Rübe - Page 6

Bild von Dieter J Baumgart
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Alles das haben wir dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt zu verdanken, nicht dem Blick zurück. Wen interessiert denn noch, wie wir vor hundert Jahren lebten?

     18. Februar 2196

     Tatsächlich, das sind ja fast zwei Jahre seit den letzten Eintragungen. Und wenn ich nicht zufällig nach Material über Urgroßvaters Rasenmäher gesucht hätte... “Hinter dem Ölschinken ist, glaub’ ich, noch ein kleiner Tresor”, hatte mir Großvater gestern mit auf den Weg gegeben, “vielleicht findest du da auch noch was.” Alles mögliche hätte ich da vermutet, nur nicht dieses Buch. Aber ich habe es ja wohl selbst da rein gelegt. Es muß doch mit der eigenartigen Atmosphäre in diesen Räumen zu tun haben, hier kommt eben nichts weg. Vielleicht auch deshalb, weil hier kaum jemand herkommt. Ich glaube, Vater weiß gar nicht, daß dieser Trakt noch existiert. Ich habe es jetzt einmal von Anfang an gelesen, daß heißt, viel steht ja nicht drin... Und doch, wenn es nicht meine eigene Handschrift wäre, ich würde nicht glauben, daß auch die ersten Einträge von mir sind. War schon eine gute Idee, die Gedanken, die Ereignisse, die einen bewegen, festzuhalten. Es gibt einen Einblick in die eigene Entwicklung
     Généviève? Eine Episode. Vater hatte natürlich recht. Und wenn ich die Notizen weiterführe, dann – ja, warum nicht? Vielleicht sind sie eines schönen Tages doch für jemanden von Interesse, so wie Urgroßvaters Aufzeichnungen – warum eigentlich nicht?
     Immerhin, ich habe gelernt, die Welt im Ganzen zu sehen, Verantwortung zu übernehmen, Verantwortung für unser Unternehmen und damit auch für den Fortbestand dieser Wirtschaftsordnung. Mit Beginn dieses Monats wurde ich zum Vertriebskoordinator Kunststoffrasen und Rasenmäher berufen. Ein interessantes Arbeitsgebiet; ich habe schon viele gute Ideen, die ich verwirklichen möchte. Vater ist stolz auf mich. Der Konzern hatte einen internen Wettbewerb für Nachwuchsführungskräfte ausgeschrieben. Thema: Verkaufsstrategien.Für mein Konzept habe ich den Titel “Der Rasenmäher – Bindeglied zwischen Mensch und Natur” gewählt.  Ein Glücksfall. Meine Arbeit wurde sehr gut beurteilt, und ich bin sicher, daß diese Beurteilung zu meinem Aufstieg beigetragen hat.

     26. Februar 2196

     Heute machte mir Vater ein Beförderungsgeschenk: Zur nächsten Strategiekonferenz der IGEVV darf ich ihn auf den Mond begleiten. “Junge, dein Konzept wird eines der Leitthemen der Tagung sein.” Ich freue mich wahnsinnig. Mein erster, ganz großer Erfolg!  Die Arbeit hat sich gelohnt, und ich möchte eigentlich den einleitenden Text hier wiedergeben, vielleicht ist es auch  später in der Rückerinnerung ein wichtiger Baustein in unserer Firmengeschichte.

