Fortsetzung und Beendigung von Franz Kafkas Romanfragment "Amerika" - Page 8

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wurde, ward es ihm sehr schwer, den Dienst zu verrichten. Um diese unchristliche Zeit bereits frisch und sehr munter agieren zu können, bedurfte es jeder Menge sehr, sehr starken Kaffees.

Den wusste die Kantine allerdings bereitzustellen. Bereits um 4 Uhr in der Früh hatte die Kantine geöffnet. Mit all den „morning workers“ zusammen stand Karl an, um ein knuspriges Baguette oder einen Donut zu ergattern, zusammen mit dem höllisch heiß servierten, immer wieder nachgeschenkten starken Kaffee. Um 5 Uhr bereits hatte es Karl schon an die Arbeit an der trägen Gleitmechanik berufen. Es mussten viele, und sehr langwierige Tätigkeiten erledigt werden, um den immens schweren Vorhang aus dem Hauptraum der Bühne langsam, schwirrend, zu den Seiten zu bewegen. Immer wieder aufs Neue verblüffte Karl diese Mechanik. Es dauerte gute 6 Minuten, bis so ein Vorhang sich zur Gänze raffte, und den Blick auf eine imposante, riesige Fläche frei gab. Groß wie ein Fußballfeld. Der Sichtbereich war völlig aus Glas gestaltet, es konnte alles sehr genau betrachtet werden, was sich hinter der gewaltigen Glasfläche befand. Und das war eine weitere, gespiegelte Bühne. Und auch die bot weiteren, gut 5.000 bis 6.000 Zuschauern Platz. Die saßen jetzt quasi, gespiegelt, dem Sitzbereich der eigentlichen Hauptbühne gegenüber. Hier konnten, zusammen, immerhin doch gut 12.000 Menschen dem Handlungsverlauf auf der Doppel-Bühne folgen. Da die Bühne II sich im Außenbereich des Theaters befand, hatte die Intendanz vor vielen Jahren beschlossen, sich Natur-Theater von Oklahoma zu nennen. Und dies ergab durchaus Sinn, betrachtete man diese Außenbühne. Gewaltig, fast unüberschaubar. Und so viele Sitzplätze, dass auch bei Mammut-Veranstaltungen, mit zum Beispiel wilden Tieren, wie Tigern, Löwen, Elefanten und Giraffen, kein Zuschauer jemals die Befürchtung haben musste, er könne etwas versäumen.

Mal spielte sich das Geschehen auf der Bühne II, gleich hinter jener Glasfläche, ab, und ein anderes Mal gab es das Geschehen auf der Hauptbühne, vor der Glasfläche. Die insgesamt 99 schweren Lautsprecherboxen konnten mühelos jedes gesprochene oder geflüsterte Wort in die beiden Zuschauerräume transportieren. Es wurde nicht ein einziges Wort verpasst, und diese Trennscheibe war gleichzeitig ein tragendes Glaselement und somit auch ein konstruktiver Glasbau der modernsten Bauart. Die Vertikalverglasung in diesem Hause gehörte zu den modernsten Anlagen überhaupt in ganz Amerika. Auch bei schlechtem Wetter, Regen, Wind und sogar Sturm, war der Spielbetrieb auf Bühne II gesichert. Eine massive Abdeckung sorgte dafür, dass man sich in der freien Natur, und dennoch aber sehr wohl auch im Theater wähnte.

Karl war immer wieder beeindruckt von all der Technik. Wenn der über 90 m breite Vorhang sich langsam, stetig, leise schnurrend, mit einem feinen Wischen über das Parkett bewegte, staunte Karl Roßmann stets aufs Neue. Und auf den Punkt genau konnte dieser gewaltige Vorhang, ein schwer entflammbar ausgerüsteter Baumwoll- Velours, massiv und träge, mitten in einer Abend-Vorstellung, die Sicht frei geben - auf eine weitere Spielhandlung jenseits des Glases. Meist spielten die Sequenzen zusammen, ergänzten sich, oder hatten unterstützend eingeschobenen Charakter eines Zusammenspiels, aber es gab auch Aufführungen, bei denen 2 Spielszenen an- und zusammen dargeboten wurden. Diese sehr raffinierten Stücke mussten für die Bühnenarbeiter eine Herausforderung darstellen. Karl hatte oftmals, über viele Stunden, schwer zu schuften, um die Vorgaben seiner Intendanz exakt und minutiös zu befolgen. Er war für 30 Tage zu der Soffitten-Brigade abkommandiert worden. In dieser hohen Kunst der Dekorations-Gestaltung musste Karl schwindelfrei agieren, oben, vom Schnürboden aus, der in diesem Theater besonders hoch angelegt war.

