Gefährlicher Sommer (Teil 25; Text 1) - Page 3

Bild von Annelie Kelch
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mächtig voran, mit Riesenschritten, wie mir schien, und mir wurde klar, dass ich mich sputen musste, wenn ich mein Ferienziel erreichen wollte.
„Stell dir vor, die Viecher trügen alle Glöckchen um den Hals - wie auf der Alp – ein wahrer Alptraum“, kicherte Hannes in mein hitzetaubes Ohr.
Heiner schob seinen Hut in den Nacken und ich sah, dass sein rotbraunes, schweißnasses Haar an den Schläfen klebte. Er öffnete das aus Kiefern­stämmen gezimmerte Gatter, das die Koppeln vom Feldweg trennte, und brummte: „Mensch, das waren vielleicht finstere Zeiten, Kinder, als ich bei dieser Töte-mich-Hitze im Unter­stand draußen auf dem Feld die übellaunischenViecher mit der Hand melken musste und mir auf dem Rückweg das Halsjoch wie ein Peitschenstrang in das Schulterfleisch schnürte. Riesige Blechkannen, bis zum Rand voll mit Milch und schwer wie Blei, wie ihr euch denken könnt. Verdammich nochmal ...“
„Du solltest dir wirklich einen neuen Hund an­schaffen, Heiner, einen Kuhbän­diger, so'n pfiffigen kleinen Kläffer, der das Eutervieh in Schach hält und ihnen Beine macht oder vielleicht eine Frau. Weshalb hast du eigentlich keine Frau, Heiner?“, erkundigte sich Hannes, neu­gierig wie Bolle.
„Na, weil keine einen armen Knecht wie mich will“, gab Heiner grinsend Auskunft. „Und nur für die Kühe ...? Nee, da wäre mir ein Kater schon lieber.“

