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waren uns einig, dass wir nicht in das gemütlichste Haus geraten sind. Aber wir werden ja nur drei Nächte hier schlafen und tagsüber bis abends in der Stadt sein.
Das Wohnzimmer war groß, alte Möbel, Couch und Sessel mit Decken bedeckt. Durch die Fenster freie und großartige Sicht über die Stadt und die davorliegende Bucht.
Die nächsten zwei Stunden hier erlebte ich als interessant und gleichzeitig etwas spannungsgeladen. Es war eindeutig, dass wir nicht so recht hierhergehörten.
Jennette erinnerte uns mit ihrer vornehm-strengen Art zu sprechen an die frühere Premierministerin Margot Thatcher. Malcolm hatte eine ganz andere, sanfte Art. Beim Gespräch mit ihm fühlten wir uns entspannt. Jennette fragte uns, ob wir etwas zu essen oder lieber Tee bzw. Kaffee trinken wollten. Eine Tasse Kaffee bitte. Jennette wies uns unsere Plätze an: Ich auf die Couch, Gullan in eine der Sessel. Der andere ist der Stammplatz von Malcolm. Sie setzte sich zu mir auf die Couch.
Beim anschließenden Gespräch erzählten wir von uns und sie von sich. Wir erfuhren, dass sie vor 20 Jahren geheiratet haben. Beide hatten schon eine Ehe hinter sich. Malcolm war viele Jahre norwegischer Generalkonsul in Wellington. Er war mehrmals in Norwegen und auch einmal in Schweden. Vor zehn Jahren erhielt er den Königlich Norwegischen Verdienstorden. Er sollte ihn in Oslo aus der Hand von König Harald entgegen nehmen. Dieser war jedoch verhindert und ein "Ersatzmann" überreichte ihm den Orden. Man merkte Malcolm an, dass er zugleich gerührt und stolz über die Auszeichnung war. An einen anderen Besuch 2004 in Oslo konnten sich beide sehr gut erinnern. Sie waren im Munch-Museum als dort das weltberühmte Gemälde "Skriet" ("Der Schrei") von zwei bewaffneten Männern geraubt wurde. Die Polizei sperrte das Museum, alle Anwesenden wurden verhört.
Gullan und ich erzählten u. a., dass wir uns 1970 in Deutschland, am Bodensee, kennengelernt hatten. Daraufhin sagte Jennette, dass ihre Tochter heute in Baden Baden, südöstlich des Bodensees, wohnt. Ich wagte einzuwenden, dass Baden Baden eher nordwestlich des Bodensees liegt. Das gefiel Jennette gar nicht. Sie stand auf, holte einen Atlas und setzte sich wieder neben mich auf die Couch. Sie blätterte und blätterte. Ich sah, dass sie ständig südlich des Bodensees suchte, in der Schweiz und Österreich. In der Etikette etwas ungeübt, erlaubte ich mir, mit meinem Finger auf die Karte zu zeigen und sagte, sie müsse auf der anderen Seite des Bodensees suchen. Sie gab mir eine scharfe Zurechtweisung im besten Oxford-Englisch. Ich konnte mich nur stammelig entschuldigen. Baden Baden wurde nie gefunden. Die Lady schloss das Buch und legte es beiseite.
Sie fragte nach meinem Beruf. Sie wollte mehr erfahren von dem ungebildeten Typ neben ihr. Wir sprachen über Kernkraftwerke, Chemieanlagen, kamen auf Greenpeace und deren von den Franzosen in Auckland versenktem Schiff Rainbow Warrior zu sprechen. (Ein Glück, dass wir das Gedenk-Schild am Hafen von Auckland gesehen und gelesen haben, wir konnten mitreden.)
Jennette erwähnte auch, dass sie jetzt Künstlerin ist und zeigte uns auch einige Gemälde. Morgen früh hat sie ein Treffen mit anderen Künstlern. Sie kann leider nicht mit dabei sein, wenn Malcolm uns auf einen hochgelegenen Aussichtsplatz über die Stadt bringt und danach in der Innenstadt absetzt, wenn wir einverstanden sind. Natürlich waren wir das.
