Gefährlicher Sommer (22. Teil) - Page 2

Bild von Annelie Kelch
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und abgeklärt, hätte ich mich totlachen können, liebe Christine. Ich zwang mich deshalb, ganz schnell an etwas Trauriges zu denken, nämlich an dein gebrochenes Sprunggelenk und diesen knochentrockenen Sommer, der leider nur für dich ins Wasser gefallen ist. (Ein wenig Regen könnten wir jetzt wirklich gut gebrauchen, das Land ist wie ausgedörrt.) Bei diesen Gedanken verging mir die Heiterkeit ebenso schnell, wie sie gekommen war.
Die Landschaft, die an uns vorüberflog, wurde mit jedem Kilometer weitflächiger. Felder über Felder: Getreidefelder, Rübenfelder, halb verblühte Kartoffelfelder, auf denen nach wie vor eine grelle Abendsonne lag, kaum noch Häuser, geschweige denn Bauernhöfe.
„Wir sind bald da“, sagte Hannes plötzlich, und schaute angestrengt aus dem Fenster. „Nur noch drei Haltestellen! Jammerschade übrigens, dass wir keine Zeit haben, sonst hätte ich dir das Buddenbrookhaus gezeigt.“
„Worin Thomas und Heinrich Mann zur Welt kamen?“, fragte ich.
„Nein“, sagte Hannes. „Das Buddenbrookhaus gehörte den Großeltern der Brüder. Thomas Mann wurde in der Breiten Straße 38 geboren. Leider wurde dieses Haus 1942 bei einem Bombenangriff völlig zerstört. Aber das Lübecker Rathaus ist eines der schönsten in der ganzen Welt, ehrlich, Katja“, schwärmte Hannes.
„Ach, gleich hält der Bus am ,Kohlmarkt`. Dort müssen wir aussteigen. Na, tut es dir schon leid, dass du neulich nicht mit uns gekommen bist, als wir die Stadt besichtigt haben?“
„Ein wenig“, gab ich zu, „aber nicht allein deshalb, sondern hauptsächlich wegen der unerfreulichen Begegnung mit dem Maskenungeheuer ...“
„... hinter dem sich der gute fleißige Helge verbirgt, wie wir mittlerweile wissen … und dank der im Kuhstall versteckten Klamotten auch beweisen können“, ergänzte Hannes den angefangenen Satz.
„Dort hinten kommt übrigens mein alter Kumpel Frank angelatscht.“
Wir waren aus dem Bus geklettert, und ich sog einen Moment lang die Stadtluft ein. Im Bus war es stickig gewesen, was an einem heißen, windstillen Abend wie diesem kein Wunder war. Hannes deutete mit dem Kopf auf einen Jungen, der in einiger Entfernung aus einer Hauseinfahrt auf den Bürgersteig trat.
„Mal sehen, ob der mich erkennt!“, sagte Hannes.
Frank war fast so groß wie Hannes, sah aber um einiges jünger aus. Während wir aufeinander zugingen, starrte Hannes' Kumpel uns unablässig an. Mal ruhte sein erstaunter Blick auf Hannes' Gesicht, das verwegen von der blauen Schirmmütze beschattet wurde, mal musterte er mich eingehend von Kopf bis Fuß.
„Noch nie einen Menschen gesehen? Oder weshalb sonst gaffst du uns so dermaßen impertinent an?“, fragte Hannes mit verstellter tiefer Stimme, als Frank mit verblüfftem Gesichtsausdruck und wie angewachsen vor uns stand.
„Hannes?“, fragte Frank und sah „Macheath“ ungläubig an.
„Hannes?“, äffte Hannes ihm nach und benahm sich schlimmer als ein Mafioso. „Hä? Was bist du denn für 'ne Pfeife?“ Er ballte seine Hände zu Fäusten. Mir war sein Benehmen peinlich, liebe Christine.
„Ach, niemand. Ich dach... dachte ja nur“, stotterte Frank und machte, dass er davonkam. Hannes grinste zufrieden. Er fischte seinen Schlüssel aus der Hosentasche, und wir bogen in die nächste Hauseinfahrt. Aus den Augenwinkeln erspähte ich Frank, der am Wartehäuschen der Bushaltestelle lehnte und uns nachstarrte. Wenn mich nicht alles täuschte, stand sein Mund weit geöffnet, als hätte jemand einen Tennisball hineingeschoben.
„Jetzt weiß er, dass du es bist. Er hat uns in die Eingang biegen sehen“, informierte ich Hannes.
„Egal! Ich werde ihm nach den Ferien glaubhaft versichern, dass ich ,mein Cousin mit seiner Freundin' war“, lachte er.