„Ich weiß beim besten Willen nicht, wo wir noch suchen sollen. Überall und nir­gends ist mir zu vage. Es gibt unzählige Verstecke auf dem Gut. Und erst im Wald ...“, raunte Hannes mir ins Ohr.
„Das schlaue Füchslein hätte ruhig seine Leute mitbringen können. Weshalb immer wir? Und überhaupt: Sollen wir etwa zu zweit das ganze Gut absuchen? Kommt überhaupt nicht in Frage!“
Er stolperte über einen trockenen Kuhfladen und fluchte: „Dieser verdammte Kuhmist. Wie angenehm ist doch dagegen Vogelscheiße!“
Was sollte das nun wieder! Ich konnte mich weder für Kuhscheiße noch für Vogelkot erwärmen, schon gar nicht für flüssigen Vogelkot.
„Aber dieser Rinderdung, was der alles zum Wachsen bringt“, wandte ich zur Ehrenrettung der armen Tiere ein.
„Hmh“, machte Hannes.
Ich lächelte ihn an und konnte mir die ironische Frage nicht verkneifen, ob er denn lieber die angenehmeren Dinge erledigte, wie Briefe diktieren, Briefe schreiben, Erpresser-Briefe kleben, Telefongespräche mit ahnungslosen Zeugen arrangieren und so weiter. Hannes ging natürlich nicht darauf ein. Meine Worte rauschten durch seinen Gehörgang wie ein Sturmableger, der mal kurz übers Land fegt.
„Lass uns ,Onkel' Fuchs aufsuchen und ihm alles beichten“, sagte er und setzte eine Miene auf, die mich an Konnys berühmten Namensvetter er­innerte, genauer gesagt, an dessen unfassbare Kapitulation vor dem Mauerbau.
„Nicht ein einziges Mal habe sich ,der Alte' in Berlin blicken lassen, während der ,antifa­schistische (Ph!) Schutzwall' unter den Augen scharfer Be­wacher durch die wie unter Narkose liegende Stadt gezogen wurde. Vorher verbarrikadierten bewaffnete Truppen die Grenzen nach Westberlin mit Stacheldraht und setzten sämtliche S- und U-Bahn-Verbindungen außer Be­trieb“, hatte sich Herr An­dresen, unser Geschichtslehrer, in einer der letzten Stunden vor den Ferien em­pört. Auf dem Foto, dass er durch die Bänke schickte, sprang ein ostdeutscher Grenzposten über einen Stacheldrahtverhau in den Westsektor. „Flucht in letzter Minute“ stand unter dieser Aufnahme und „ … dass die Mauer ein Mahnmal sei, um die Wiedervereinigung nicht zu vergessen“, soll das hochbetagte Staatsoberhaupt am 22. August 1961 während seines reichlich verspäteten Besuchs in der Hauptstadt unter anderem getönt haben.
„Anstatt die Amerikaner zu veranlassen, energisch dagegen ein­zuschreiten“, brachte es Herr Andresen wütend auf den Punkt und schickte uns in die wohlverdiente Pause.
„Die Flinte kurz vorm Ziel ins Korn werfen? Kommt überhaupt nicht in Frage, Hannes. Äußerstenfalls und auch erst dann, wenn die Übergabe des Geldes scheitern sollte. Keine Sekunde früher“, beharrte ich stur auf unserem Plan. „Wir brauchen Beweise, verstehst du?! Die Polizei will Beweise!“
„Und die Klamotten im Kuhstall? Was ist eigentlich damit?“, maulte Hannes.
„... haben nicht das Geringste mit dem Mord an Knut zu tun!“, gab ich zur Ant­wort.
„Doch, indirekt schon. Indirekt hat doch alles damit zu tun.“ Hannes ging mir allmählich auf die Nerven. Er trotzte herum wie ein Kleinkind.
Nachdem ich einige Minuten über seine Worte nachgedacht hatte, sagte ich: „Vielleicht hast du Recht. Weil man nämlich keinen Schlusstrich ziehen kann. Wenn man nicht weiß, weshalb und durch wessen Hand jemand zu Tode ge­kommen ist, der ein guter Freund gewesen war und zu dem man Vertrauen hatte, dann findet man keine echte Ruhe mehr. Vielleicht sollten wir Herrn Fuchs doch alles erzählen. Heute noch! Auf der Stelle! Mir ist manchmal zu­mute, als sei die Welt auf Hof Lachau völlig aus den Fugen geraten. Ich habe immer ein ganz beklemmendes, ödes Gefühl im Herzen, wenn ich an Knut denke, und hier, auf dem Gut, denke ich besonders oft an ihn. Ich vermisse ihn unendlich, fast ebenso sehr wie Christine.“
