Rübe - Page 5

Bild von Dieter J Baumgart
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wie ein Ausschluß aus der Menschlichen Gesellschaft. Aber da redet keiner drüber.
     “Wo ist denn Ihr Sohn, Herr Woltersdorff?”
     “Ach, der hat vor kurzem eine Aufgabe auf dem Mars übernommen.”
     Und jeder weiß, was das heißt.
Nein, das sind keine guten Gedanken. Es wird Zeit, daß Vater zurückkommt; ich brauche seine Hilfe, seinen Glauben an die Zukunft, daß das alles richtig ist, was wir hier machen.

     10. März 2194

     Vater ist wieder da. Noch am Space Airport war er mit einem 40-Minuten-Interview auf allen News-Channels. Ich habe mich gleich im IGEVV-Gesundheitszentrum für die Implantation des Kehlkopfgenerators angemeldet. Mutter übrigens auch. Sie hat sich auf der INTER-ROBOT in die neue Generation sprachgesteuerter Robotersysteme verliebt und schon die ganze Haustechnik umgestellt. Der Kehlkopfgenerator war sogar im Kaufpreis eingeschlossen. Ich bin nun sicher, daß es aufwärts geht. Vor vier Tagen noch... Wenn ich das jetzt lese, was ich da geschrieben habe, dann... Es ist einfach alles anders, und es ist gut – für mich jedenfalls gut – ein solches Tagebuch zu schreiben. Ich werde diesen Fehler nicht mehr machen, mich so fallen zu lassen. Es gibt keinen Grund dafür.
     Ich habe einen guten Start, Vater sagt das auch, und wenn ich erst einmal das Delta habe, dann stehen mir bei der IGEVV alle Türen offen.

     16.Mai 2194

     Es ist geschafft, bestanden.
     “Du wirst doch dieses Mädchen nicht zur Delta-Feier einladen?” Ich spüre noch Vaters prüfenden Blick im Rücken; eigentlich war es ja auch keine Frage, eher eine Feststellung.
     “Nein, Vater, ich weiß auch gar nicht, wo sie ist.”
     “Das ist gut.”
     Wie meint er das? Da ist irgend etwas, was ich nicht weiß. Was würde er sagen, wenn er wüßte, daß ich dieses Tagebuch schreibe? Ich weiß es nicht. Es ist einfach unvorstellbar, daß mein Vater es überhaupt zur Kenntnis nähme. Ob er in seinem Leben jemals an sich gezweifelt hat? Aber vielleicht würde er auch sagen: “Gut, mein Junge, da mußtest du durch. Du hast dich richtig entschieden. Du bist mein Sohn.” Ja, das könnten auch seine Worte sein.
     Es tut mir leid, Geneviéve, aber es ist gut, daß wir uns nicht mehr getroffen haben. Mir ist jetzt klar geworden, daß wir in verschiedenen Welten leben: Du in einer Welt voller Zweifel, ich schau nach vorn. Eines Tages vielleicht, wenn wir uns denn wiedersehen, wirst du verstehen, daß nur, wer in die Zukunft denkt, auch die Gegenwart bewältigt.

