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langgelockte, bärtige Wirt dem Besucher
herzlich in die Augen, dabei hatte er seine Rechte gefaßt, als wollte
er ihm eine Zuneigung andeuten.
Wer weiß, was alles bei dieser ersten Bewirtung gesprochen wurde.
Nur einiges blieb erinnerlich. Der Berghirt wünschte Ludovico genannt
zu sein. Er erzählte manches von Argentinien. Einmal, als das Gebimmel
der Angelusglocken aus den Tiefen drang, machte er eine Bemerkung über
dieses »allfällig aufreizende Getön«. Einmal fiel der Name Seneca. Es
wurde auch etwas obenhin von Schweizer Politik gesprochen. Endlich
wünschte der Sonderling manches von Deutschland zu wissen, weil es des
Besuchenden Heimat war. Er sagte, als für diesen, nach vorgefaßtem
Beschluß, die Zeit des Abschieds kam: »Sie werden mir immer willkommen
sein.«
* * * * *
Obgleich, wie er nicht verbergen will, der Herausgeber dieser Blätter
nach der Geschichte dieses Menschen lüstern war, vermied er es auch
bei neuen Besuchen, irgendein Interesse dafür zu verraten. Man hatte
ihm einige äußere Tatsachen mitgeteilt, bei gelegentlichen Gesprächen,
die er in Soana geführt hatte, Tatsachen, die daran schuld sein
sollten, daß Ludovico zum »Ketzer von Soana« ernannt wurde: ihm
dagegen lag weit mehr daran, herauszubringen, in welchem Sinne man mit
dieser Bezeichnung recht hatte und in welchen eigentümlichen inneren
Schicksalen, welcher besonderen Philosophie die Lebensform Ludovicos
wurzele. Er hielt jedoch mit Fragen zurück und ist dafür auch
reichlich belohnt worden.
Er traf Ludovico meistens allein, entweder unter den Tieren der Herde
oder in seiner Klause. Einige Male fand er ihn, als er, wie Robinson,
eigenhändig die Ziegen molk. Oder er legte einer widerspenstigen
Mutter die Zicklein an. Dann schien er ganz im Berufe eines Sennhirten
aufzugehen: er freute sich der Ziege, die das strotzende Euter am
Boden schleppte, des Bockes, wenn er hitzig und fleißig war. Von einem
sagte er: »Sieht er nicht wie der Böse selber aus? Sehen Sie doch
seine Augen. Welche Kraft, welches Funkeln in Zorn, Wut,
Boshaftigkeit. Und dabei welches heilige Feuer.« Dem Autor aber kam es
vor, als ob in den Augen des Sprechers dieselbe Höllenflamme vorhanden
wäre, die er ein »heiliges Feuer« genannt hatte. Sein Lächeln bekam
einen starren und grimmigen Zug, er zeigte die weißen, prächtigen
Zähne und geriet dabei in einen Zustand von Versonnenheit, wenn er
einen seiner dämonischen Matadore mit dem Blicke des Fachmanns bei
seiner nützlichen Arbeit beobachtete.
Manchmal spielte der »Ketzer« die Panflöte, und der Besucher vernahm
ihre einfachen Tonreihen schon bei der Annäherung. Bei einer solchen
Gelegenheit kam natürlich das Gespräch auf Musik, und der Hirt
entwickelte seltsame Ansichten. Niemals, wenn er inmitten der Herde
war, sprach Ludovico von etwas anderem, als von den Tieren und ihren
Gewohnheiten, vom Hirtenberuf und seinen Gepflogenheiten. Nicht selten
ging er der Psychologie der Tiere, der Lebensweise der Hirten nach bis
in tiefste Vergangenheit, so ein gelehrtes Wissen von nicht
gewöhnlichem Umfang verratend. Er sprach von Apoll, wie dieser bei
Laomedon und Admetos die Herden besorgte, ein Knecht und ein Hirte
war. »Ich möchte wohl wissen, mit welchem Instrument er damals seinen
Herden Musik machte.« Und als wenn er von etwas Wirklichem spräche,
schloß er: »Bei Gott, ich hätte ihm gerne zugehört.« Das waren die
Augenblicke, in denen der zottige Anachoret vielleicht den Eindruck
erwecken konnte, als wären seine Verstandeskräfte nicht eben ganz
lückenlos. Andrerseits erfuhr der Gedanke eine gewisse Rechtfertigung,
als er bewies, wie vielfältig eine Herde durch Musik zu beeinflussen
und zu leiten sei. Mit einem Ton jagte er sie empor, mit anderen
brachte er sie zur Ruhe. Mit Tönen holte er sie aus der Ferne, mit
Tönen bewog er die Tiere, sich zu zerstreuen oder, an seine Fersen
geheftet, hinter ihm drein zu ziehen.
