Fortsetzung und Beendigung von Franz Kafkas Romanfragment "Amerika" - Page 2

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unwesentlich älter als Giacomo, tatsächlich dachte: Die unbeschwerte Jugend, so unbekümmert, so gedankenlos frei und wild. Dich wird man auch noch zu zähmen wissen. Eigene, sehr trübe Erinnerungen türmten sich in seinem Hirne auf.

Karl Roßmann ließ die letzten Tage Revue passieren: „Sie sind angenommen!“ Das hatte er erst 3 mal in seinem Leben gehört: Zunächst als 16jähriger Liftjunge im Hotel Occidental, dann als persönlicher Diener der Sängerin Brunelda, und schließlich noch vom Personalchef der 10. Werbetruppe des Theaters von Oklahoma, der auch im Waggon saß, ganz vorne. Er residierte dort, umgeben von seinem Stab. Auch Karls alte Freundin Fanny saß vorn bei ihm.

Aller Papiere beraubt, hatte Karl sich ihm als „Negro“ vorgestellt. Und hatte selbst nicht die geringste Erklärung dafür, warum er dies getan und zudem noch, welchen Zweck er damit verfolgt hatte. Es konnte ihm doch nur späteren Verdruss bereiten. Wie der Personalchef schon sagte: „Wir können diese Angelegenheiten hernach alle prüfen.“ Diese spätere Prüfung würde doch ergeben, dass er nicht jener Herr Negro, sondern Roßmann ist. Karl Roßmann. Ohne jede Not gelogen zu haben, dies zwickte das Gewissen des jetzt fast 22jährigen sehr. Sicher, er hatte auch schon Polizisten belogen, war sogar von ihnen verfolgt worden. Sehr oft hat ihn die Polizei verachtet, denn die Verachtung der Polizei ist besser als ihre Aufmerksamkeit. Und nun - das Wissen, dass seine falschen Angaben einer Überprüfung nicht würden standhalten können, nagte beständig an ihm. Mutig streckte er sich, und bedeutete Giacomo, der noch immer vor Aufregung wie wild in den Gängen tobte, hier auf ihn zu warten, und ging zum Personalchef nach vorne. Höflich wartete er ab, bis der mächtige Mann mit gewaltigem Backenbart für ihn etwas Zeit zu erübrigen bereit schien, da er ja gerade einen Stoß Papiere durchsah, als Karl so plötzlich vorstellig wurde. Geduldig wartete Karl, sah ab und an zu Fanny hinüber, die aber auch stark beschäftigt zu sein schien, bis dann endlich Blickkontakt zum wichtigen Manne hergestellt werden konnte.

„Ja also, mein Herr? Was kann ich denn nun für Sie tun? Ich hoffe, es gibt keinerlei Beschwerden zu vermelden?“ „Aber nein“, beeilte Karl sich zu versichern. „Darf ich vielleicht kurz Platz nehmen. Ich habe Ihnen etwas zu sagen.“ „Gern“, sagte, sehr freundlich, der etwa 50jährige. „Setzen Sie sich und schütten Sie mir das Herz aus. Was gibt es denn?“ „Ich“, begann Karl ein wenig stockend, „ich hatte mich bei Ihnen als ‘Negro’ vorgestellt, erinnern Sie sich?“ Der Allgewaltige nickte bedächtig, fingerte dann ein Papier aus dem Stoß heraus, betrachtete es kurz und meinte dann: „Negro, allgemeine technische Arbeiten. Konnte keine Papiere vorlegen. Angeblich gestohlen und/oder nicht auffindbar“. Murmelt, deutlich leiser: „Macht einen guten Eindruck, Mr. Negro war zuvor in einem Büro beschäftigt, ist derzeitig stellungslos.“