Seine hauptsächliche Aufgabe bestand darin, die komplizierte Obermaschinerie und die Gleitmechanik mit den Soffitten, wunderschön bestickt, hängend zu verdecken. In den ersten Tagen machte ihm die enorme Höhe zu schaffen. Aber mit der Zeit hatte er die Gefahr fast vergessen. Mit all der geleisteten Arbeit empfand er auch Stolz auf sich und die Crew. Man kam gut voran, kümmerte sich nun wohl, da er sich bereits jetzt der Zufriedenheit seines Chefs bewusst sein durfte, auch um die Gassenschals, also die parallel aufgehängten Bühnenvorhänge an den Seiten, die den Zuschauern kaum Einblick in den hinteren Bühnenbereich, in dem sehr leise auch während einer Vorstellung unermüdlich gearbeitet wurde, gewährten. Ja, die Vorhangzugmaschine durfte er sogar zum Abschluss seiner Zeit bei den „Soffitten“, wie sie kurz genannt wurden, bedienen. Es war ihm eine große Ehre. Diese Mechanik würde er niemals verstehen, zu kompliziert erschien sie ihm. Nach seiner einmonatigen Arbeitszeit bei den Soffitten freute er sich aber doch, wieder zurück zu seiner eigentlichen Tätigkeit am Theater zu kommen.

Er arbeitete unter einem erfahrenen Bühnenmeister, einem Dankwart Hinterfelden, er kam ursprünglich aus der Schweiz. Sein Akzent war sehr ausgeprägt, aber dennoch konnte man den Mann doch gut verstehen. Denn er sprach langsam und bedächtig. Die Fachkenntnis war enorm. Karl arbeitete sehr gern in seiner Schicht. Er gab seine Befehle immer glasklar, versuchte nie, einen Untergebenen zu überfordern, fragte stets nach, ob alles begriffen worden sei, und schickte dann erst den Mann an die Front, zum Einsatz. Karl sprach ab und an auch Deutsch mit Hinterfelden. Das hat beiden stets viel Freude bereitet. Endlich mal wieder die Heimatsprache zu sprechen. Das machte Laune im fremden Land. Gern nutzte Hinterfelden das Wort „brutal“. Oft auch in ergötzlich falschem Bild. Zum Beispiel: „Es ischt ja ganz brutal kalt heute, du. Findescht du es nicht auch, Roßmann, brutal kalt? Die Winter in Oklahoma haben es wahrlich in sich...“ Dieser Schweizer Singsang begeisterte Karl. Er liebte den Dialekt.

Hinterfelden war zudem ein begeisterter Leser. Ab und an tauschten sie gute Lektüre aus. Karl gab ihm deutsche Autoren, Hinterfelden reichte ihm typisch schweizerische, in der Regel ihm unbekannte Autoren, so z.B. Simon Gfeller und Jakob Bosshart. Der Friedrich Glauser wurde ihm, unter den angebotenen Schriften, der liebste Autor aus der Schweiz. Und Heinrich Theodor Fontane gefiel dem Schweizer am besten. Beide ließen sich in den Mußestunden gerne über ihre Lieblings-Schriftsteller aus. Da auch Karl seinen Fontane sehr liebte, gab es oft hitzige Gespräche, so auch über seine Romane Die Poggenpuhls oder den Stechlin. Karl schätzte Dankwart Hinterfeldens Sachverstand, dieser mochte Karls leidenschaftliche Referate, wenn es da um einen Erzählband von Bosshart ging, „Im Nebel“. So wurden sie, trotz eines relativ großen Altersunterschiedes, schnell zu Freunden,

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