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ins Buch, verstanden? Die Öffentlichkeit darf nichts davon erfahren. Es bleibt unter uns. Ab jetzt haben wir zwei ein Geheimnis. Nur wir zwei.
Verstanden, sagte sie und erwiderte seinen Blick. Schneider streute ein warmes Lächeln ein. Sie gefiel ihm immer mehr, eigentlich war sie fast schon ein Einzelstück. Etwas Besonderes. So ein Weib muss man einfangen und für immer behalten, dachte er. Fast musste er sich zwingen, nicht ins Schwärmen zu geraten und seine Begeisterung für sie offen zu zeigen.
Als ich noch ein Student war, begann Schneider mit seiner Erzählung, hatte ich kein Geld. Sie wissen ja, dass meine Eltern arme Handwerker aus der Bad Tölzer Provinz waren. Ich war der Erste aus der Familie, der studieren durfte, und das auch erst nach zähem Ringen. Meinem alten Herrn wäre es ja lieber gewesen, wenn ich Schuster geworden wäre wie er.
Das wusste sie freilich alles. Sie kannte seine Lebensgeschichte in- und auswendig. Zumindest den offiziellen Teil.
Ich studierte also vor mich hin, fuhr Schneider fort, obwohl ich viel lieber direkt zum praktischen Teil übergegangen wäre. Doch ich hatte kein Geld, um ein Unternehmen zu gründen, und auch keine zündende Idee. In einem Kurs an der Uni lernte ich dann den guten alten, naiven Sebastian kennen, der, wie Sie ja wissen, ein gutes Produkt entwickelt hatte. Ich wollte es unbedingt vermarkten, hatte schon die tollsten Ideen, doch immer noch kein Geld. Sebastian auch nicht, und nachdem seine Eltern Schwaben waren, konnte er ihnen auch keines abschwatzen. Hier lachte Schneider ein kehliges Lachen.
Kurz gesagt, wir mussten damals beide kräftig Klinken putzen gehen. Fast schon verzweifelt suchten wir irgendwen, der uns das Geld lieh, um Sebastians Erfindung in einer eigenen Firma zu vermarkten. Doch niemand war bereit, zwei milchgesichtigen Studenten ohne Kohle ihre Geschäftsidee zu finanzieren. Die Zeiten waren damals so, die New-Economy-Blase noch nicht in Sicht, und Investoren mit dem Mut zum Risiko eine rare Spezies. Sebastian und ich waren nach einigen Monaten genervt und, ich gebe es gerne zu, verzweifelt. Da kam dann aber, gerade rechtzeitig, der Zufall ins Spiel, von dem ich vorher erzählt habe.
Sie richtete sich in ihrem Stuhl auf. Jetzt wurde es interessant, das spürte sie.
Schneider baute eine Kunstpause ein, während derer er auf seine Hände blickte. Er kostete die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner schönen Tischdame aus. Die Sekunden dehnten sich endlos. Langsam wird es peinlich, dachte sie. Irgendwann räusperte er sich dann doch und fuhr fort.
Eines Morgens war ich unterwegs zu einer Vorlesung an der Uni. Ich kam aus der U-Bahn und ging außen um das Hauptgebäude herum zum Eingang in der Adalbertstraße. Da war um diese Zeit natürlich noch nicht viel los. Vor mir auf der Straße sah ich etwas liegen, einen schwarzen Beutel. Ich blickte mich um, doch niemand war zu sehen, der den Beutel verloren haben könnte. Ich öffnete ihn und fand darin siebentausend Mark in Banknoten, ein großes Bündel zusammengerollter Scheine.
Er schwieg und lächelte. Sie sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
Wem gehörte das Geld, fragte sie und wunderte sich, dass ihre Stimme von weit entfernt zu kommen schien.
Einem gewissen Alvaro Rodriguez, erwiderte Schneider mit süffisantem Unterton. Woher ich das weiß? Tja, in dem Beutel steckte auch ein Zettel, da stand sein Name drauf und seine Anschrift in Ecuador.
In der entstandenen Gesprächspause trank Schneider sein Glas leer und bestellte mit einem Fingerschnippen und einer lässigen Geste ein weiteres beim Kellner.
