Namen wählen - Page 2

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irgendwie unecht wirken.
Die Sekretärin drückte mir einen Stift in die Hand und eine kleine Wasserflasche. „9-15 Uhr; diesen Stapel Papiere sollen sie durcharbeiten. Bringen sie sich bitte die nächsten Tage Wasser und zu Essen mit. Zwischen 12 und 13 Uhr haben sie Pause.“ „Worin besteht die Arbeit?“ „Sie müssen zufällig ein paar Namen auf jedem Blatt auswählen, die Zahl ganz oben zeigt an wie viele sie auswählen müssen. Kreisen sie diese ein. Um 15 Uhr bringen sie den Stoß Papiere zu mir. Das ist alles.“ „Das ist alles?“ „Das ist alles.“
Die Sekretärin verließ den Raum und ließ mich allein. Also setzte ich mich an den Schreibtisch und sah dem ersten Blatt gegenüber:

Stefan Beckett
Pablo Silva
Maria Schmidt

Darüber war eine große 1. Also einen Namen einkreisen, einen Namen auswählen.
Ich entschied mich für Maria Schmidt. Ich fragte mich welchen Sinn das ganze hatte, aber arbeitete Blatt für Blatt durch, machte von 12 bis 13 Uhr Pause. Die Arbeit war einfach, machte aber für mich keinerlei Sinn. Gegen 15 Uhr gab ich die Blätter ab und verließ das Haus.
Rund eine Woche später musste ich zu einer Kontrolluntersuchung ins Krankenhaus. Mit dem Bus fuhr ich hin und machte mich schon mal auf eine unendlich lange Wartezeit gefasst.
„Nummer 14, kommen sie bitte in Behandlungszimmer 5; Nummer 14, Behandlungszimmer 5“, wurde ich von der alten Sprechanlage begrüßt, meldete mich an und zog eine Nummer, die 26, um mich dann hinzusetzen. Ich hätte mir ein Buch mitnehmen sollen, zumindest müsste ich nicht so lange warten, die 26 war nicht so weit von der 14 entfernt, zumindest dachte ich das. Die Minuten verstrichen zäh und ich dachte über die Arbeit nach, während ich gelangweilt die Zeitung von gestern las.
Die Tage waren relativ gleich verstrichen. Es war jetzt nicht mein Traumjob, aber die Bezahlung war gut und ich freute mich sowieso über jede Arbeit, die ich machen konnte. Ich wollte mich wirklich nicht beschweren, aber bald stellten sich eine gewisse Routine und irgendwann auch eine gewisse Langeweile ein, die ich aber trotzdem gerne in Kauf nahm. So viele Namen, dass ich die meisten schon fast vergessen hatte.
Ich wurde plötzlich aus meinen Gedanken gerissen, als ich zu den Todesanzeigen kam und den Namen Stefan Beckett sah. Ein kalter Schauer überkam mich.
Stefan Beckett war doch auf dem ersten Blatt gewesen, oder? Es war einer der Namen, die ich nicht angekreuzt hatte. Es muss ein dummer Zufall sein, das wäre nicht möglich „Nummer 26, kommen sie bitte in Behandlungszimmer 2“, unterbrach die Sprechanlage meine Gedanken und ich setzte mich auf und ging in das Behandlungszimmer.
„Der Doktor sollte in den nächsten 10 Minuten hier sein“, sagte der Arzthelfer und es dauerte fast eine halbe Stunde bis endlich ein Arzt kam und mich mit einem makellosen Lächeln begrüßte.
Er nahm einige Proben, stellte mir einige Fragen und sagte mir, dass das Krankenhaus in einer Woche wieder anrufen würde, wenn die Testergebnisse da wären.
Ich war etwas beunruhigt, weil das Lächeln des Mannes ab und zu abbrach, während er mit mir sprach. Ich weiß nicht, es war immer nur für Momente, trotzdem war ich leicht beunruhigt.
Müde verließ ich das Krankenhaus.
Ein paar Tage später, als ich wieder meiner Tätigkeit des „Namen auswählen“ nachging, hörte ich großen Lärm. Ich öffnete die milchige Glastür meines Büros einen kleinen Spalt und bekam Fetzen eines Streits zwischen der Sekretärin und dem Chef mit.
Sie sagte, dass sie damit nicht mehr leben könnte und dass das unmenschlich und krank sei. Es ist die einzige Möglichkeit, sagte er immer wieder, es gibt keine anderen Möglichkeiten, alle anderen wurden erschöpft. Sie hielt wieder dagegen, doch ich konnte es nur schwer verstehen und dann begann der Chef sie mit allerlei Schimpfworten zu belegen.
Als ich das Öffnen der Tür hörte, schloss ich eilig meine und setzte mich wieder an meinen Schreibtisch. Ich hörte nur noch ein Schluchzen und dann eine Türe knallen. Worüber sie wohl gestritten hatten?
Die Tage verstrichen relativ gleich bis ich vom Arzt angerufen wurde und herbestellt wurde. Ich war etwas beunruhigt, denn warum sollte der Arzt selbst anrufen. Direkt im Eingangsbereich wurde ich vom Arzt abgefangen und ins Behandlungszimmer gebracht, was mich noch mehr beunruhigte. Ich kann das Folgende kaum wiedergeben, nur die Worte.
„Es tut mir leid ihnen das sagen zu müssen, aber sie haben Krebs“, hallen noch immer im meinem Kopf.
Ich konnte nicht direkt mit der Therapie anfangen, aus Gründen, die ich nicht richtig verstand. Rund Eineinhalb Monate blieben mir noch, dann müsste ich mit der Therapie anfangen. Eine Art Druck breitete sich in mir aus, machte mich viel zu paralysiert, um richtig denken zu können oder um Auszubrechen oder Sonstiges. Keine Ahnung. Der Krebs lag innerhalb der Leber und ich würde in ein paar Monaten eine Bestrahlung bekommen und bräuchte eine neue Leber, sonst hätte ich kein ganzes Jahr mehr.
Geistig paralysiert ging ich automatisch nach Hause zu meinem Briefkasten. Reflexartig. Ich hatte kein Bedürfnis meine Post zu sehen, aber reflexartig griff ich zu den Schlüsseln und zog ebenso reflexartig die Briefe heraus.
Einer fiel mir besonders auf. Kein Absender, nichts. Am Esstisch öffnete ich ihn vorsichtig und zog einen handgeschriebenen Brief heraus, der seltsam roch.

