. Sie stützte Roland während des Gehens und tatsächlich langten beide nach einem Marsch von zwei Meilen bei einer Herberge an, in der sie ehrsam zusammen zu Abend aßen. Roland empfahl sie nachher der Wirtin und am nächsten Tage erreichten unsere Reisenden auf zwei