Gefährlicher Sommer (Teil 15; 2. Hälfte) - Page 5

Bild von Annelie Kelch
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Die können einen Menschen nicht von einem Esel unterscheiden“, fing Hannes wieder an, auf dem armen Blässhuhn rumzuhacken.
„Gibt es da denn überhaupt Unterschiede?“, fragte Kora und griente Hannes süffisant ins Gesicht.
„Bei mir schon, liebe Kora“, betonte Hannes, „ich weiß allerdings nicht, wie es ...“
„Eventuell gibt es hier ein Blässhuhnnest, irgendwo am Tümpelrand“, sagte Konny verträumt und ließ seine blauen Augen durch die Gegend schweifen.
„Das reinste Paradies“, schwärmte Kora. „Aale, Hechte und Karpfen.“
„Und das Wasser ist so klar wie Gin“, ergänzte Konny.
„Als ob du was von Gin verstündest. Gerade du, Konny. Muttersöhnchen.“
Hannes sah Konny spöttisch an.
„Oho“, machte Kora. „Konny war schon mal richtig betrunken. Auf der letzten Geburstagsfeier bei meiner Freundin.“
„Sag ich doch. Der Bursche verträgt nichts“, spottete Hannes. „Und jetzt wird endlich gean­gelt. Ihr haltet ab sofort alle die Klappe. Ich dulde keine Widerrede.“
In Hannes' Gegenwart kann man glatt zum Revoluzzer werden, liebe Christine. Jedenfalls verspüre ich von Mal zu Mal stärker den Drang zum Rebellentum, sobald er seine Befehle vom Stapel lässt.
Es war mittlerweile mörderisch heiß. Die Sonne glühte unverdrossen vom strahlend blauen Himmel. Ich dachte an Knut und Helge und konnte einfach nicht fassen, was Hannes und ich ange­zettelt hatten. Wenn Helge nun in den Tod gerast war? – Dann hat er selber Schuld. Dann hat er mit Sicherheit auch Knut umgebracht. Er hätte ja mit dem Erpresserbrief zur Polizei gehen können, hörte ich Hannes mit einem Mal sagen. Ich schreckte hoch. Hannes saß friedlich am anderen Ufer des Baggersees und starrte auf die Angeln und in das angeblich ginklare Wasser. Konny saß einträchtig neben ihm. Es war ein Bild für die Götter. Tante Selma und Axel Kröger wären begeistert gewesen. Nur meine Freude hielt sich beträchtlich in Grenzen. Soweit war es mit mir gekommen: Ich hörte Stimmen, obwohl niemand etwas gesagt hatte, Christine.
Erschöpft ließ ich meinen Kopf zurück auf das Gras sinken. Ich vernahm das Rascheln der Vögel im Schilf, das seichte, unregelmäßige Schwappen des Wassers ans Ufer. Die schwüle Luft war noch um einiges ärger als die Hitze, und ich wusste nicht, ob die vielen schwarzen Pünktchen vor meinen Augen ein schläfrig taumelnder Mückenschwarm unter einer Glasglocke war, die man über mein Gesicht gestülpt hatte, oder ob mein Kreislauf sich auf diese Art verabschieden wollte. Meine Lider fühlten sich schwer und müde an, als hätte sie jemand mit lauwarmen Kieselsteinen bedeckt, und die trockene Luft kratzte in meinem irgendwie wundem Hals, dabei hatte ich für meine Verhältnisse relativ wenig geredet. Ich sah ein, dass ich mir zu viel zugemutet hatte, aber gleichzeitig wurde mir klar, dass Hannes und ich die Sache mit Helge zu Ende bringen mussten. Zu einem möglichst guten Ende, nur wie?!
Ich lag im Schatten unter einem Baum, doch auch hier war es schwül. Am gegenüber liegenden Ufer schimmerten rötliche Haferfelder. Wenn sich doch nur eine einzige Ähre geregt hätte! Aber die brütend heiße Luft ruhte erstarrt wie Lenis frisch gebackene Erzeugnisse unter einer Tortenhaube; sie dampfte förmlich vor aufgestauter Glut. In der Luft schwebte ein starker Duft von Kamille, die auf den verwilderten Wiesen wuchs.
Klasse Wetter für die Getreideernte, vielleicht ein bisschen zu schwül, würde Hannes' Vater sagen. Mir fiel dazu einzig und allein „Waldbrandgefahr" ein. Mein heißes Gesicht lechzte nach Wind, aber da war kein Wind, nicht der geringste Hauch. Die Sonne stach unbarmherzig aus einem blauen, wolkenlosen Himmel auf uns herab.
„Ich muss ganz dringend Pipi“, flüsterte Kora. Sie hatte sich über mich gebeugt und eine ihrer Haarsträhnen kitzelte meine Nase. Ihr Mund schwebte über meinem rechten Ohr. „Ich verziehe mich in das Feld dort hinten. Da steht der Weizen günstig.“
„Mensch Konny, du hast was am Haken“, schrie Hannes plötzlich. Gleich darauf hörte ich, wie die Angelschnur aus der Spule surrte.
