Weihnachtsfest mit Satansbraten/ Ein Weihnachtskrimi - Page 5

Bild von Annelie Kelch
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einen Artikel veröffentlicht hatte, worin er zum Ausdruck brachte, dass die Liebe zu Kindern bei diesen Menschen deutlich ausgeprägter sei als bei dem Rest der Bevölkerung seines Landes.
Ob Larissa wusste, wer Tommy an diesem denkwürdigen Tag überraschen wollte? Eher nicht, vermutetete er; die Zeiten, in denen sie für jede Überraschung gut gewesen war; waren längst passé. Nun war er doch sehr auf das Antlitz des vor sich hin Dämmernden gespannt. Er entfernte behutsam die Maske samt angeklebtem weißen Rauschebart und die Zipfelmütze; Tommys Weihnachtsmann hatte ein fröhliches, gütiges Maskengesicht gewählt. Wenigstens dieses Jahr hat Larissa eine gute Wahl getroffen, dachte er, und es ging ihm regelrecht zu Herzen, dass er dem liebenswertesten aller Weihnachtsmänner, die nach der Scheidung von Larissa seinem Tommy das Fest versüßen wollten, die Show stehlen musste.
Himmeldonnerwetter, das darf doch wohl nicht wahr sein, durchfuhr es ihn voller Entsetzen, als der Weihnachtsmann die Augen aufschlug und ihn mit einem benommenen Blick fixierte. Der fromme Gottesknecht hatte lange dunkle Wimpern und einen kess geschnittenen Bubikopf. Er konnte es kaum fassen, aber vor ihm lag eine Frau, eine noch sehr junge Frau mit dunklen Haaren und hellblauen Augen. Hübsch war sie, verdammt hübsch sogar. ‑
„Sind Sie Studentin?“, fragte er mit verhaltener Stimme. „Kunst, Musik, Grafik?“ – „Mathematik und Russisch auf Lehramt“, hauchte das schöne Kind. „Wo bin ich?“ ‑ „Keine Sorge, Ihnen passiert nichts. Ich gehöre zu den Guten“, sagte er und ließ eilig die unhandliche eiserne Fußfessel um ihre schlanken Knöchel zuschnappen. „Ihre Gefangenschaft dauert nicht lang, Kindchen“, ließ er sie wissen, während er ihr eine volle Cognacflasche reichte, er selber trank keinen Tropfen Alkohol mehr, damit sie den ersten Schreck überwinden und sich aufwärmen konnte; Hänschens Heizstrahler gab wenig her, und in der Laube war es fast so kalt wie in seiner Gefriertruhe.
„Hören Sie, Kindchen“, sagte er, nachdem sich die junge Frau gestärkt hatte. „Sie ziehen jetzt bitte die Joppe aus und meine warme Trainingsjacke an. Ich brauche dieses purpurrote Teil, wie Sie sicher längst bemerkt haben.“
„Alles, ich tue alles, wenn Sie mich am Leben lassen“, schluchzte sie. „Bitte bringen Sie mich nicht um.“
„Reden Sie keinen Unsinn, Süße“, grinste er gerührt. „Niemand will Sie umbringen. Mir steht lediglich der Sinn nach Ihrer mildherzigen Maske und dem entzückenden Kostüm, in das Sie sich für meinen Sohn Tommy geworfen haben, um ihn mit Weihnachtsgeschenken zu beglücken, die gewiss mehr gekostet haben als sie wert sind. Meine Exfrau Larissa entscheidet sich bedauerlicherweise immer erst kurz vor Ladenschluss für den „letzten Schrei“, anstatt pädagogisch wertvollem Spielzeug den Vorzug zu geben. Sie können im übrigen ganz beruhigt sein: Hänschen kommt in spätestens zwei Stunden vorbei und erlöst Sie, aber nur, wenn Sie sich leise verhalten.“ ‑
„Hänschen?“, lispelte sie und sah ihn mit ängstlichen, sperrangelweit gerissenen Augen an. Bis zu jenem Moment hätte er es nicht für möglich gehalten, dass Mathematikstudentinnen so süß sein konnten.
„Mein gebrechlicher alter Nachbar“, lächelte er, „mein Komplize. Wir wollen Tommy befreien. Aber nun ist genug der langen Rede. Hänschen wird Ihnen alles erklären.“ Er reichte ihr seine mollig warme Trainingsjacke und drehte sich um. ‑
„Sie dürfen jetzt gucken“, sagte sie, nachdem es kurz geraschelt hatte.
„Steht Ihnen gut“, stellte er fest und meinte es ehrlich. Es ließ sich zu seinem Bedauern nicht vermeiden, dass auch noch die Handschellen zum Einsatz kommen mussten, und als ihre Patschhändchen in Eisen lagen, löste er die Fußfessel, damit sie die Trainingshose überstreifen konnte.
„Bitte, Nikolai, er hatte ihr seinen Vornamen verraten, könnten Sie nicht ...“, begann sie mit zaghafter Stimme.
„Nein, Mara, die Fußfessel muss sein. Sie wären dumm, wenn Sie an einem Tag wie heute nicht versuchten, aus diesem eisigen Raum zu fliehen.“ Mit diesen Worten zwang er ihre Knöchel erneut in das Eisen. Dann fand er, dass es allerhöchste Zeit sei, sein Projekt zu verwirklichen; vor allen Dingen wollte er Tommy nicht unnötig lange auf den gewiss schon heiß ersehnten Weihnachtsmann warten lassen. Er verzog sich hastig in die hinterste Ecke der Laube, um das Weihnachtskostüm und die Maske anzulegen. Er war einen Kopf größer als Mara, und das rote Gewand malträtierte seinen athletischen Körper ‑ wie anno dazumal der zu kurz geratene Konfirmandenanzug, den ihm sein während einer Bergtour verunglückter Onkel vererbt hatte. Mara lachte, bis ihr die Tränen kamen, und er sagte „nitschewo“, macht nichts, um anzudeuten, dass ihm die russische Sprache nicht gleichgültig war. Glücklicherweise war die Jacke weit geschnitten und er konnte seine breiten Schultern unter dem rauen Stoff mühelos bewegen.
„So wird es gehen, Nikolai“, erklärte Mara, nachdem er den Anzug zurechtgezupft und die breiten Säume der Hosenbeine in seine Schneestiefel gestopft hatte, die ihm fast bis ans Knie reichten. ‑ „Machen Sie’s gut, Mara“, sagte er mit wehmütiger Stimme, „ich bedauere bereits jetzt außerordentlich, dass wir uns vermutlich niemals wiedersehen werden. Und schreien Sie hier bitte nicht herum, wenn sie nicht möchten, dass Hänschen mit dem Diäthyläther anrückt, sie wissen schon, das Teufelszeug, das früher nicht allein harmlose Blinddarmoperationen ermöglichte.“

