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schnell. „Das ist wirklich lieb von dir, aber ich wünsche mir viel lieber eine flotte Hose mit passender kurzer Weste.“ Mutti zog ein Gesicht, als zöge in der Ferne ein schweres Gewitter herauf, aber Oma brummte zu meiner Überraschung: „Kein Problem, Katja, dann nähe ich dir eben eine schicke Hose mit einer kurzen, modernen Weste.“
Ich registrierte zufrieden Opas Miene, die offen bekundete, wie sehr er sich über die Worte seiner Angetrauten freute. Er freut sich fast immer, wenn Oma Kompromissbereitschaft zeigt und nicht wie vom Teufel besessen herumzetert. Vermutlich, weil es selten genug vorkommt, dass sie sich von ihrer sanften, nachgiebigen Seite zeigt, liebe Christine.
Nachdem ich mir aus unzähligen Stoffen, es waren genug, um Oma für den Rest ihres Lebens Tag und Nacht nur mit Nähen zu beschäftigen, einen leichten und sehr weichen Stoff in Türkis ausgesucht hatte, ging ich in den Park und pflückte den Rest der überreifen Stachelbeeren, nämlich sage und schreibe fünf riesige Blechschüsseln voll, die ich zu Leni in die Küche schleppte.
„Fein, Katja!“ („fein“, benutzt die Gnädigste immer), freute sie sich. „Drei Schüsseln wecke ich ein als Kompott für den Winter und vom Rest koche ich Marmelade und Grütze. Morgen kannst du dir vier Teller für euch abholen.“
Ich hörte kaum hin; meine Gedanken waren mal wieder bei Hannes. Falls er spätestens um acht mit seinem Fahrrad auf die Veranda zurollen würde, überlegte ich, während ich vor dem runden Eichentisch in der kühlen Veranda saß, blieben mir an Wartezeit auf die Sekunde genau noch 540 Minuten, also neun lange Stunden. Ich starrte sehnsüchtig hinaus auf die Dorfstraße, die sich ein wenig hinter der Kastanienallee versteckte, und wartete ungeduldig auf den Postboten – und auf Hannes, falls er unerwartet früher auf Lachau ankommen sollte.
Axel Kröger tauchte plötzlich vor den Pferdeställen auf. Er stand eine Weile reglos neben den Fliederbüschen und ließ seine Blicke über den Hof schweifen. Dann bog er ganz langsam den Kopf in den Nacken und betrachtete einen Moment lang den strahlend blauen Himmel. Fasziniert beobachtete ich, wie er sein Kinn mit einem Mal tief auf die Brust senkte und sein Gesicht mit beiden Händen bedeckte. Er erweckte den Eindruck, als wolle er jeden Augenblick unter einer ungeheuren Last zusammenbrechen. Aber in der gleichen Sekunde, in welcher ich genug Mut fasste, ihm zu Hilfe zu eilen, richtete er sich auf und stiefelte mit riesigen Schritten und erhobenen Hauptes Richtung Herrenhaus. Was ich vor wenigen Sekunden mit eigenen Augen erblickt hatte, kam mir plötzlich wie ein Spuk vor, und die gute alte Nüchternheit holte mich wieder ein, während ich dachte: Hoffentlich verschont wenigstens der Herr Gutsinspektor mich mit Bemerkungen, die Hannes baldige Rückkehr betreffen.
Kröger streifte sich am Rost vor den Stufen zur Veranda umständlich, aber gründlich den Pferdemist von den Stiefeln, bevor er das Haus betrat. Er trug eine leichte graue Cordhose und ein dunkelgrünes Leinenhemd. Seine blaugrauen Augen, Hannes' Augen, wie ich mit spürbarem Herzklopfen wieder einmal feststelllen konnte, leuchteten mir aus seinem tiefgebräunten Gesicht entgegen.
„Hallo, Katja“, begrüßte er mich und zeigte sein übliches charmantes Lächeln. „Erwartest du einen Liebesbrief?“
Wahrscheinlich reichte seine Vorstellungskraft nicht aus, um sich erklären zu können, weshalb ein junges Mädchen bei strahlendem Wetter in einer verglasten Veranda hockte.
„Nein, Herr Kröger“, sagte ich wahrheitsgemäß (wenn auch nur die halbe Wahrheit, liebe Christine; aber die musste vorerst reichen), „ich langweile mich heute ein wenig ohne Hannes und bin neugierig, was er in Lübeck erlebt hat.“
„Deiner Langeweile könnte ich sofort Abhilfe schaffen, Katja. Das Hühnerhaus muss dringend ausgemistet werden. Ich würde mich wirklich ganz außerordentlich freuen, wenn du mir dabei hilfst.“
Ich wollte erwidern, dass ich mich so sehr nun doch nicht langweilte ..., ich wollte demonstrativ auf meine Armbanduhr blicken, um zu signalisieren, dass ich in der nächsten Viertelstunde zu irgendeiner Verabredung müsste und starrte sekundenlang wie bedeppert auf mein leeres Handgelenk, bis mir plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel, dass ich das gute Stück aufgrund von Konnys hochmoralischen Erläuterungen bezüglich kleinen Zeitmessern auf der Polizeistation in Beckum nur noch anlegte, bevor ich wegfuhr und unbedingt wissen musste, was die Stunde geschlagen hatte, ich wollte ...