„Hast du überhaupt einen Cousin?“, fragte ich.
„Mensch, Katja, jetzt mach aber mal halblang!“ Hannes zeigte sich empört. „Das kann doch unmöglich nur an der Hitze liegen. Wie, bitte sehr, soll denn Konny sonst in verwandtschaftlicher Beziehung zu mir stehen? Etwa als Onkel.“ Er kicherte.
„Ist ja gut, Hannes“, sagte ich genervt. „Ich denke nun mal nicht unablässig an Konny.“
„Das möchte ich dir auch geraten habe“, grinste Hannes.
„Setz dich doch schon mal in Axels guten Salon“, sagte er, nachdem wir Krögers Wohnung betreten hatten.
Seine Aufforderung hörte sich nur den Worten nach wie ein Vorschlag an, liebe Christine, und der Tonfall macht ja bekanntlich die Musik, wie Mutti mitunter zu behaupten pflegt, nachdem mein Vater erfolglos versucht hat, ihr irgendein technisches Gerät zu erklären und seine begreifliche Unge­duld nicht länger zu zügeln weiß.
„Mein Zimmer ist zur Zeit nicht empfangs­bereit, und ich nehme nicht an, dass du unbedingt an Herzversagen sterben möchtest“, grinste Hannes. Er schubste mich, weil ich immer noch wie angewur­zelt im Korridor stehengeblieben war, in eines der Zimmer, dessen Tür weit geöffnet stand. Ich ließ mich auf die nächste Sitzgelegenheit sinken, ein kleines schwarzes Ledersofa, das gleich neben einem hohen Fenster stand, und starrte ungläubig auf die gegenüberliegende Wand.
„Erschrick bitte nicht beim Anblick dieses fürchterlichen Gemäldes“, tönte es in diesem Augenblick aus der Küche, darin Hannes unüberhörbar mit Geschirr umherklapperte. „Mein Alter ist nicht nur ein unverbesserlicher Pessimist, sondern darüber hinaus auch noch Nihilist. Das, was sich so un­heilvoll vor deinen Augen präsentiert, ist bezeichnenderweise eines seiner Lieblingsgemälde. Er hat einen ziemlich abartigen Geschmack, findest du nicht!?“, rief Hannes mir aus der Küche zu.
Bei diesem angeblich fürchterlichen Gemälde handelte es sich um die Reproduktion eines Werkes von Edvard Munch, liebe Christine. Es ist zufällig auch mein Lieblingsbild, aber das verriet ich Hannes natürlich nicht. Munch hat dieses Gemälde übrigens 1893 gemalt und ,Der Schrei' genannt. Wie es auf Norwegisch heißt, weiß ich leider nicht. Wahrscheinlich genauso. Der Nachdruck, der dort im ,Salon' hing, wie Hannes diesen Raum tituliert hatte, war mindestens doppelt so groß wie das Original. Das Motiv passt haargenau zu diesem verkorksten Sommer und zu meinem Horrorrerlebnis im Wald, dachte ich und rief ihm zu: „Das Sujet dieses Gemäldes hat nicht das Geringste mit Nihilismus zu tun, Hannes! Munch war zeitweilig krank und hatte psychische Krisen!“
„Sag ich doch“, gab Hannes zur Antwort (wie immer, wenn er in Erklärungsnot gerät oder zu faul zum Diskutieren ist) und stellte zwei Brausegläser auf den Tisch, die bis an den Rand mit einer zähen gelblichen Flüssigkeit gefüllt waren. Das ominöse Getränk wies große Ähnlichkeit mit verwässertem Pudding auf, dem entschieden zu viel Safran beigemischt war.
„Was ist denn das für ein seltsames Gebräu?“, erkundigte ich mich vorsichtig.
„Eierlikör“, lachte Hannes. „Axels Whiskey ist leider alle. Ich weiß gar nicht, wann mein Vater den getrunken hat; er war doch schon seit Ewigkeiten nicht mehr hier.“
„Eierlikör trinkt man doch aus viel kleineren Gläsern und schon gar nicht in solchen Mengen“, wandte ich ein.
„Das wird alles ausgetrunken, Katja!“, befahl Hannes im strengen Ton.
„Dann dauert es vermutlich doch länger mit dem Brief an Herrn Fuchs“, griente ich, ohne zu wissen, was mir blühen sollte.
„Wieso?“, fragte Hannes erstaunt.
„Bevor ich die Hälfte dieses Gesöffs intus habe, bekomme ich unter Garantie irreparable Lachkrämpfe. Das wirst du dann schon sehen.“
