Weihnachtsfest mit Satansbraten/ Ein Weihnachtskrimi - Page 6

Bild von Annelie Kelch
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sie seien mit seinen Weihnachtsgeschenken abgehauen.“ ‑
„Wie das?“, fragte er verwundert, „ja, glaubt ihr Sohn denn nicht an den Weihnachtsmann?“ Larissa warf ihm einen penetranten Blick zu, und in jenem Moment wurde ihm klar, dass sie ihm für immer und ewig gestohlen bleiben konnte. „Mir kommt Ihre Stimme so bekannt vor. Sind wir einander schon einmal irgendwo begegnet?“, fragte sie im grüblerischen Tonfall, der nicht frei von Koketterie war. „Ganz gewiss nicht, gnädige Frau“, brummte er eine Oktave tiefer als normal, worauf Larissa herablassend meinte: „Na, dann kommen Sie mal mit, guter Mann. Sie sind mir ja einer. Welches Kind glaubt denn heute noch an den Weihnachtsmann?“
Er fühlte sich wie am Boden zerstört; die Enttäuschung, die ihn praktisch von einer Sekunde zur nächsten überfiel und wie eine hungrige Zecke an ihm fraß, bahnte sich ihren Weg durch seinen Körper – gleich einem gefährlichen Bazillus, der ihm Schmerzen zufügen wollte. Seine Verwirrung steigerte sich noch, als er Larissa durch die Eingangsdiele ins Wohnzimmer folgte. Er erkannte sein Elternhaus, das er über zehn Jahre zusammen mit Larissa bewohnt hatte, nicht wieder. In den ehemals schlichten, aber liebevoll gestalteten Räumen war der Reichtum eingezogen: protziger ging es wahrhaftig nicht, und, obwohl das Weihnachtsfest in wenigen Stunden seinen Höhepunkt, die Geburt Jesus Christi, erreicht hätte, waberte keinesfalls wie früher der Duft von Zimt- und Lebkuchen durch die Gemächer; statt dessen stieg ihm der stechende Geruch eines künstlichen Lavendelaromas in die Nase, als habe sich jemand mit einer randvollen Dose Raumspray die Wut aus dem Leib gesprüht. ‑
„Tommylein, der Weihnachtsmann ist da“, flötete Larissa und zog ihn, Nikolai, in den überheizten, stickigen Salon. ‑ „Endlich“, schrie Tommy. „Wo sind meine Geschenke, blöder Weihnachtsmann?“ Er rannte hampelnd auf Nikolai zu, trat ihm mit dem Fuß gegen das Schienbein und zerrte an dem Sack, den Nikolai auf den Boden gestellt hatte. Der Hieb schmerzte ihn sehr, nicht nur am Knie, auch sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Larissa lachte dümmlich. Im Hintergrund spielte das Radio „O du fröhliche, o du selige ...“ Ihn schauderte. Die Ernüchterung überfiel ihn wie eine eiskalte Dusche nach einem Saunabesuch. Die fast rauschhafte Begeisterung, mit der er sich das ganze Jahr hindurch seinem Weihnachtsprojekt gewidmet hatte, die sorgfältige Auswahl des Landes, in das er auswandern und des Berufs, den er dort ausüben wollte, die gedankliche Beschäftigung mit Tommy und die Vorstellung, wie freudig dieser auf sein Erscheinen reagieren würde, das tägliche Hanteltraining im Fitnessstudio, damit er den Weihnachtsmann samt Sack mit Nuss und Mandelkern über seine Schulter werfen konnte ‑ all das hatte durch Tommys unqualifizierten Auftritt seinen Sinn verloren. Er konnte es noch immer nicht fassen, dass er der Erzeuger dieses aufdringlichen, schlecht erzogenen Buben war. ‑
