Justine oder vom Missgeschick der Tugend - Page 171

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noch keine zwei Stunden vergangen, als sie plötzlich durch einen furchtbaren Rauch aufgeweckt wurden. Rasch sprangen sie auf und – gerechter Gott! Von allen Seiten hörten sie Mauern einstürzen, Gläser klirren und Menschen heulen. Inmitten der Flammen wußten sie keinen anderen Ausweg, als zu flüchten; allein bald erinnerte sich Justine, daß ihre Beschützerin vergessen hatte, ihr Kind zu retten. Rasch eilte sie in das Zimmer zurück, ergriff das kleine Mädchen, eilte über schwankende, glimmende Balken zurück, nachdem sie ihre kostbare Last herabgleiten hatte lassen. Von allen Seiten bedrohten sie die Flammen und sie wäre umgekommen, wenn ihr nicht eine Frau zu Hilfe geeilt wäre, die sie auf den Armen hinaustrug und in einen Postwagen warf; auch ihre Retterin setzte sich hinein. Ihre Retterin, großer Gott, diese war die Dubois. »Verbrecherin,« sprach die Megäre zu ihr und drückte ihr einen Pistolenlauf an die Schläfe, »ah, Hure, ich halte dich, diesmal wirst du mir nicht entgehen, Bestie!« – »Oh, Madame, Sie hier?« rief Justine aus, – »Alles, was hier geschah, war mein Werk,« erwiderte die Dubois, »durch eine Feuersbrunst habe ich dir dein Leben gerettet, durch eine Feuersbrunst wirst du es verlieren! Ah, ich hätte dich bis in die Hölle verfolgt, um dich wieder zu erlangen. Ich wollte dich den Feuertod sterben lassen oder dich besitzen. Nun habe ich dich und bringe dich in ein Haus zurück, das du in Unruhe und Verwirrung versetzt hast. Der ehrwürdige Bischof hat geschworen, daß es für ihn keine Qualen gebe, die groß genug wären, um dich zu bestrafen. Nun, Justine, wie denkst du jetzt über die Tugend? Wäre es nicht tausendmal besser gewesen, alle Kinder des Weltalls verbrennen zu lassen, als sich dem auszusetzen, was dir nun geschah, weil du eines retten wolltest?« – »Oh, Madame, was ich tat, ich würde es noch immer tun.« – »Oh, Justine, es ist noch Zeit, du kannst noch bereuen. Willst du meine Gehilfin werden? Bist du noch nicht genug für deine Tugend bestraft worden? Nochmals, Justine, willst du meine Gehilfin werden? Wir können einen herrlichen Streich zusammen ausführen. Der Prälat, zu dem wir fahren, wird nur von einem Diener beschützt. Der Mann, der vor unserem Wagen vorausläuft, du und ich, Justine, wir sind dann drei gegen einen. In dem Hause ist mehr als eine Million versteckt, ich weiß es. Wähle nun zwischen dem Tod und diesem Verdienst.« – »Nein, Madame,[410] hoffen Sie nichts.« – »Nun denn, dann wirst du sterben. Ja, du wirst sterben, hoffe nicht, deinem Schicksal zu entgehen.« – »Was liegt daran, ich werde von meinen Leiden befreit sein.« Bei diesen Worten stürzte sich das grausame Tier auf unser armes Mädchen und behandelte es auf die grausamste Art.

Man befand sich gerade in der Dauphiné, als sechs Reiter mit verhängtem Zügel auf den Wagen zukamen und den Kutscher zwangen, stehen zu bleiben.