„Meinetwegen“, sagte ich und seufzte leise. Kröger sah mit leisem Spott in seinem Lächeln auf mich herab, und mir war nicht allein deshalb klar, dass meine Antwort weder begeistert noch entgegenkommend geklungen hatte.
„Zieh dir bitte altes Zeug an, Gummistiefel, und das Beste wäre, du bindest dir ein Tuch um die Haare, weil es nämlich fürchterlich stauben wird.“
„Ja, Herr Kröger“, sagte ich artig und begab mich erst einmal in die gute Stube zu Oma und Opa. Mutti saß, angetan mit einem augenscheinlich neuen, duftigen und garantiert knitterfreien Chiffon-Kleid in der Babyfarbe „Altrosa“ auf dem Sofa und blätterte eifrig in einer Illustrierten.
„Herr Kröger will den Hühnerstall auszumisten und kann jede Hilfe gebrauchen. Machst du auch mit, Mutti?“, fragte ich mit kaum wahrnehmbarer Ironie in der Stimme und gab mir wirklich Mühe, ihr freundlich bittend zuzulächeln. Sie zog sofort ihre sorgfältig gezupften Greta-Garbo-Brauen in die Höhe, blickte reichlich pikiert von irgendeiner Kaiserin-Soraya-Farah-Diba-Lügengeschichte auf und sagte in einem überaus höflichen Ton: „Oh, das tut mir sehr leid, mein Kind. Aber ich habe Oma versprochen, ihr gleich beim Kuchenbacken zu helfen.“
Opa, dieser alte Spitzbube, griente von einem Ohr zum anderen.
„Oh, wie schade aber auch!“, rief ich und legte die größte Portion Bedauern in meine Stimme, die ich auf die Schnelle auftreiben konnte. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Mutti sich gewaltig zusammenreißen musste, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.
„Also dann, bis nachher“, beendete ich unser Wortgeplänkel. „Es kann übrigens sein, dass ich heute später zum Mittagessen komme; es sei denn, du überlegst es dir und hilfst uns doch noch beim Ausmisten. Es würde schon ausreichen, wenn du die Nistkästen mit frischem Stroh versorgst.“
Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen und bereits zwei Schritte in den Saal getan hatte, hörte ich Mutti in dröhnendes Gelächter ausbrechen. Oma und Opa stimmten zwei Sekunden später ein. Vermutlich glaubten sie, ich hätte mein Ansinnen ernst gemeint. Wie leicht man seine Verwandtschaft doch verschaukeln konnte! Eigentlich hatte ich nur wissen wollen, wie Mutti auf meine Bitte um Hilfe beim Ausmisten des Hühnerstalls reagieren würde, obgleich mir von vornherein klar war, dass sie keinesfalls in enthusiastische Begeisterungsstürme ausbrechen würde.
Für Axel Kröger war sie jedenfalls nicht die richtige Frau. Das stand schon mal fest. Weshalb interessiert dich das eigentlich, Katja Kleve, du dumme Nuss?, fragte ich mich und hielt mitten auf der Wendeltreppe inne, schüttelte den Kopf über mich und suchte nachdenklich meine Kemenate auf. Die Tür hatte ich offengelassen. Helge war in Kiel – vermutlich.
Ich zog mich um, setzte mir Knuts alten Sonnenhut auf, der unten im Kleiderschrank lag, und latschte mit Lenis ausrangierten, für meine schmalen kleinen Füße viel zu großen Gummistiefeln zum Hühnergehege.
„Ist der so überaus fleißige Herr Ecker inzwischen endlich mit seinem Frühstück fertig?“, erkundigte sich Kröger, als er meiner ansichtig wurde und sich ein Lächeln über meinen „Aufzug“ nicht verkneifen konnte.
„In der Küche sitzt er jedenfalls nicht mehr“, sagte ich.
„Wahrscheinlich hockt er jetzt auf irgendeinem Feld und verdaut“, griente Hannes' Vater, worüber ich längere Zeit nachdachte, es mir dann bildlich vorstellte und schließlich lachten musste.
„Wäre unser neuer Knecht „Ecker“ im alten Ägypten zur Welt gekommen, hätte Gott ihn als Plage Nummer acht über das Volk gewälzt, gleich hinter den Heuschrecken. Wetten, dass mein neuer „Untertan“ Hafer nicht von Gerste unterscheiden kann?“, setzte Kröger noch eins drauf.
„Ach, das hat mir Knut schon vor Jahren beigebracht“, stieß ich erleichtert hervor. „Wenn er es mir nicht erklärt hätte, wäre ich jetzt genauso überfragt wie Herr Ecker.“
„Du bist gut mit meinem Vorgänger Knut Knudsen ausgekommen?“, fragte Kröger.