Hannes knallte einen Packen alter Fernsehzeitschriften auf den Couchtisch, die längst nicht so amüsant waren wie Frau Brandners Modehefte, weshalb die Herstellung des Briefes, trotz des Eierlikörs, weniger als dreißig Minuten dauerte, ohne dass mir zum Lachen zumute gewesen wäre, obgleich Hannes während der „Übersetzung“ meines Briefes an den Kriminalhauptkommissar eine Schallplatte mit Liedern von Heinz Erhardt abspielen ließ.
Statt mich heiter und gelöst zu machen, bewirkte der Eierlikör lediglich, dass ich, nachdem ich das schwarzlederne Sitzpolster verlassen hatte, ins Schwanken geriet wie ein Leichtmatrose an Deck eines Schiffes auf stürmischer See.
„Hoppla!“, lachte Hannes und fing mich auf, als ich über einen Hocker stolperte, der sich mir gemeinerweise in den Weg gestellt hatte. Ich wollte etwas sagen, vergass es jedoch sofort wieder, nachdem ich festgestellt hatte, wie sonderbar schwer sich meine Zunge bewegen ließ. Ich war fest davon überzeugt, dass sie mit Druckknöpfen am Gaumen befestigt war.
„Du bist sternhagelvoll, Katja“, seufzte Hannes, als würde ihm damit ein schweres Los zuteil. Wahrscheinlich trank er bereits zum Frühstück diesen Eierlikör oder er hatte den Inhalt seines Glases – von mir unbemerkt – in den Spülstein gekippt. Jedenfalls wirkte er stocknüchtern auf mich.
Ich hingegen konnte nicht mehr geradestehen, und Hannes hob mich kurzerhand auf seine Arme, als sei ich ein dreijähriges Kind. Er öffnete mit dem Fuß eine angelehnte Tür und ließ mich auf ein Bett fallen.
„Bleib ja da liegen, Katja. Ich koche uns Kaffee“, waren die letzten Worte, die dumpf an mein vermutlich mit Schaumstoff vollgestopftes Ohr drangen. Aber weshalb, fragte ich mich. Was sollte ich nicht hören?
Im nächsten Moment ging ich auf große Fahrt: Ein mächtiger Sturm war aufgekommen; das Bett in meiner Koje begann sich zu drehen: erst langsam, dann immer schneller und schneller. Verzweifelt trommelte ich die Besatzung des Schiffes zusammen und kommandierte: „Alle Mann sofort von Deck. Wir sind in das sogenannte ,Donnernde Wasser', in die Niagarafälle, geraten. Festhaaaaaaaalten, Leute!“
Ich krallte mich an die Matratze wie an einen Rettungsanker, und zu allem Unglück wurde mir auch noch speiübel. Aufstehen konnte ich leider nicht; denn erstens kann man als Passagier einer Achterbahn, in welcher ich mich mittlerweile wähnte, ebenso wenig einfach mal aussteigen, geschweige denn das Karussell anhalten, wie den Niagarafällen befehlen, mit der unsinnigen Toberei endlich einmal aufzuhören. Und zweitens wird es einem kaum gelingen, sich einigermaßen vernünftig fortzubewegen, wenn man zu der festen Überzeugung gelangt ist, dass das einzige Paar Beine, über das man verfügt, aus Kautschuk besteht. Ich beugte mich seitlich, wie ich trotz meines desolaten Zustandes richtig vermutet und navigiert hatte, aus dem Bett und beförderte unter anderem Omas feudales Mittagessen, den guten Spargel, das Rindsgulasch, die Bananencreme sowie das Schokoladeneis in eine rote Plastikschüssel, die Hannes voller Weit- und guter Absicht neben das sich unaufhörlich routierende Bett gestellt hatte. Danach sank ich erschöpft in das überaus weiche Kissen und schloss die Augen. Bevor ich auf Deck des sinkenden Schiffes, inmitten eines gewaltigen Tornados, einschlief, gab ich meiner Crew, für die ich mich nach wie vor verantwortlich fühlte, etliche Anweisungen, wie mit dem Frachter zu verfahren sei, damit wir nicht völligen Schiffbruch erlitten. Ich verließ mich ganz und gar auf Störtebeker. Oder war es ,Macheath', der mir mit dem linken Auge zuzwinkerte, während das rechte hinter einer schwarzen Baumwollklappe verschmachtete, und mich wild und verwegen angrinste, bevor er „Aye, aye, Käpt'n“ grölte?