     Der Rasenmäher – Bindeglied zwischen Mensch und Natur
“Guten Tag, was macht Ihr Rasen?” Eine Höflichkeitsfloskel, die keiner Beantwortung bedarf? Nein, sicher nicht. Eher ein ganz wesentlicher Teil heutiger, zwischenmenschlicher Beziehungen. Das tägliche Gespräch über den Rasen fördert nicht nur das Naturverständnis, es ist auch ein  wesentlicher Teil unserer Firmenkultur. Denn zum Rasen gehört auch der richtige Rasenmäher. Und schon lange überläßt kein verantwortungsbewußter Rasenbesitzer die Rasenpflege, und dazu gehört vor allem der Schnitt, dem Gartenrobot. Schnitthöhe und Schnittzeiten sind Entscheidungen, die die Maschine dem Menschen nicht abnehmen kann. So ist es sicher kein Zufall, daß sich immer mehr Rasenbesitzer in Clubs zusammenfinden, um unter Leitung erfahrener IGEVV-Referenten ihre Probleme zu diskutieren. Und natürlich trägt auch unser reichhaltiges Angebot an Rasenmähern dazu bei, die Freude an dieser sinnvollen Beschäftigung wachzuhalten.
     Betrachtet man das Thema jedoch einmal aus globaler Sicht, so zeigt sich, daß nicht alle Menschen die Möglichkeit haben, unsere Produkte sinnvoll zu gebrauchen. Die Tatsache, daß die Nutzung unserer Rasenmäher in den Kolonien nur sehr eingeschränkt möglich ist, muß durchaus als Wermutstropfen im ansonsten hochqualifizierten Freizeitangebot gesehen werden. Zwar wird der Kunstrasen, wie er in Mond- und Marssiedlungen schon lange zur Verwendung kommt, ungeschnitten geliefert, um den Besitzern zumindest einmal das  Erlebnis des Rasenmähens zu vermitteln. Aber natürlich ist das keine Lösung, zumal der Anblick nicht einzusetzender Rasenmäher immer häufiger zu psychischen Belastungen führt, die wir unseren Kunden ersparen sollten. Getreu unserer Devise, die besagt, daß jedes unserer Produkte ein Bedürfnis wecken muß, das wir mit einem anderen Erzeugnis befriedigen können, müssen wir auf dem Gebiet der Kunstrasenproduktion neueste Erkenntnisse verwirklichen. Unsere Forschungslaboratorien, jeder einzelne Wissenschaftler, jeder Techniker ist gefordert, seine ganze Kraft in die Entwicklung neuer Produkte zu investieren, zum Wohle unseres Unternehmens, wie auch zur ständigen Verbesserung der Lebensqualität auf Erde, Mond und Mars.

     4. April 2196

     Die Strategiekonferenz wurde verschoben. Und was schon seit Wochen gerüchteweise kursierte, scheint sich zu bewahrheiten. Den IGEVV Chemotechnikern ist die Realisierung eines langgehegten Traumes gelungen: Der nachwachsende Kunststoffrasen ist da! Bereits vor Wochen konnte die Erprobungsphase erfolgreich abgeschlossen werden. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht besonders in den außerirdischen Gebieten, und so kommen auf die geplante Konferenz natürlich neue, organisatorische Aufgaben zu.
     Ja, das ist tatsächlich ein Meilenstein in der Geschichte der IGEVV, und ich ahne, warum mein Konzept so begeistert aufgenommen wurde. Nun haben sich die umstrittenen Investitionen in die Rohstoffgewinnung auf dem Mars schließlich doch gelohnt, was natürlich Vaters Stellung, der sich schon seit langem dafür einsetzte, erheblich stärkt. Auf jeden Fall wird es auch positive Auswirkungen auf das gesamte IGEVV Produktionsprogramm haben und damit auch mein Ressort stärken. Denn tatsächlich steht eine Umwälzung größten Ausmaßes bevor: Der noch immer gebräuchliche Naturrasen hat schließlich schwerwiegende Nachteile, die häufig zu Störungen in den Schutzeinrichtungen führen. Bei unsachgemäßer Pflege entstehen Faulstoffe, die die Vermehrung von Schädlingen erheblich fördern und somit Boden und Luft verunreinigen. In den letzten Jahren kam es immer wieder vor, daß Menschen mit ausgezeichneten Erbanlagen sterilisiert werden mußten, weil sie sich mit Faulstoffen infiziert hatten. Aber nun haben wir alle Chancen, dieses gefährliche Relikt einer vergangenen Epoche im Umgang mit der Natur durch ein modernes Produkt der IGEVV ersetzen zu können.

     19. Juni 2196

     Der neue Kunstrasen wird begeistert aufgenommen. Vaters Idee, gleichzeitig einen neuen ‘alten’ Rasenmäher anzubieten, scheint auch ins Schwarze zu treffen. Urgroßvaters Schmuckstück soll dafür Modell stehen; natürlich nur von der Form und vom Aussehen her. Der Antrieb wird neuesten technischen Erkenntnissen entsprechen. So wird es dann meine Aufgabe sein, Vertriebspläne auszuarbeiten und Transportkapazitäten zu ordern. Mond und Mars haben natürlich Vorrang. Eine neue, große Aufgabe!