„Immer mit der Ruhe, junger Mann!“, brummte er und sah sich das kecke Bürschchen, dessen Äußeres nicht den geringsten Zweifel aufkommen ließ, dass es sich um sein eigen Fleisch und Blut handelte, genauer an. Die Ähnlichkeit mit ihm, seinem Vater, war frappierend: Der ungestüme Knabe hatte die gleichen glatten dunkelbraunen Haare, die auch ihm gewachsen waren, bevor er ergraut war, die noch kindlichen blanken Augen waren dunkelbraun wie seine; bei den Lippen, die jetzt schmollend aufgeworfen waren, handelte es sich unverkennbar um das Abbild seiner Lippen, und der Knabe atmete durch ein Näslein, das, hätte es die Pubertät erst einmal unversehrt überstanden, seiner eigenen aufs Haar gleichen würde. Tommy sah genauso aus, wie er ihn von Hänschens Laube aus durch das Fernglas tausendmal erblickte, und dennoch war der Knabe völlig anders, als das milde Licht der Liebe, die er das ganze Jahr über gehegt und gepflegt hatte, seinem Herzen hat weismachen wollen. Vom Wesen her schlägt Tommy wohl doch eher nach Larissa, dachte er und fühlte sich hundeelend. Die Situation war komplett aus dem Ruder gelaufen. ‑ „Warst du auch immer artig?“, fragte er mit fast schon drohender Stimme, wobei ihm, von heißer Scham begleitet, in den Sinn schoss, dass er im Begriff war, seinem Sohn die gleichen peinlichen Fragen zu stellen, für die er sämtliche Weihnachtsmänner der vergangenen Jahre gehasst hatte; aber ihm war in den wenigen Minuten der Nähe zu Tommy klar geworden, dass er mit diesem Kind nirgendwohin auswandern würde, ja, er konnte sich noch nicht einmal vorstellen, mit ihm ins Kino oder einfach nur spazieren zu gehen, und die Lehrkräfte, die Tommy später einmal unterrichten mussten, taten ihm schon jetzt bitter leid.
Bis zu jenem Augenblick, als Tommys unangenehme, schrille Stimme an sein Ohr gedrungen war, hatte er geglaubt, kinderlieb zu sein, einer, der sich nicht allein damit begnügte, verschiedene Projekte zum Wohle benachteiligter Kinder finanziell zu unterstützen, sondern darüber hinaus auch ein offenes Ohr für seine zahlreichen Neffen und Nichten bereit hielt, die noch in den Kinderschuhen steckten, und es fiel ihm schwer sich einzugestehen, dass keines der Bürschchen, die bisher seine Wege gekreuzt hatten, sich auch nur annähernd rüpelhaft wie Tommy benahmen. Im Hintergrund dudelte derweil ununterbrochen das Radio, und bei „O Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter“, fiel ihm in jenem Augenblick nichts Besseres ein als der unerquickliche Reim „O Tannenbaum, o Alptraum“, und er ahnte nicht nur, nein, er wusste, dass er dieses Kind, das sein eigenes war, keinen Tag lang würde ertragen können – nicht hier, in seiner Heimatstadt, noch im fernen Australien. Vielleicht, wenn ich ein guter Pädagoge wäre ..., dachte er voller Bedauern, vielleicht, dass es mir dann gelänge, aus Tommy einen halbwegs vernünftigen Menschen zu machen. Sein Blick fiel auf Larissas jugendlich frischen Gatten, der die unschöne Szene amüsiert betrachtete und sichtlich genoss. Er hatte es sich in einem der Sessel gemütlich gemacht, die um einen Couchtisch mit Schublade gerückt waren, den er lächerlich fand und der ihn an längst aus der Mode gekommene, uralte Küchentische erinnerte, die höchstens noch beim Tapezieren Verwendung fanden.
„Natürlich ist Tommy immer artig, lieber Weihnachtsmann“, gurrte Larissa. „Nun geben Sie ihm schon die Geschenke.“ –
„Ja, los jetzt, oller Weihnachtsmann! Ich will endlich meine Geschenke. Mama, du hast doch wohl hoffentlich an die Kamerauhr und den Multirekorder gedacht ... sonst.“ –
„Sonst was, du Satansbraten?“, mischte sich Larissas

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Kommentare

09. Nov 2016

Starke Story, die sich lohnt:
Witzig Spannung in ihr wohnt!

LG Axel

09. Nov 2016

Danke sehr, die Story ist, das geb' ich zu, ein wenig überzogen;
doch so muss es sein, sonst wäre es gelogen (das Leben schreibt oft unbegreifliche Wahrheiten).

LG Annelie

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