DER KETZER VON SOANA - Page 6

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von Gerhart Hauptmann

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Francesco hatte bald nach der Unterredung mit dem Sindaco seinem
Bischof über den Fall Luchino Scarabota Bericht erstattet. Acht Tage
später war die Antwort des Bischofs in seiner Hand, die dem jungen
Geistlichen auftrug, sich von dem allgemeinen Stand der Verhältnisse
auf der sogenannten Alpe von Santa Croce persönlich zu unterrichten.
Der Bischof lobte dabei den geistlichen Eifer des jungen Manns und
bestätigte ihm, er habe wohl Ursach, sich dieser verirrten und
verfemten Seelen wegen in seinem Gewissen bedrängt zu fühlen und auf
ihre Errettung bedacht zu sein. Von den Segnungen und Tröstungen der
Mutterkirche dürfe man keinen noch so verirrten Sünder ausschließen.

Erst gegen Ende des Monats März erlaubten die Amtsgeschäfte und auch
die Schneeverhältnisse des Berges Generoso dem jungen Geistlichen von
Soana, mit einem Landmann als Führer, den Aufstieg zur Alpe von Santa
Croce anzutreten. Ostern stand vor der Tür, und trotzdem an der
Schroffwand des Bergriesen fortwährend mit dumpfem Donner Lawinen in
die Schlucht unterm Wasserfall niedergingen, hatte der Frühling
überall, wo die Sonne ungehindert zu wirken vermochte, mit voller
Kraft eingesetzt.

So wenig Francesco, unähnlich seinem Namensheiligen von Assisi,
Naturschwärmer war, konnte doch das zarte und saftige Sprießen, Grünen
und Blühen um ihn her nicht ohne Wirkung auf ihn bleiben. Ohne daß
sich der junge Mensch dessen deutlich bewußt werden brauchte, hatte er
die feine Gärung des Frühlings im Blut und genoß sein Teil von jenem
inneren Schwellen und Drängen der ganzen Natur, das himmlischen
Ursprungs und trotz wonnig-sinnlich-irdischen Auswirkens auch in allen
seinen erblühten Freuden himmlisch ist.

Die Kastanienbäume auf dem Platz, über den der Priester mit seinem
Begleiter zunächst wieder schreiten mußte, hatten aus braunen,
klebrigen Knospen zarte, grüne Händchen gestreckt. Die Kinder lärmten,
nicht minder die Sperlinge, die unterm Kirchdach und in unzähligen
Schlupflöchern der winkligen Ortschaft nisteten. Die ersten Schwalben
zogen ihre weiten Schleifen von Soana über den Abgrund der Schlucht,
wo sie scheinbar dicht vor dem phantastisch getürmten, unzugänglichen
Felsmassiv der Bergmauer abschwenkten. Dort oben auf Vorsprüngen oder
in Felslöchern, wo nie eines Menschen Fuß hingedrungen war, horsteten
Fischadler. Die großen, braunen Pärchen traten herrliche Fahrten an
und schwebten, nur um zu schweben, in stundenlangen Dauerflügen über
Bergspitzen, immer höher und höher kreisend, als wollten sie
majestätisch, selbstvergessen, in die befreite Unendlichkeit des
Raumes hinein.

Überall, nicht nur in der Luft, nicht nur in der braunen, aufgewühlten
oder mit Gras und Narzissen bekleideten Erde und allem, was sie durch
Halme und Stämme in Blätter und Blüten aufsteigen ließ, sondern auch in
den Menschen war das Festliche, und die braunen Gesichter der Bauern,
die auf den Terrassen zwischen den Reihen der Weinstöcke mit Hacke oder
gekrümmtem Messer arbeiteten, strahlten von Sonntäglichkeit: hatten doch
überdies die meisten von ihnen das sogenannte Osterlamm, eine junge
Ziege, bereits geschlachtet und mit zusammengebundenen Hinterläufen zu
Hause am Türpfosten aufgehängt.

Die Weiber, die ganz besonders zahlreich und laut mit ihren gefüllten
Wäschekörben um den überfließenden Sarkophag aus Marmor versammelt
waren, unterbrachen, als der Priester und sein Begleiter vorüberging,
ihre lärmende Heiterkeit. Auch am Ausgang des Dorfes standen
Wäscherinnen, wo unter einem kleinen Madonnenbild ein Wasserstrahl aus
dem Felsen drang und sich ebenfalls in einen antiken Sarkophag aus
Marmor ergoß. Beide Stücke, sowohl dieser Sarkophag, als jener, der
auf dem Platze stand, waren vor längerer Zeit aus einem Baumgarten
voll tausendjähriger Steineichen und Kastanien gehoben worden, wo sie
seit undenklicher Zeit, nur wenig aus dem Boden hervorragend, unter
Efeu und wildem Lorbeer versteckt, gestanden hatten.