     28. Mai 2194

     Gestern war die Delta-Feier im IGEVV-Informations-Center. Es ist wunderbar, dazu zugehören! Zum Kreis derer, die die Welt verändern, neue Bereiche erschließen, Träume verwirklichen, neue Ziele ins Auge fassen. Vater hielt für uns sechs die Laudatio. Er hat recht, wenn er sagt, daß wir verpflichtet sind, alle Möglichkeiten des technischen Fortschritts zu nutzen. Die Schöpfung ist ein gewaltiger Organismus. Jede Zelle hat ihre Aufgabe. Und wir, die Menschen, sind das Hirn. Wir steuern diesen Mechanismus dank immer wieder neuer Erkenntnisse in noch unerreichte Höhen. Wenn wir erst einmal die Mechanik der vierten Dimension beherrschen... Ideen entwickeln, alles ist möglich, wenn nur der Wille da ist. Das Motto der IGEVV ‘Wecke keine Wünsche, die du nicht erfüllen kannst’ ist ein voller Erfolg geworden. Und Vater, der maßgeblich an diesem Konzept beteiligt war, hat alle Chancen für eine Position an der Konzernspitze. Sein Leitsatz “Jedes unserer Produkte, das auf den Markt kommt, muß ein Bedürfnis wecken, welches wir mit einem neuen Produkt befriedigen können”, wurde einstimmig zur Aussage des Jahres gewählt.
     Glaub’ mir Généviève, wir sind auf dem richtigen Weg. Die gesellschaftlichen Krisen vergangener Jahrhunderte, die oftmals alles bis dahin Erreichte in Frage stellten, können sich nicht wiederholen, weil keine Wünsche offen bleiben. Jeder tut, was er möchte, weil jeder das möchte, was er tut. Überall entstehen die neuen großen Naturzentren mit unterschiedlichen Klimazonen. Pflanzen, die schon ausgestorben schienen, leben in geschützter, ungezieferfreier Umgebung, schöner und größer als je zuvor. Moderne Verkehrsmittel verbinden die großen Wohn- und Freizeitanlagen auf diesem Planeten und lassen die Reisezeiten selbst zwischen den entferntesten Orten auf wenige Stunden schrumpfen.

     16. Juli 2194

     Ein großer Tag für unsere Familie: zum hundertsten Geburtstag meines Urgroßvaters wurde die IGEVV Mondbasis LUNA VII in ‘Mare Woltersdorff’ umbenannt. Karl Friedrich Emmanuel Woltersdorff, ein Name wie ein Denkmal. Seine Arbeitsräume im alten Trakt über den Elektrolabors werden nun auch weiterhin unverändert bleiben. Das hölzerne Mobiliar, das er schon von seinem Vater übernommen hatte, der ‘Ölschinken’, wie Großvater das Landschaftsbild über dem Schreibtisch immer liebevoll nannte. Und vor allem seine ‘Sternwarte’, das vorsintflutliche Teleskop im Obergeschoß.
Es ist völlig veraltet, und niemand käme auf die Idee, es zu benutzen. Wahrscheinlich hatte er damit die ersten Aktivitäten auf dem Mond beobachtet. Jetzt steht es da, wie – ja, wie ein Denkmal: Hier ruht die Vergangenheit, die Welt von gestern. Und nicht zu vergessen, das Prunkstück auf einem Podest neben der kunstvoll geschnitzten Treppe nach unten: Der Rasenmäher. Dieser Rasenmäher, der ein Industrie-Imperium begründen sollte. Ob Karl Friedrich Emmanuel Woltersdorff das je geahnt hat?
     “Über allen Zielen, die wir eines Tages erreichen werden, dürfen wir nie vergessen, woher wir kommen.” Das war seine Devise, die hier in jedem Detail seines Arbeitszimmers zu spüren ist. Ich war noch klein, aber ich erinnere mich an endlose Diskussionen, die er mit Vater hatte. “Ballast abwerfen” war stets das Reizthema. Jetzt sitze ich hier an seinem Schreibtisch, und meine Gedanken wandern hin und her zwischen Vergangenheit und Zukunft.
     Ballast abwerfen, das heißt doch, sich lösen von dem, was erledigt ist, den Blick nach vorn richten, alle Kräfte sammeln, um neue Ziele zu erreichen. Vorwärts streben. Die Eroberung und Besiedlung von Mond und Mars hat auch das Leben auf der Erde bereichert. Wir sind jetzt überall an die zentrale Klimatechnik angeschlossen, Luftschleusen auf den Raumflughäfen und Magnetbahnstationen verhindern nicht nur das Eindringen von Schadstoffen, sie bieten auch einen nahtlosen Übergang zu den außerirdischen Systemen, weil die lebenserhaltenden Einrichtungen auf Erde, Mond und Mars gleich sind.

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