DER KETZER VON SOANA - Page 5

Bild von Gerhart Hauptmann
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Boden war
naß, weil am Tage vorher Regen, mit Schneeflocken untermischt,
gefallen war, wie denn der machtvolle Felsenabhang des Monte Generoso
unter Neuschnee, jenseits der Talschlucht, in seinem eigenen Schatten
mit unzugänglichen Schroffen aufragte und frische Schneeluft
herüberhauchte.

Der junge Priester ging mit niedergeschlagenen Augen an den
Wäscherinnen vorbei, deren lauten Gruß er durch Nicken erwiderte. Den
ihn umdrängenden Kindern ließ er, sie ältlich über die Brille
betrachtend, die Hand einen Augenblick, wo sie denn alle mit Eifer und
Hast ihre Lippen abwischten. Die Ortschaft, wie sie hinter dem Platz
begann, ward durch wenige enge Gassen gangbar gemacht. Aber selbst die
Hauptstraße konnte nur von kleinen Fuhrwerken und auch nur in ihrem
vorderen Teile benutzt werden. Nach dem Ausgang des Ortes zu verengte
sie sich und wurde noch überdies so steil, daß man höchstens noch mit
einem beladenen Maultier hindurch und hinan kommen konnte. An diesem
Sträßchen befand sich ein kleiner Kramladen und die schweizerische
Postagentur.

Der Postagent, der mit Francescos Vorgänger auf kameradschaftlichstem
Verkehrsfuß gestanden hatte, grüßte und ward von Francesco wieder
gegrüßt, aber doch nur so, daß zwischen dem Ernst des Geweihten und
der platten Freundlichkeit des Profanen der volle Abstand gewahrt
wurde. Nicht weit von der Post bog der Priester in ein erbärmliches
Seitengäßchen ein, das mit Treppen und Treppchen auf eine
halsbrecherische Weise, an geöffneten Ziegenställen und allen Arten
schmutziger, fensterloser, kellerartiger Höhlen vorüber, abwärts
stieg. Hühner gackerten, Katzen saßen auf morschen Galerien unter
Büscheln aufgehängter Maiskolben. Hie und da meckerte eine Ziege,
blökte ein Rind, das aus irgendeinem Grunde nicht mit auf die Weide
gezogen war.

Man konnte erstaunt sein, wenn man, aus dieser Umgebung kommend, durch
eine enge Pforte das Haus des Bürgermeisters betreten hatte und sich
in einer Flucht von kleinen, gewölbten Sälen befand, deren Decken von
Handwerkern, im Stile Tiepolos, figurenreich ausgemalt worden waren.
Hohe Fenster und Glastüren, mit langen, roten Gardinen geschmückt,
führten aus diesen sonnigen Räumen auf eine ebenso sonnige, freie
Terrasse hinaus, die von uraltem, kegelförmig geschnittenen Buchsbaum
und wundervollem Lorbeer geziert wurde. Wie überall, so auch hier,
vernahm man das schöne Rauschen des Wasserfalls und hatte jenseits die
wilde Bergwand sich gegenüber.

Der Sindaco, Sor Domenico, war ein gutgekleideter, in der Mitte der
vierziger Jahre stehender, ruhiger Mann, der vor kaum einem
Vierteljahre erst zum zweitenmal geheiratet hatte. Die schöne,
blühende, zweiundzwanzigjährige Frau, die Francesco in der blanken
Küche mit der Zubereitung des Frühstücks beschäftigt getroffen hatte,
geleitete ihn zu dem Gatten herein. Als jener die Erzählung des
Priesters, von dem Besuch, den er abends vorher empfangen hatte,
angehört und den Zettel gelesen hatte, der den Namen des Besuchers und
wilden Mannes in unbeholfenen Schriftzügen trug, ging ein Lächeln
durch seine Gesichtszüge. Dann, als er den jungen Sacerdote Platz zu
nehmen genötigt hatte, fing er, vollkommen sachlich, und ohne daß die
maskenhafte Gleichgültigkeit seiner Mienen jemals gestört wurde, die
gewünschte Auskunft über den mysteriösen Besucher, der tatsächlich
ein dem Pfarrer bisher verborgen gebliebener Bürger Soanas war, zu
geben an.