Als die Dubois bemerkte, daß es sich um Gendarmen handelte, trat sie keck auf sie zu und fragte sie, mit welchem Rechte sie eine Frau ihres Ranges gefangen genommen hätten. »Wir haben nicht die Ehre, Sie zu kennen,« sprach der Anführer, »wir wissen aber, daß Sie in Ihrem Wagen eine Unglückliche haben, die gestern eine Herberge in Villefranche in Brand gesteckt hat.« Dann wandte er sich an Justine. »Wir täuschen uns nicht, hier ist ihr Signalement; haben Sie die Güte, sie uns auszuliefern und uns mitzuteilen, wieso es kommt, daß eine so hochachtbare Frau wie Sie in Gesellschaft eines solchen Weibes getroffen wird.«

»Nichts einfacher als das,« antwortete das gewandte Weib. »Ich wohnte gleich ihr in jener Herberge in Villefranche, als ich inmitten der Verwirrung meinen Wagen bestieg, warf sich dieses Mädchen mir entgegen, indem sie mein Mitleid anflehte und mich bat, sie mit nach Lyon zu nehmen. Mehr meinem Herzen als der Vernunft gehorchend, gab ich ihren Bitten Folge. Während der Fahrt bot sie mir ihre Dienste an und unvorsichtigerweise nahm ich sie an. Das soll mir eine Lehre sein, künftighin wieder mein Mitleid mißbrauchen zu lassen. Hier ist sie, meine Herren, Gott bewahre mich davor, sie noch weiter beschützen zu wollen.« – Justine wollte sich verteidigen und die wahre Schuldige nennen, allein ihre Vorwürfe wurden nur als Verleumdungen angesehen, und die freche Dubois verteidigte sich nur mit einem verächtlichen Lächeln.

Der Anführer las ihr die Beschuldigung der Bertrand vor. Nach ihr hätte unsere Waise das Feuer angelegt, um sie zu bestehlen. Justine hätte das Kind in das Feuer geworfen, um durch den Schmerz des Verlustes jeden anderen Gedanken zu ersticken. Mit einem Wort, die Bertrand hatte nichts außeracht gelassen, um Justine ins Unglück zu stürzen. Umsonst verteidigte sie sich. Die einzige Antwort, die der Anführer gab, bestand darin, daß er ihr Ketten anlegte. »Aber, mein Herr,« wagte sie trotzdem zu sagen, »wenn ich meine Genossin in Villefranche bestohlen hätte, müßte man ja das Geld bei mir finden.« Diese Verteidigung erregte nur Gelächter. »Sie werden schon noch Komplizen gehabt haben,« sprach man zu ihr. In diesem Augenblick kam der Dubois ein teuflischer Gedanke. Sie erinnerte sich an den Körper Justinens und sprach zu dem Anführer: »Mein Herr, wenn dieses Mädchen schuldig ist, dann ist es sicher nicht ihr erstes Vergehen; untersuchen Sie sie, wenn Sie zufällig auf ihrem unglücklichen Körper[411] etwas finden.« Und der Anführer begann Justine zu entkleiden, als das arme Mädchen, sich seinen Angriffen widersetzend, ausrief: »Einen Augenblick, mein Herr, diese Untersuchung ist unnütz, Madame weiß wohl, daß ich dieses abscheuliche Zeichen habe, auch kennt sie die Ursache davon.« – »Ich hätte nicht geglaubt,« sprach die grausame Dubois, »daß meine Anregung einen derartigen Erfolg hätte, aber da mich dieses Geschöpf zu beschuldigen scheint, will ich gerne mit ihr vor den Richter treten.« – »Dieser Gang ist vollkommen unnütz, Frau Baronin, wir bitten Sie um Verzeihung, Sie so lange aufgehalten zu haben.« Unsere unglückliche Weise wurde also gebunden, auf ein Pferd gesetzt und die Dubois bestieg ihren Wagen wieder.

»Oh, Tugend,« rief Justine aus, als sie sich in dieser peinvollen Lage sah, »wie sehr wirst du von dem Verbrechen verfolgt und beleidigt.«

Bei der Ankunft in Lyon wurde Justine als Brandstifterin. Hure, Kindesmörderin und Diebin in den Kerker

Veröffentlicht / Quelle: 
Marquis de Sade: Die Geschichte der Justine. 1906

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Kommentare

01. Jan 2018

ICH darf das leider ja nicht lesen -
Sonst ha(u)t mich Krause! Mit dem Besen ...

LG Axel

02. Jan 2018

Das las ich bereits mit knapp dreizehn Jahren ganz "allein zu Hause".
Zum Glück gab 's bei uns keinen Besen wie die Bertha Krause.

LG Annelie

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