Wir bedankten uns für den netten Abend, dass sie uns als Gäste in ihr Haus eingeladen haben und dass wir uns freuen würden, wenn sie uns einmal in Schweden besuchen würden. Ich schaute auf das ziemlich große Teleskop, das vor dem Fenster stand. Malcolm sagte: Morgen ist Vollmond, dann machen wir einen Blick auf ihn. Das gefiel mir, ich dachte an den Vollmond beim gemütlichen Zusammensein mit Kate und Leon in Canberra vor genau vier Wochen. Jennette lud uns für 8:30 Uhr zum Frühstück ein. Morgen ist Sonntag und Jennette fragte, ob wir sonntags in die Kirche gehen. Wir verneinten. Ich konnte nicht erkennen, wie sie diese Antwort aufnahm.
Wir gingen in unser Zimmer und atmeten aus. Schön, dass Jennette morgen bei der Fahrt in die Innenstadt leider nicht dabei sein kann. Die Nacht war einigermaßen, trotz neuer Umgebung mit ungewohntem Geruch.
Sonntag 28. Februar
Punkt 8:30 Uhr waren wir bereit zum Frühstück. Unsere Gastgeber kamen mit der neuesten Nachricht aus dem Radio: Ein kräftiges Erdbeben, mit Stärke 8,8 auf der Richterskala, hat sich vor Chile ereignet. Es muss in den nächsten Stunden mit einer Flutwelle entlang der gesamten Ostküste von Neuseeland gerechnet werden. Die Straßen im Hafenbereich der Innenstadt Wellingtons sind sicherheitshalber gesperrt.
Wir hatten vor, zuerst oberhalb der Stadt zu fahren und einen Aussichtsplatz zu besuchen. Danach werden wir sehen wie das in der Innenstadt aussieht. Eine andere wichtige Auswirkung des Erdbebens in Chile war, dass Jennette jetzt doch bei der kurzen Rundfahrt dabei ist. Das Künstlertreffen wurde wegen der Flutwarnung verschoben.
Das Frühstück nahmen wir im relativ kleinen Esszimmer neben der Küche ein. Jennette setzte sich auf ihren Stammplatz mit dem Rücken zur Tür und mit Blick auf das Fenster und wies uns unsere Plätze an. Ich rechts neben ihr und Gullan ihr gegenüber auf der anderen Schmalseite des Tisches. Malcolm saß mir gegenüber. Der Tisch war spartanisch gedeckt: Toast, Butter, Käse, Honig. Jennette hatte ihren Tee bereits vor sich. Malcolm ging in die Küche und kam mit dem Kaffee. Das war seine Aufgabe, er war auch Kaffeetrinker. Der Small Talk verlief ganz gut, korrekt, förmlich. Wir warteten auf eine Gelegenheit, mit Malcolm allein zu sein. Wir hatten das Gefühl, dass wir uns gut verstehen würden. Im Beisein seiner Frau kam er nicht richtig zum Zug. Diese Gelegenheit sollten wir morgen bekommen.
Nach dem Frühstück fragten wir, ob wir kurz nach Schweden anrufen durften um zu hören, ob unser Terrassendach von der Schneemasse eingedrückt wurde oder doch vorher geräumt werden konnte. "Natürlich, sonntags kann man sehr billig telefonieren." Wir sprachen mit "unserem" Handwerker Michael und erfuhren, dass er das Dach geräumt hat. Wir wollten das Gespräch bezahlen und reichten Jennette 5 Dollar, die ohne Diskussion angenommen wurden.
Unsere Gastgeber gingen nach oben, um sich fertig zu machen für unsere gemeinsame Autotour. Wir bekamen eine halbe Stunde Zeit, um uns draußen etwas umzusehen. Endlich. Normalerweise mache ich das immer vor dem Frühstück.
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© Willi Grigor, 2010 (Rev. 2017)
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