Richtete den Blick auf Karl. „Also gut, Mr. Negro. Das mit den Papieren können wir ja leicht in Oklahoma City regeln. Wir fordern aus dem Zentralregister Ihre Kopien an. Das ist ja überhaupt kein Problem.“ „Das ist es ja eben“, meinte Karl da, „Sie werden herausfinden, dass ich nicht dieser ‘Negro’ bin. Mein Name ist Karl Roßmann. Ich bin ursprünglich Deutscher, mittlerweile habe ich die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten, bin nun seit 5 Jahren in den USA. Dass die Papiere gestohlen wurden, ist richtig. Aber warum ich Ihnen gegenüber angab, ich sei dieser ‘Negro’, glauben Sie mir, ich habe diesen Namen erfunden und wüsste nicht, ob ich ihn jemals zuvor auch nur einmal gehört hätte, dies alles ist mir selbst ein sehr großes Mysterium.“ Fanny schien Karl noch nicht einmal bemerkt zu haben.

Der Personalchef sah ihn lange an. Scharf musterte er den gegenüber sitzenden, so jungen Mann. Karl schien dieser Blick nicht unbedingt abweisend oder abschätzig. Fanny indessen hatte überhaupt nicht zugehört. Sie war mit anderen, anscheinend sehr wichtigen Dingen beschäftigt, schaute nicht einmal hoch. Karl konnte sich eines plötzlich aufkommenden Gedankens nicht erwehren: Es stand nicht zum Besten. Ihm schien es, jäh und überfordernd über ihn hereinbrechend, für kurze Zeit so lähmend, so überaus aussichtslos, ein fruchtloser Versuch zu werden, den wichtigen Mann dort für sich einzunehmen, ihm etwas erklären zu müssen, das letztlich unentschuldbar zu bleiben hatte, ja, unentschuldbar und unwiederbringlich verloren schien. Zögerlich fuhr er fort, unsteten Blickes, leicht nach Fassung ringend (ging es doch um seine Zukunft, wieder einmal):

„Ich konnte mit dieser Scham und dem Wissen, Sie so dreist belogen zu haben, einfach nicht mehr weiter unbeschwert einer schönen Zukunft entgegen fahren, durch dieses wunderschöne Land (gerade fuhr der Zug durch den Mark Twain National Forest, Karl konnte nicht umhin, den Blick, ab und an, von den Augen des Personalchefs zu nehmen um, nur kurz, die Herrlichkeit dieses Naturschauspiels zu bestaunen; dann wieder zwang er sich, den Blickkontakt zum Gesprächspartner zu suchen, um nicht vollends unglaubwürdig zu wirken), mit den guten Aussichten für mich und meinen Freund Giacomo...“ Und Karl deutete, wie ungefähr, in die Richtung der hinteren Sitzreihen, wo allerdings der Angesprochene gerade nicht zu sehen war.

„Das ist mir ja eine schöne Eröffnung, Herr... Herr Roßmann. Ich muss erst einmal den Namen Negro aus dem Kopf bekommen. Was mag Sie da nur geritten haben, als Sie mir diesen Namen als den Ihrigen zu verkaufen suchten... Nun, wie auch immer es sich verhalten mag. Es ist nun einmal  passiert. Sie stehen dazu. Endlich (er schaut auf seine teure Armbanduhr), nach 6 Stunden Fahrt, haben Sie doch den Mut angehäuft, mich darauf anzusprechen. Und, junger Mann, das war gut so. In Oklahoma City hätten wir bereits nach 1 Woche herausgefunden, dass es diesen ominösen Herrn Negro nicht gibt. Die Entscheidung der Intendanz wäre, ganz ohne jeden Zweifel, gewesen, Sie, Herr Roßmann, wieder aus dem Dienst zu entlassen. Sagen Sie mir frank und frei: Sind Sie in allerlei Ungesetzlichkeiten und vielfältige Unregelmäßigkeiten verwickelt, junger Herr Roßmann? Laufen Sie vor etwas davon?“

„Aber nein, werter Herr. Ich versichere, dass mich weder illegales Handeln oder eine Flucht zum Natur-Theater von Oklahoma führten. Lediglich der Wunsch nach fester Arbeit, und einer Heimat, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich möchte ja nichts anderes, als endlich ankommen. Schon viel zu lange bin ich rastlos unterwegs, stets

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