Und so fiel mir das Vermögen, das wir zur Gründung unserer Firma brauchten, einfach so in die Hände, sagte er schließlich. Verrückt, nicht wahr? Alles von dem, was mir anschließend Gutes widerfahren ist, verdanke ich diesem Zufall. Das habe ich niemandem erzählt, auch nicht Sebastian. Der war mit der Geschichte zufrieden, dass meine Eltern mir das Geld geschenkt hatten, das aus dem Verkauf des Hauses meines verstorbenen Großvaters stammte. Kompletter Unfug natürlich, aber Sebastian war nicht der Typ, der da nachfragte. Dafür war er zu simpel gestrickt und leichtgläubig.
Es war das Geld eines Austauschstudenten aus Ecuador, sagte sie mit kaltem Unterton in die folgende Gesprächspause hinein. Er hatte sein gesamtes Vermögen für das Semester in bar in diesem Beutel dabei. Er muss verzweifelt gewesen sein.
Vermutlich war es so, sagte Schneider. Tja, so ist das Leben. Der gute Alvaro wird es überlebt haben. Hier in Deutschland verhungert doch niemand, nicht wahr? Auch kein Ecuadorianer. In seinem Wohnheim wird ihn schon jemand durchgefüttert haben.
Haben Sie versucht, ihn ausfindig zu machen und ihm das Geld zurückzugeben?
Schneider stutzte. Er sah ihr lange ins Gesicht. Schwitzte er etwa? Zumindest hatte sein Kopf eine rötlichere Färbung angenommen. Nein, sagte er endlich, doch seine Stimme klang leiser als zuvor, weniger selbstherrlich. Nein, das habe ich nicht. Ich konnte das Geld doch gut gebrauchen. Meine Zukunft stand auf dem Spiel. Unsere Zukunft, korrigierte er sich, Sebastians und meine.
Und Alvaro Dominguez konnte das Geld also nicht gut gebrauchen?
Was weiß denn ich, gab Schneider zurück. Hätte er halt besser auf das Geld aufgepasst. Wenn ich in Ecuador einen Beutel mit meinem gesamten Vermögen verloren hätte, dann wäre ich auch verratzt gewesen, oder etwa nicht? Schneiders gute Laune war verflogen, er wirkte verärgert und – was sie am meisten überraschte – verunsichert.
Ist Ihnen der Gedanke nie gekommen, das Geld nicht selbst zu behalten?
Doch, natürlich, sagte Schneider und wischte sich mit einer Serviette den Schweiß von der Stirn. Der Gedanke kam mir natürlich schon. Wissen Sie, ich komme ja selbst aus armen Verhältnissen, und … Aber … wir waren … hier verfiel Schneider in Schweigen. Missmutig trank er sein viertes Glas Wein in zwei großen Schlücken aus.
Es ist, wie es ist, sagte er schließlich. Nicht mehr zu ändern.
Sie schwieg und starrte ihn an. Dann war sie es, deren Mund sich zu einem hämischen Lächeln verzog. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Der große, aufgeblasene Peter Schneider wurde vor ihren Augen kleiner und kleiner. Eine einfache Frage hatte aus dem Ballon, der dieser Mensch war, die Luft entweichen lassen. Die Fassade des erfolgreichen Geschäftsmannes, der unbeirrt seinen Weg ging, sie bröckelte. Er zweifelte an sich, möglicherweise zum ersten Mal. Ihn so zu sehen, bereitete ihr eine geradezu diebische Freude. Nun war es Zeit für den Dolchstoß.
Dass ein so aufrechter und korrekter Mensch wie Sie, Herr Schneider, das Geld nicht zurückgegeben hat, macht mich traurig. Ich habe Sie bisher bewundert, aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Sie haben mich bewundert?
Aber natürlich. Ihre Lebensgeschichte ist außergewöhnlich, und eigentlich hielt ich sie immer für das Musterbild eines durch und durch integren Menschen. Und, fügte sie mit einem eindringlichen Blick hinzu, ich habe eine Schwäche für Menschen, die das Herz am richtigen Fleck haben.
Schneider starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an.
Aber leider, fuhr sie fort, habe ich mich getäuscht. Was Sie gemacht haben, kann ich nicht gutheißen. Und es ist nicht wieder gut zu machen. Das macht mich sehr traurig.