„Hmmmh“, machte ich, während ich mir mir die Tränen verkniff, die mir manchmal noch in die Augen steigen wollten, wenn ich an Knut erinnert wurde und wechselte das Thema, bevor sich schmerzhafte Erinnerungen in meinem Herzen ausbreiten konnten.
Wir schafften zuerst das schmutzige Stroh aus dem Hühnerhaus und luden es mit riesigen Mistgabeln auf den kleinen Lastwagen, den Kröger vor dem Gehege geparkt hatte. Er wollte das zum Himmel stinkende Zeug noch als Dünger benutzen. Die Hennen, die vor unserem rigorosen Reinigungsmanöver phlegmatisch und in Frieden und Freundschaft auf den Stangen gedöst oder in den Nestern gebrütet hatten, suchten tödlich beleidigt und unter lautem Protest das Weite und forderten bei den Hähnen, die draußen umherflanierten, unter hysterischem Krakeelen und Federgewirbel Schutz an.
Mit vorwurfsvollem Gegacker beklagten sie sich vermutlich über die ausgesucht unhöfliche Behandlung, die wir ihnen ihrer Meinung nach hatten angedeihen lassen, obwohl der neue Gutsverwalter ihnen während einer guten Viertelstunde lang und breit das bevorstehende Ereignis angekündigt hatte, weil diese Tiere, wie er mir erklärte, hochsensibel seien und dass man äußerst sanft auf sie einreden müsse, damit sie sich nicht erschrecken. Ich war drauf und dran ihm zu verstehen zu geben, dass die Lachauer Hühner durch Lenis Behandlungsmethode abgehärtet seien und dass er sich keine Sorgen darüber zu machen brauche, dass das Federvieh irreparable Verhaltensstörungen erleiden könne, biss mir jedoch gerade noch rechtzeitig auf die Zunge, um der guten Leni eventuelle Vergeltungsmaßregeln zu ersparen.
„Verstehe einer die Frauen, das liederliche Federvieh und die Hornissen“, murmelte Kröger. Er räusperte sich und zwinkerte mir zu. Das ist eine ausgesprochen frauenfeindliche Äußerung, hätte Mutti ihn empört zurechtgewiesen. Ob sie diese Seite an Kröger kannte? Sein Humor war gewiss nicht jedermanns Sache. Ich blickte verstohlen in seine Richtung. Er hob das Gesicht, und seine Augen funkelten mich belustigt an. Ich senkte schnell meinen Blick, bevor er meine Gedanken erraten konnte. Oder hatte er sich wieder mal einen Spaß mit mir erlaubt?
Den Goldenen Brakel zumindest schien das ohrenbetäubende Gekeife der Hennen völlig kalt zu lassen. Man sah seiner herablassenden Miene deutlich an, dass ihm unsere Bemühungen um ein reinliches Geflügelheim am Hühnerpopo vorbeiging. Er hatte sich in die äußerste Ecke des Geheges verzogen und beäugte mit schief gelegtem, schwellenden Kamm unsere kraftvollen Bemühungen um Hygiene und Ordnung, während sich sein Fußvolk wie mit Blindheit geschlagene Amokläufer aufführte.
Als Kröger den kleinen, niedrigen Raum mit einem Gartenschlauch abspritzte, wobei unvermeidbarerweise auch einige Tropfen ins Gehege drangen, wollte die Aufregung unter dem derart geplagten Federvieh kein Ende nehmen. Wehklagend schlugen die Hennen mit den Flügeln, stoben in alle Richtungen auseinander, flatterten hoch wie vom Wind geblähte Papierservietten und zeterten herum wie von allen guten Geistern verlassen. Ein paar von den Viechern machten sich gegenseitig verrückt, stoben auseinander, dass die Federn nur so flogen, und scheuchten sich von einer Ecke in die andere, um im nächsten Augenblick gackernd zusammenzuglucken.
Jetzt tratschen sie wieder über mich, hätte Leni gekichert. Wie die Weiber, hätte sich Hannes seiner – meiner festen Meinung nach – latent vorhandenen Frauenfeinlichkeit Luft verschafft.
Ich hörte Kröger tiefe Seufzer ausstoßen. Offenbar machte er sich tatsächlich Sorgen darüber, dass die empfindsamen Seelen der Hennen durch diese Aktion großen Schaden nehmen könnten; möglicherweise befürchtete er sogar negative Auswirkungen auf die bevorstehende Eierproduktion. Niemand auf Hof Lachau schien auch nur im Entferntesten zu ahnen, welch rigoroser Methoden sich Leni beim Eiereinsammeln bedienen musste, wenn sie die täglich anfallende Arbeit in der Küche halbwegs schaffen wollte.
Ich vertiefte mich einen Moment lang in den Anblick der verrückten Hühnerschar und rief mir Lenis letzte stolze Worte ins Gedächnis, mit denen sie ihre Schutzbefohlenen gewürdigt hatte: „Unsere Hühner sind besonnen(!) und zutraulich, weil wir sie gut behandeln. – Pustekuchen!