Der mächtige Kloß, der mir in den Hals gekrochen war und mir die Kehle zuschnürte, setzte mich sekundenlang außer Gefecht. Er ließ sich einfach nicht hinunterschlucken. Ich fragte mich unentwegt, ob Knut hatte leiden müssen oder ob er auf der Stelle tot war. Ich kämpfte gegen eine Flut von Erinnerungen.
Hannes schwieg und das war gut so. Nicht auszudenken, wenn er etwas ähnlich Banales wie „... aber jetzt ist mein Vater ja hier“ von sich gegeben hätte. Außerdem war mir das mittlerweile zur Genüge bekannt. Statt dessen sagte er nach einer Weile: „Nein, du hast recht, Katja. Wir sollten die Sache genau so durchziehen, wie wir sie uns vorgestellt haben. Lass uns noch bis Sonntagabend warten, selbst auf die Gefahr hin, dass es gefährlich werden könnte.“
Wir bildeten das Schlusslicht der Herde, die den Feldweg mit dampfender Kuhkacke düngte, und schlenderten hinter den alles andere als in Reih und Glied stampfenden Tieren her, die Hannes neulich respektlos als „Spinatscheißer“ bezeichnet hatte, die in vierundzwanzig Stunden mindestens zwölfmal kackten, als gäbe es nichts Wichtigers im Leben. Konny reagierte auf diese Be­leidigung äußerst empört. „Diese armen Kreaturen“, belehrte er seinen unver­schämten Vetter, „haben mit ihrer nahrhaften Milch dazu beigetragen, dass du genau so groß und stark geworden bist, wie du dir vorkommst, was ich ihnen allerdings zeitweilig sehr übel nehme, also ...“
Hannes hatte sich geschmeichelt gefühlt und gelächelt und Konny besänftigend auf die Schulter geklopft. Er schien den leichten Spott in dessen Worten gar nicht bemerkt zu haben. Kora warf mir einen vielsagen­den Blick zu und grinste vergnügt.
Nachdem Heiner seine korpulenten Damen mit deftigen Flüchen und ein paar zärtlichen Hieben in den Stall getrieben hatte und mit Hannes darin verschwun­den war – Hannes hatte auf das milchpralle Euter einer vor uns her trottenden Braun-Weißen gezeigt und gemeint, er wolle unbedingt dazu beitragen, den drallen Mädels Erleichterung zu verschaffen – beschloss ich, erstmal einen Blick in die Laube zu werfen, um die Lage zu peilen. Die Laube von Oma und Opa diente im Sommer als Treffpunkt für wichtige Konferenzen, in denen nicht nur die An­schaffungen von komplizierten Arbeitsgeräten wie Kartoffelsortier- und Verlese­maschinen oder Trommel-Häckselgeräten debattiert, sondern auch die neuesten Futtermittel-Verordnungen und Eutergesundheitsprobleme besprochen wurden. Opa liebte diese Diskussionen heiß und innig, während Oma jedes Mal ins Haus eilte, als stürbe andernfalls ihre Nähmaschine vor Langeweile.
Die Laube war leer, der Hof wirkte dermaßen öd und verlassen, als habe die Welt kurzerhand beschlossen, zum Stillstand zu kommen, und das Herrenhaus lag verträumt und verwunschen wie im seligen Dornröschenschlaf vor mir, weshalb mir ziemlich unheimlich zumute wurde. Diese tiefe, anhaltende Stille, die sich über Hof Lachau gesenkt hatte, bedrückte mich sehr. Es war diesmal eine unbehagliche, trostlose Art von Stille. Hoffentlich ist das nicht die sprichwörtliche Ruhe vor dem großen Sturm, dachte ich. Was würde geschehen, wenn sich überhaupt niemand mehr auf dem Gut befand, wenn dort niemand mehr lebte, wenn außer Helge alle geflüchtet waren, liebe Christine?
Ich starrte zum Kuhstall hinüber. Am liebsten hätte ich Heiner und Hannes meine Hilfe angeboten. Selbst der Kuhstall machte von weitem den Eindruck, als sei das gesamte Vieh ausgestorben.
Weshalb ich statt dessen beschloss, meine Kammer aufzusuchen, ohne mich vorher in Omas guter Stube blicken zu lassen, ist mir unerklärlich. Fest steht, dass ich wie in Trance die knarrenden Stufen der Wendeltreppe er­klomm. Bereits beim ersten Schritt, den ich auf den langen schmalen Flur, der eigentlich immer im Dämmer lag, gesetzt hatte, sagte mir ein untrügliches Ge­fühl, dass irgendetwas im Busch war – trotz des schweren, beunruhigenden Dufts von süßen Pfannkuchen, der von der Küche heraufzog und meinen hungrigen Magen reizte. Eine Tür fiel plötzlich ins Schloss, und als ich nur noch wenige Schritte von meinem Zimmer entfernt war, drang ein vertrautes, knarrendes Geräusch an mein Ohr. Es hörte sich an, als öffnete jemand behutsam die Tür des in meiner Kammer deponierten Kleiderschranks. Falls sich Mutti oder Herr Fuchs nicht verirrt hatten und bei mir herum­schnüffelten, dann musste es Helge sein, der dort auf mich lauerte. Diesem Mysterium würde ich binnen weniger Minuten auf die Spur kommen. Nichts war leichter nachzuprüfen!