Im Vorübergehen bekreuzte sich Francesco, ja, unterbrach das Schreiten
für einen Augenblick, um der lieblich mit Feldblumenopfern der Landleute
umstellten Madonetta über dem Sarkophag, mit einer Beugung des Knies zu
huldigen. Zum ersten Male sah er dies kleine, von Bienen umsummte,
liebliche Heiligtum, da er diesen oberen Teil der Ortschaft noch niemals
besucht hatte. War Soana mit seinem unteren Teil, mit seiner Kirche und
einigen mit grünen Läden geschmückten, hübschen Bürgerhäusern um den
terrassenartig untermauerten Kastanienplatz bürgerlich beinahe
wohlhabend und zeigte es dort in Gärten und Gärtchen blühende
Mandelbäumchen, Orangen, hohe Zypressen, kurz, eine mehr südliche
Vegetation, hier oben, einige hundert Schritte höher hinauf, war es nur
noch ein alpines, ärmliches Hirtendorf, das nach Ziegen und Kuhstall
duftete. Auch setzte hier ein mit Wackersteinen gepflasterter, äußerst
steiler Bergweg ein, der durch täglichen morgendlichen Auszug und
abendlichen Einzug der großen Gemeinde-Ziegenherde geglättet war; denn
er führte hinauf und hinaus zur Gemeindealm in das kesselförmige
Quellgebiet des Flüßchens Savaglia, das weiter unten den herrlichen
Wasserfall von Soana bildet und nach kurzem, rauschenden Lauf durch
tiefe Schlucht im See von Lugano untergeht.

Nachdem der Priester, immer geführt von seinem Begleiter, eine kurze
Weile auf diesem Bergweg hinan geklettert war, stand er still, um
aufzuatmen. Den großen, schwarzen, tellerartigen Hut mit der Linken
vom Kopfe nehmend, hatte er mit der Rechten ein großes, buntes
Taschentuch aus der Soutane gezogen, womit er die Schweißperlen von
seiner Stirn tupfte. Im allgemeinen ist der Natursinn, der Sinn eines
italienischen Priesters für die Schönheit der Landschaft, nicht
sonderlich. Aber der Weitblick von großer Höhe und aus der sogenannten
Vogelperspektive, wie man es nennt, ist doch ein Reiz, der auch den
naivsten Menschen mitunter trifft und ihm ein gewisses Staunen
abnötigt. Francesco erblickte seine Kirche mitsamt der dazugehörigen
Ortschaft bereits nur noch als ein Miniaturbild tief unter sich,
während rings um ihn her die gewaltige Bergwelt, wie es schien, immer
höher gen Himmel ragte. In das Gefühl des Frühjahrs mischte sich jetzt
das Gefühl des Erhabenen, das vielleicht aus einem Vergleich der
eigenen Kleinheit mit den erdrückend gewaltigen Werken der Natur und
ihrer drohenden, stummen Nähe entstehen mag und das mit einem halben
Bewußtsein davon verbunden ist, daß wir doch auch an dieser Übermacht
auf irgendeine Weise teilhaben. Kurz, Francesco fühlte sich
erhaben-groß und winzig-klein in ein und demselben Augenblick, und
dies gab den Anlaß, mit gewohnter Bewegung auf Stirn und Brust das vor
Irrungen und Dämonen schützende Kreuz zu schlagen.

Im Weitersteigen hatten bald wieder religiöse Fragen und
praktisch-kirchliche Angelegenheiten seines Sprengels von dem
jugendlich eifrigen Klerikus Besitz ergriffen. Und als er wiederum
diesmal am Eingang eines felsigen Hochtals stille stand und sich
umwandte, hatte ihn der Anblick eines arg verwahrlosten, hier für die
Hirten errichteten, gemauerten Heiligenschreins auf den Gedanken
gebracht, alle vorhandenen Heiligtümer seines Kirchspiels, und wenn
sie noch so entlegen waren, aufzusuchen und in einen gotteswürdigen
Stand zu setzen. Er ließ sogleich seine Augen umherschweifen und
suchte den die vorhandenen Kultstätten womöglich umfassenden
Überblick.

Er nahm seine eigene Kirche mit dem daran geklebten Pfarrhaus zum
Ausgangspunkt. Sie stand, wie gesagt, auf der Ebene des Dorfplatzes
und ihre Außenmauern setzten sich in steilen Wänden des Grundfelsens
fort, an dem ein munterer Gebirgsbach unten vorüberrauschte. Dieser
Gebirgsbach, unter dem Platz von Soana hindurchgeführt, trat in einem
gemauerten Bogen ans Licht, wo er,

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