Es kamen auch Besuche vor, bei denen fast nichts geredet wurde. Einst,
als die drückende Hitze eines Juninachmittags bis auf die Almen des
Generoso gestiegen war, befand sich Ludovico, von seinen lagernden,
wiederkauenden Herden umgeben, ebenfalls liegend, in einem Zustand
seliger Dämmerung. Er blinzelte nur den Besucher an und veranlaßte ihn
durch einen Wink, sich ebenfalls ins Gras zu strecken. Er sagte dann
unvermittelt, nachdem dies geschehen war und beide eine Weile
schweigend gelagert hatten, in schleppendem Tone etwa dies:
»Sie wissen, daß Eros älter als Kronos und auch mächtiger ist. -- Fühlen
Sie diese schweigende Glut um uns? Eros! -- Hören Sie, wie die
Grille feilt? Eros!« -- In diesem Augenblick jagten einander zwei
Eidechsen und huschten blitzschnell über den Liegenden weg. Er
wiederholte: »Eros! Eros!« -- Und als ob er das Kommando dazu gegeben
hätte, erhoben sich jetzt zwei starke Böcke und griffen einander mit
den gewundenen Hörnern an. Er ließ sie gewähren, obgleich der Kampf
immer hitziger wurde. Das Klappern der Stöße erklang immer lauter und
ihre Zahl nahm immer zu. Und wieder sagte er: »Eros! Eros!«
Und nun drangen an das Ohr des Besuchers zum erstenmal Worte, die ihn
ganz besonders aufhorchen ließen, weil sie einigermaßen über die Frage
Licht verbreiteten oder wenigstens zu verbreiten schienen, warum
Ludovico im Volksmund »der Ketzer« hieß. »Lieber,« sagte er, »will ich
einen lebendigen Bock oder einen lebendigen Stier, als einen Gehängten
am Galgen anbeten. Ich lebe nicht in der Zeit, die das tut. Ich hasse,
ich verachte sie. Jupiter Ammon wurde mit Widderhörnern dargestellt.
Pan hat Bocksbeine, Bacchus hat Stierhörner. Ich meine den Bacchus
Tauriformis oder Tauricornis der Römer. Mithra, der Sonnengott, wird
als Stier dargestellt. Alle Völker verehrten den Stier, den Bock, den
Widder und vergossen im Opfer sein heiliges Blut. Dazu sage ich:
ja! -- denn die zeugende Macht ist die höchste Macht, die zeugende Macht
ist die schaffende Macht, Zeugen und Schaffen ist das Gleiche.
Freilich, der Kultus dieser Macht ist kein kühles Geplärr von Mönchen
und Nonnen. Ich habe einmal von Sita, dem Weibe Vichnus, geträumt, die
unter dem Namen Rama ein Mensch wurde. Die Priester starben in ihren
Umarmungen. Ich habe da vorübergehend etwas von allerlei Mysterien
gewußt: dem Mysterium der schwarzen Zeugung im grünen Gras, von dem
der perlmuttfarbenen Wollust, der Entzückungen und Betäubungen, vom
Geheimnis der gelben Maiskörner, aller Früchte, aller Schwellungen,
aller Farben überhaupt. Ich hätte brüllen können im Wahnsinn des
Schmerzes, als ich der unbarmherzigen, allmächtigen Sita ansichtig
wurde. Ich glaubte zu sterben vor Begier.«
Während dieser Eröffnung kam sich der Schreiber dieser Zeilen wie ein
unfreiwilliger Horcher vor. Er stand auf, mit einigen Worten, die
glauben machen sollten, daß er das Selbstgespräch nicht gehört habe,
sondern mit seinen Gedanken bei anderen Dingen gewesen sei. Danach
wollte er sich verabschieden. Ludovico ließ es nicht zu. Und so begann
denn auf der Bergterrasse abermals eine Gasterei, deren Verlauf aber
diesmal bedeutsam