     24. September 2196

     Es ist furchtbar –. Gestern traf ich Généviève. Ich erkannte sie fast nicht mehr. Tiefe Falten und dunkle, fleckige Haut. Sie lebe ‘woanders’, meinte sie. Ich bin nicht sicher, ob sie überhaupt zu mir wollte. Offenbar kam sie durch ein altes Kanalsystem in unser Zentrum. Wo, das wollte sie nicht sagen. Ich werde es melden müssen. Verdammt, ich kann es nicht ändern. Nein, ich verstehe sie nicht, das ist doch menschenunwürdig. Sie will sich nicht registrieren lassen und lebt womöglich noch außerhalb der HB-Zentren von Wildtieren und Pflanzen.
     “Eure grauenhafte Konservenwelt “, flüsterte sie, “ich hasse sie!”
Nein, Généviève, glaub’ mir, du bist im Unrecht. Schau dich doch selbst an: Ist das die Welt, in der du leben möchtest? Du warst eine intelligente, junge Frau. Du könntest so leben wie wir...
     Als sie ging, folgte ich ihr heimlich. Kurz vor dem Serviceeinstieg in den Kabelschacht am Informationszentrum drehte sie sich unversehens um: “Ja, laß es zumauern. Ich habe hier nichts mehr verloren!” Sie kann Gedanken lesen, schoß es mir durch den Kopf. Ich sah  mich entsetzt um, glücklicherweise  war niemand in der Nähe. Mein erster Gedanke war, sofort eine Desinfektion aufzusuchen, aber dann... Nein, ich kann dieses Gesicht nicht vergessen. Konservenwelt! Es ist doch nur zu unserem Besten. Es geht uns gut. Wir haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Warum begreift sie das nicht. Wir atmen klinisch saubere Luft, erzeugen unsere Nahrungsmittel giftstofffrei. Sicher, wir leben in humanbiologischen Schutzräumen. Aber auf Mond und Mars leben wir doch genau so. Der Weltraum steht uns offen. Natürlich können wir den Weltraum nicht unseren Bedürfnissen anpassen, aber wir können unsere Bedürfnisse dem Weltraum anpassen. Das ist doch eine logische Folgerung, oder etwa nicht? Wenn wir unsere Lebenserwartung weiter steigern, die Antriebssysteme der Raumfähren verbessern, dann werden wir eines Tages auch andere Sonnensysteme erreichen und besiedeln.
     Natürlich mußten bestimmte Vorstellungen und Verhaltensweisen korrigiert werden. Hemmungslose und unkontrollierte Vermehrung angesichts einer hochentwickelten Gentechnik ist doch wohl ein Aberwitz. Wir haben einer verlogenen Sozialethik, die uns in den Untergang zu ziehen drohte, abgeschworen. Ich erinnere mich an unsere Streitgespräche. Damals habe ich noch nicht so recht begriffen, worum es ging, aber jetzt weiß ich es: Schau dich an, und dann schau mich an! Verdammt, niemand wird gezwungen, in unserer Welt zu leben. Auch du nicht, Généviève.

     25. September

     Ich werde dieses Gesicht nicht los. Ich...

     Damit endet das Tagebuch. Cyrus Woltersdorff wird sich seiner ‘neuen, großen Aufgabe’ nicht mehr lange gewidmet haben.
Und Généviève?
     Sie hat das stille Chaos vielleicht überlebt; eventuell sogar hier, in den Katakomben. Ich werde es nicht mehr erfahren, es ist zu lange her. Aber ich weiß, daß es sie gegeben hat, sie und Cyrus. Der durch einen interstellaren Magnetsturm verursachte Zusammenbruch der elektrischen Spannung mag Tage oder Wochen angehalten haben. Die Menschen in den künstlichen Lebensräumen auf Erde, Mond und Mars waren verloren.
     Nein, sie hatten keine Wahl.
     Sie hatten schon lange keine Wahl mehr.

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