„Als ich erfahren habe wem ich mein Leben zu verdanken habe, musste ich einfach diesen Brief schreiben. Ich weiß nicht wie man jemanden danken kann, dem man das Leben zu verdanken hat. Ich glaube jedes Wort, jede Tat wäre zu wenig. Es war nicht leicht sie zu finden, aber ich habe es endlich geschafft. An dieser Stelle noch einmal aus tiefstem Herzen ein letztes Danke, denn ohne sie könnte ich diese Zeilen jetzt nicht schreiben.

Mit herzlichen Grüßen
Maria Schmidt“

Ich glaube ich hätte mich gefreut, wenn ich nicht gerade diese Diagnose bekommen hätte. Doch mein ungutes Gefühl wollte sich nicht von mir lösen, weswegen ich keine Freude empfinden konnte. Im Gegenteil ich erinnerte mich an die Todesanzeige. Stefan Beckett war gestorben, Maria Schmidt lebte und ich hatte sie ausgewählt. Es musste eine Verbindung geben, doch um mir Sicherheit zu geben, suchte ich im Internet nach Pablo Silva und auch er war tot. Weder bei Stefan Beckett noch bei Pablo Silva stand, woran sie gestorben waren und auch meine kurze Recherche ergab nichts. Das Gefühl etwas Schlimmes getan haben, manifestierte sich zusehends in meinem Kopf.
Die Überlegung meinen Job hinzuschmeißen und die letzten Monate zu genießen, verwarf ich wohl während diesen Momenten. Ich wollte mehr herausfinden, war etwas großem auf der Spur, da war ich mir sicher.
Am nächsten Tag ging ich meiner Arbeit nach, hatte mir allerdings Stift und Papier mitgebracht, um mir immer wieder Namen herauszuschreiben. Ich fühlte mich nicht gut dabei, weiterhin dieser Arbeit nachzugehen, aber ich musste es tun, zumindest diesen einen Tag. Ich meldete mich danach ein paar Tage krank und nach kurzer Zeit hatte ich erste Resultate. Nicht alle Namen, die ich nicht ausgewählt hatte waren verstorben, allerdings manche und am Ende der Woche waren es ein paar mehr. Doch lange nicht alle. Ich hatte auch mitbekommen, dass einer seine Arbeit verloren hatte und die anderen auf dem Blatt auch dort gearbeitet hatten. Ebenfalls war einer ins Gefängnis gekommen. Es verwirrte immer mehr und mehr, sodass ich mir sicher war, dass ich Informationen nur von dem Chef selbst bekommen würde. Es musste unschuldig laufen, ruhig, ohne dass er etwas bemerken würde.
So ging ich an dem Tag an dem ich wieder arbeiten konnte, an die Tür des Chefs und klopfte.
„Herein“, tönte es von drinnen. Mein Herz klopfte schmerzhaft, sodass ich einen Moment brauchte, um hereinzutreten. Der Chef saß hinter dem Schreibtisch und rauchte wie üblich. Er wirkte älter, irgendwie als würde ihn etwas unendlich anstrengen.
„Was gibt es?“, fragte er.
„Ich bin über ein paar Dinge verwirrt. Welchem Zweck dient meine Arbeit, ich markiere Tag für Tag Namen und weiß nicht weshalb.“ Der Chef atmete einmal tief ein und aus.
„Es ist nicht wichtig, welchem Zweck diese Arbeit dient. Schätzen sie sich über ihre Arbeit glücklich.“