„Hallo Katja“, begrüßte mich Kröger. (Seit wann nannte der mich wieder beim Vornamen?) „Sieht man sich auch mal wieder?“
Er stürmte wie immer mit kräftigen Schritten die Treppe hinauf und nahm dabei zwei Stufen auf einmal, wobei sein rechter Arm das
hölzerne Geländer emporglitt. „Kommissar Fuchs möchte dich sprechen“, sagte er atemlos, als wir auf gleicher Höhe waren.
„Der Gute sitzt mit Frau Brandner im Herrenzimmer.“ Ich blickte sekundenlang aus nächster Nähe nicht nur in sein braunes, kantiges Gesicht, sondern geradewegs in seine funkelnden Augen, die von einem Netz aus Fältchen umgeben waren. Mein Blick trat sofort die Flucht ins Erdgeschoss an, währenddessen er mich anstrahlte, als sei ich eine reiche Partie aus dem Land­adel, die nichts anderes im Sinn habe, als ihn zum Junker zu machen. Seine Stimme klang merkwürdig heiser. – Jungen Mädchen den Kopf verdrehen und mit verheirateten Frauen (Mutti) und Witwen (die Gnädigste) flirten, dachte ich missmutig. Dem ist auch wirklich nichts heilig.
Mich packte mit einem Mal ein riesiges Sehnsuchtsgefühl nach Knut, meinem guten alten Kumpel, mit dem man Pferde stehlen konnte, und
der die Geflügelställe ganz allein auszumisten pflegte.
„Danke“, stieß ich eine Spur zu schnippisch hervor, sauste in die Küche, ließ die verdutzte Leni unbeachtet im Kochtopf rühren, und preschte über den Vo­raum auf den Hinterhof ins Freie. Dort stellte ich mich auf Zehenspitzen vor die rückseitige Hausmauer und spähte in Omas Wohnzimmer. Mutti saß am runden Tisch und verschwendete ihr geistiges Potenzial, das sich bisher als nicht gerade üppig erwiesen hatte, an ein ganz offensichtlich banales Kreuzworträtsel, während Oma und Opa einträchtig wie selten nebeneinander auf dem Sofa saßen und sich die „Lübecker Nachrichten“ teilten. Ein verirrtes, ferkelrosafarbenes Blütenblatt klebte am Fenster, und ich wunderte mich, dass Oma es gewähren ließ, anstatt ihm mit dem Putzlappen den Garaus zu machen.
Es musste Helge sein, der sich in meiner Kammer versteckt hielt; denn Hannes, der noch als Einziger in Frage kam, melkte die drallen Mädels mit den rosafarbenen Eutern. Es gab sicher keinen besseren Zeitpunkt, als endlich mit der Wahrheit rauszurücken. Ich hätte Herrn Fuchs in mein Zimmer schicken können. Er wäre mit Helge im Handumdrehen fertig geworden. Dieser Kommissar, der aufgrund eines anonymen Briefes unverzüglich hier auftauchte, war ein Knüller. Dabei gab es doch genügend andere – und noch dazu brandneue – ungeklärte Fälle im Lübecker Raum. Erst vorgestern las uns Opa am Frühstückstisch von einem Blitzeinbruch in ein Juweliergeschäft vor. Die Täter waren nachts mit Vollgas durch das Schaufenster gerast, hatten in Se­kundenschnelle die Auslagen geraubt und mit der wertvollen Beute die Flucht ergriffen. Das konnten wir dem Kommissar nicht bieten. Uns, Hannes und mir, hing „nur“ ein unaufgeklärter Mord an einem alten Gutsinspektor „an der Backe“, der vor fast einem Jahr geschehen war.

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Kommentare

08. Dez 2017

Die kleine Wild-West-Tour gut gefällt!
Auch die Collage ist fein erstellt!

LG Axel

08. Dez 2017

Dank, lieber Axel, dir, für deinen Kommentar.
Es soll ja immer noch Menschen geben, für die
der Wilde Westen das reinste Paradies gar war.

LG Annelie

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