Warten Sie, rief Schneider, der Verzweiflung nahe. Sie haben Recht, ich war ein Narr. Ich hätte mich um den armen Kerl aus Ecuador kümmern müssen. Wer weiß, wie es ihm ergangen ist! Vielleicht hat er meinetwegen auf der Straße leben müssen. Das war ungerecht von mir, das war falsch! Ich mache es wieder gut! Ich habe Geld, ich mache ihn ausfindig, ich zahle ihm eine Entschädigung.
Wenn es dafür nur nicht schon zu spät ist, sagte sie und machte ein trauriges Gesicht. Wer weiß, ob er nicht verhungert ist? So etwas kann durchaus auch in einer wohlhabenden Stadt wie München passieren.
Sie stand auf und legte ihre Hand auf Schneiders Schulter. Ich bedanke mich jedenfalls für den schönen Abend und die Einladung. Wenn ich noch Fragen zum Buch habe, melde ich mich bei Ihnen.
Schneiders Schulter zitterte.
Halt!, rief er ihr hinterher durch das ganze Restaurant. Er stand auf und kam auf sie zu. Im Eingangsbereich, bei der Garderobe, fasste er sie bei den Schultern.
Gehen Sie nicht! Hören Sie: Ich mag Sie sehr gern! Vergessen wir das Buch. Fangen wir das Gespräch noch einmal von vorne an. Geben Sie mir noch eine Chance!
Was erwarten Sie von mir, Herr Schneider, fragte sie.
Machen Sie mich zu einem besseren Menschen!
Die Gäste im Speisesaal drehten irritiert ihre Köpfe.
Ich fürchte, das kann ich nicht, Herr Schneider. Sie sind ein Mensch, der sich nicht ändern kann. Dafür sind sie zu skrupellos.
Nein! Tun Sie mir das nicht an!, brüllte Schneider. Doch sie war schon weg, und er kam ihr nicht hinterher.
Auf dem Nachhauseweg war sie so glücklich wie seit Jahren nicht mehr. Die Welt erschien ihr bunt und schwerelos. Sie pfiff ein Lied, irgendeine Melodie aus dem Radio, und beim Aussteigen gab sie dem Taxifahrer ein stattliches Trinkgeld. In ihrer kleinen Zweizimmerwohnung in der Maxvorstadt angekommen, fiel sie rasch in einen tiefen und traumlosen Schlaf.
Am nächsten Vormittag, es war ein Samstag, ging sie in ihr Stammcafé in der Türkenstraße. Das Hochgefühl vom Vorabend hatte sich nach dem Aufstehen nicht wieder einstellen wollen. Sie begann sich zu fragen, ob sie nicht vielleicht einen Fehler begangen hatte, ob es nicht kindisch und sogar ein Stück weit verwerflich war, wie sie mit Schneider umgesprungen war, diesem selbstherrlichen, arroganten Ballon, der hinter seiner Fassade allerdings auch durchaus andere Züge offenbart hatte. Als sie ihren Cappuccino trank, dachte sie darüber nach, wie er wohl die Nacht verbracht hatte. Das Bild des in sich zusammengefallenen und schluchzenden Mannes hatte sie nicht vergessen können. Und wieder kam der Gedanke an ein Leben an seiner Seite in ihren Kopf. Ein Leben in Luxus und ohne Gedanken an materielle Nöte. Vielleicht würden die Gewissensbisse, die er nun wegen Alvaro Rodriguez verspürte, Schneider die arrogante Art austreiben. Vielleicht konnte man dann noch einmal reden.
Unglaublich, hörte sie neben sich jemanden murmeln. Ein Mann im Anzug am Nebentisch starrte auf das Titelblatt einer Boulevardzeitung, die vor ihm lag. Sofort erkannte sie das Bild Peter Schneiders. "Millionenschwerer Investor begeht Selbstmord", war dort zu lesen. "Emotionaler Abschiedsbrief gefunden", stand in kleinerer Schrift darunter. Und die Zeile: "Er litt an schweren Depressionen". Außerdem entzifferte sie eine Zeile aus dem Abschiedsbrief, den die Zeitung abgedruckt hatte: "Ich hatte niemanden, dem ich meine Schuld gestehen konnte."
Sie starrte lange schweigend aus dem Fenster.
Es ist, wie es ist, sagte sie schließlich, halblaut und zu sich selbst. Nicht mehr zu ändern.
Dann trank sie ihren Cappuccino aus und ging nach Hause.
"Der Ballon" ist eine von sieben Erzählungen im Samelband "Zufällige Bekanntschaften" (eBook oder Taschenbuch).