„Ich habe ein paar Namen in den Todesanzeigen gelesen, was bedeutet das?“, fragte ich nach einer Pause.
Der Blick des Chefs verfinsterte sich. „Es ist nicht wichtig. Begreifen sie das.“
„Aber... Ich sehe immer wieder Namen von Einzelnen und...“ Ich stockte.
Der Chef stand auf und wirkte nun noch bedrohlicher, dann klarte sich sein Blick auf, als hätte er gerade einen besonders treffenden Gedanken zusammenschustert.
„Wissen sie, die meisten Systeme sind voller Vorurteile, Menschen werden gekündigt, wegen ihrer Hautfarbe, ehemalige Alkoholiker kriegen keine Organe, Leute werden bei Versetzungen eher ausgewählt, aufgrund von Kleinigkeiten. Das System ist kaputt und korrupt. Verstehen sie?“ Ich nickte, langsam wurde mir die Aufgabe dieser Firma klar. „Wir wählen Leute zufällig aus. Nur noch Namen. Dieses System ist nicht perfekt, aber immerhin besser als jedes andere bisherige.“ Eine Stille entstand. „Können sie damit leben? Sie nehmen Leben, nehmen Jobs und eben das wofür wir gerade gebraucht werden. Aber das alles würde sowieso genommen werden, wir machen das nur zufälliger. Unsere Kunden sind weltweit, Krankenhäuser, Arbeitgeber, Staaten, Richter, Polizisten; viele Leute sind unsere Kunden und dieses System schützt vor der Korruption, vor dem Vorurteil. Ich wiederhole meine Frage: Können sie damit leben?“
Ich wollte etwas sagen, ein Widerwort formen, verwarf aber den Gedanken und sagte, dass es für mich in Ordnung wäre.„Gut, das freut mich sehr. Machen sie bitte weiter, es ist noch viel zu tun.“
Das war es nicht, dass konnte es nicht sein. Dieses System war kriminell und falsch. Das hehre Ziel ein vorgeschobener Grund. Ein falscher Ansatz, der sich verkauft. All dies schoss mir durch den Kopf, als ich mich zurück hinter meinen Schreibtisch setzte. Dieser eine Arbeitstag noch, dann würde ich zur Polizei gehen und alles melden.
Ein Triumphgefühl breitete sich in mir aus, dass Gefühl zum ersten Mal etwas wirklich wichtiges geleistet zu haben. Die Namen heute auszuwählen war in Ordnung, die Polizei würde sie sicher beschlagnahmen, bevor sie weitergetragen werden konnten.
Ich könnte zufrieden abtreten, dachte ich mir lächelnd und fing an mich durch die Seiten durchzuarbeiten und wieder Namen auswählte.
Das Gefühl zersplitterte, als ich in der Mitte des Papierstapels angekommen war. Mein Name stand dort, zusammen mit einigen anderen. Mein Kopf leerte sich komplett, alles was ich herausgefunden hatte, alles was ich gedacht hatte, einfach alles verschwand.
Nur noch die Frage, ob es real war, blieb in mir stecken und kreiste in mir. Die Machenschaften von dieser Firma waren in jedem Falle falsch, aber ich brauchte eine neue Leber, sonst blieb mir nicht mal mehr ein Jahr.

In Gedanken mit mir ringend, bemerkte ich gar nicht wie ich zitternd meinen Namen eingekreist hatte und noch viele Jahre lang ein Angestellter bei Godhot Services blieb.

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