Er beugte sich zu ihr hinunter und hauchte einen Kuss auf ihre rechte Wange, die der feine Cognac nicht nur gerötet, sondern von innen her regelrecht zum Glühen gebracht hatte. Die edle Pulle war mittlerweile halbleer. Wenn sie in diesem Tempo weitersäuft, wird Hänschen mit ihr sein blaues Wunder erleben, dachte er und wusste nicht, ob er darüber lachen oder weinen sollte
„Tschüss Nikolai, Nikolaus, oller Weihnachtsmann“, kicherte sie fröhlich hinter ihm her, und er griente von einem Ohr zum anderen. Trotz des Lachens, das ihm in die Kehle gestiegen war, plagte ihn die Sorge, dass Hänschen, wenn es darauf ankäme, nicht mit ihr fertig würde.

Er klingelte Sturm, und als Larissa endlich die Tür öffnete, bekleidet mit einer Weihnachtsmütze auf den frisch gelegten Wellen und in ein Kleid gezwängt, worin selbst Marlene Dietrich von Kopf bis Fuß ins Hintertreffen geraten wäre, hätte sie denn neben ihr gestanden, stockte ihm für Sekunden der Atem, und seine Knie wurden weich wie flüssiger Kautschuk. ‑
„Sie kommen reichlich spät“, fuhr Larissa ihn an. „Wir warten seit einer Ewigkeit auf Sie. Mein Sohn ist schon ganz verzweifelt. Er hat die Vermutung geäußert,

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Kommentare

09. Nov 2016

Starke Story, die sich lohnt:
Witzig Spannung in ihr wohnt!

LG Axel

09. Nov 2016

Danke sehr, die Story ist, das geb' ich zu, ein wenig überzogen;
doch so muss es sein, sonst wäre es gelogen (das Leben schreibt oft unbegreifliche Wahrheiten).

LG Annelie

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