* * * * *

»Luchino Scarabota,« sagte der Sindaco -- es war der Name, den der
Besucher des Pfarrers auf den Zettel gekritzelt hatte! -- »ist ein
keineswegs armer Mann, aber schon seit Jahren machen seine häuslichen
Zustände mir und der ganzen Gemeinde Kopfschmerzen, und es ist nicht
eigentlich abzusehen, wo dies alles am Ende noch hinauslaufen soll. Er
gehört einer alten Familie an, und es ist sehr wahrscheinlich, daß er
etwas von dem Blut des berühmten Luchino Scarabota da Milano in sich
hat, der zwischen Vierzehn- und Fünfzehnhundert das Langhaus des Domes
unten in Como baute. Solche alte, berühmte Namen haben wir ja, wie Sie
wissen, Herr Pfarrer, manche in unserem kleinen Ort.«

Der Sindaco hatte die Glastüre geöffnet und den Pfarrer während des
Redens auf die Terrasse hinausgeführt, wo er ihm, mit der ein wenig
erhobenen Hand, in dem trichterförmigen, steilen Quellgebiete des
Wasserfalles einen jener, aus rohem Stein gemauerten Würfel wies, wie
sie die Bauern der Gegend bewohnen. Aber dieses, in großer Höhe, weit
über allen anderen hängende Anwesen unterschied sich von jenen nicht
nur durch seine vereinzelte, scheinbar unzugängliche Lage, sondern
auch durch Kleinheit und Ärmlichkeit.

»Sehen Sie, dort, wo ich mit dem Finger hinzeige, wohnt dieser
Scarabota,« sagte der Sindaco.

»Es nimmt mich wunder, Herr Pfarrer,« fuhr der Sprechende fort,
»daß Sie von jener Alpe und ihren Bewohnern noch nichts gehört
haben sollten. Die Leute geben weit und breit in der ganzen Gegend
seit einem Jahrzehnt und länger das widerwärtigste Ärgernis. Leider
kann man ihnen nicht beikommen. Man hat die Frau vor Gericht
gestellt, und sie hat behauptet, die sieben Kinder, die sie geboren
hat, stammten -- gibt es etwas Unsinnigeres? -- nicht von dem Manne,
mit dem sie lebt, sondern von sommerlichen Schweizer Touristen ab, die
an der Alpe vorüber müssen, wenn sie zum Generoso hinaufklettern.
Dabei ist die Vettel verlaust und schmutzstarrend und überdies
abschreckend häßlich, wie die Nacht.

Nein, es ist offenkundig, daß der Mann, der Sie gestern besucht hat
und mit dem sie lebt, Vater von ihren Kindern ist. Aber das ist der
Punkt: dieser Mensch ist zugleich ihr leiblicher Bruder.«

Der junge Priester verfärbte sich.

»Natürlich ist dies blutschänderische Paar von aller Welt gemieden
und in die Acht getan. In dieser Beziehung wird die vox populi selten
fehl gehen.« Mit dieser Erklärung setzte der Sindaco seine Erzählung
fort. »Sooft sich eines der Kinder etwa bei uns oder in Arogno oder in
Melano hat blicken lassen, ist es beinahe gesteinigt worden. Man hält
jede Kirche, soweit die Leute bekannt sind, für entweiht, wenn das
verruchte Geschwisterpaar sie betritt, und die beiden Verfemten haben
das, als sie den Versuch glaubten machen zu dürfen, auf eine so
furchtbare Weise zu fühlen bekommen, daß ihnen seit Jahren jede
Neigung zum Kirchenbesuch abhanden gekommen ist.

Und sollte man etwa gestatten«, fuhr der Sindaco fort, »daß solche
Kinder, solche verfluchte Kreaturen, die jedermanns Abscheu und Grauen
sind, hier unten in unsere Schule gehen und zwischen den Kindern guter
Christen in der Schulbank sitzen? Kann man uns zumuten, wir sollen
dulden, daß unsere ganze Ortschaft, Klein und Groß, durch diese
moralischen Schandprodukte, diese schlechten, räudigen Bestien
verpestet wird?«

Das bleiche Antlitz des Priesters Francesco verriet durch keine Miene,
inwieweit die Erzählung Sor Domenicos ihn berührt hatte. Er dankte und
ging mit dem gleichen würdigen Ernst im Ausdruck des ganzen Wesens,
mit dem er erschienen war, davon.

* * * *

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