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Kommentare

17. Nov 2017

"Wutschnaubendes Monster" - an irgendwas
Erinnert mich das -
Aber Dein Text macht richtig Spaß!

LG Axel

17. Nov 2017

Vielen Dank für deinen Kommentar, Axel.

LG Annelie

17. Nov 2017

Die Mafia hat - stärker denn je - 'nen Teil der Welt im festen Griff:
so mancher Wirt fühlt sich im eigenen Lokal wie auf 'nem Handelsschiff.

Liebe Grüße,
Annelie

17. Nov 2017

Du bist un-glaublich reich an Phantasie, die sich auch in deinen Collagen ausdrückt, liebe Annelie ... ob Edward Munch auch ohne den " Schrei" so bekannt geworden wäre?
Liebe Grüße - Marie

17. Nov 2017

Liebe Marie, danke für deinen Kommentar. Ja, ich glaube, dass Munch auch ohne den "Schrei" bekannt und berühmt geworden wäre, weil er ein unglaublich guter Maler war. Ich erinnere nur an den "Kuss", an seine "Madonna", "den Tanz am Ufer", Frau mit Mohnblumen", "Mädchen auf der Brücke", "Loslösung" und "Melancholie", um nur einige seiner Werke zu nennen. Ich mag fast alle; sie sind außergewöhnlich eindrucksvoll. "Der Schrei" ist fast ein Psychogramm. Man braucht sich nur ein Werk von Munch anzuschauen - und wenn man das lang genug praktiziert, fällt einem eine Geschichte dazu ein. Probier es doch mal, liebe Marie. Es kommt ganz gewiss etwas Gutes und Spezielles dabei heraus.

Liebe Abendgrüße,
Annelie

17. Nov 2017

Liebe Sabrina, die Zahl der Mafioso in Deutschland soll sich in neun Jahren vervierfacht haben. Wahrscheinlich jedoch ist diese Zahl ungleich höher. Hier können sich die Banden anscheinend austoben und sich ab und an auch mal gegenseitig umbringen. Es ist ein Skandal, dass diese primitiven Verbrecher so leichtes Spiel haben.

Liebe Grüße,
Annelie

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