„Schiet! Einfach weggehechtet, dieser glitschige Kerl!“ Das waren die letzten Worte, Hannes' Worte, die ich gerade noch mitbekam, bevor die betäubende Hitze mich restlos einlullte und ich in einen Schlummer sank, der mich ins einfallsreiche Land der Träume driften ließ:
Hannes rief: „Ich habe was gefangen! Kommt alle her! Das muss ein Riesenkarpfen sein! Davon habt ihr nächstes Jahr noch gut, Katja!“
„Nächstes Jahr ist er verschimmelt und schlimmer, du Dumpfbacke“, Konny spuckte verächtlich ins Wasser.
„Da, ein Arm“, stammelte Kora entsetzt. „Du hast einen Menschen geangelt, Hannes. „Zieh doch! Zieh!“ Sie deutete auf einen braunen, sehnigen Männerarm, der schwer wie Blei an der Angel hing. Er war blutverschmiert und blaue Stofffetzen klebten auf der Haut.
„Ich bin ein Menschenfischer“, deklamierte Hannes mit feierlicher Miene und warf sich in die Brust.
„Das halte ich nicht mehr aus. Jetzt glaubt er schon, er sei Jesus“, stöhnte Konny auf, krümmte sich und vergrub verzweifelt sein Gesicht in den Händen.
„Mein Gott! Das ist ja Helge“, schrie ich. „Helge! Er hat sich ertränkt! Und wir sind schuld daran, Hannes und ich. Wir sind schuld!"

„Jemand rüttelte mich heftig an den Schultern. „Katja, wach auf. Du hast geträumt und deiner Mimik nach zu urteilen, nichts Erfreuliches.“
Ich schlug die Augen auf und sah Hannes' Gesicht dicht über meinem schweben. In seinen dunkelbraunen Augen tanzten gelbe Pünktchen.
„Helge?“ stammelte ich. „Ist er ...?“
„Wo ist Kora?“, fragte Hannes streng, anstatt eine Antwort zu geben. Ich brauchte einen Moment, um zu mir zu kommen. Dann sagte ich mit fester Stimme: „Pipi machen – im Winterweizen.“
„Katja“, stöhnte Hannes, „du hast fast zwei Stunden hier gelegen und geschlafen. Du willst mir doch nicht weismachen, dass Kora zwei Stunden zum Pinkeln braucht.“
Ich fuhr erschrocken hoch. „Das war natürlich schon, bevor ich eingeschlafen bin“, stammelte ich verwirrt.
„Natürlich“, sagte Hannes ungeduldig, „anderenfalls würdest du ja gar nicht wissen, dass sie ins Weizenfeld wollte.“
„Vielleicht ist sie ja schon nach Hause ...“
„Ohne ihr kostbares Vehikel wohl kaum.“ Hannes deutete auf Koras neues Fahrrad, das an einer alten Weide lehnte.
„Irgendetwas muss passiert sein!“
Konny, der vom Angelplatz herübergekommen war und die letzten Sätze mitangehört hatte, war den Tränen nahe.
„Konny“, befahl Hannes. „Reg dich jetzt bitte nicht auf. Du bleibst hier und angelst weiter. Katja und ich machen uns auf die Suche nach Kora. Wir dürfen auf gar keinen Fall ohne sie nach Hause kommen. Dann ist unser Traum vom freien Feriendasein ausgeträumt. Auf Jahre! Das wisst ihr doch wohl hoffentlich, oder?“
Konny und ich nickten betreten, obwohl uns beiden wahrscheinlich nicht klar war, was Hannes unter einem freien Feriendasein verstand.
„Komm, Katja“, sagte Hannes und zog mich zu Lenis Fahrrad. „Wir suchen zuerst das Weizenfeld ab. Kümmere dich nicht um den Weizen. Von wegen Schaden und so, wegen des Durchlatschens. Davon wird Hof Lachau nicht ärmer, und überhaupt ist Kora jetzt am wichtigsten.“
Ich hatte mich geweigert, die Hälfte des Ackers allein abzusuchen und trabte brav im Weizendschungel hinter Hannes her. In der Luft schwebte ein zarter Ährenstaub, der angenehm würzig roch, aber Getreidefelder, in denen es zu allem Überfluss von Insekten nur so wimmelte, waren mir schon immer unheimlich gewesen, und ich verstand ganz und gar nicht, wie man sie etwa als „wogendes Meer aus Ähren und Halmen" bezeichnen konnte. Einzig und allein der das Korn schmückende Klatschmohn, der zwischen den Halmen aufglühte und sein flammendrotes Blut über die Felder goss, beeindruckte mich, und ich warnte Hannes davor, ihn versehentlich zu zertrampeln.
„Weißt du, wie Mohn auf Norwegisch heißt?“, fragte ich ihn.
„Keine Ahnung.“ Hannes zuckte gleichgültig mit den Schultern.
„Vale“, sagte ich. „Und das bedeutet, tiefer Schlaf'. Schön, nicht wahr?“
„Wenn du meinst“, grummelte Hannes.
„,Die Mohnblume' heißt übrigens ,en valmue'.“
„Ja, ja“, sagte Hannes. „Das ist ja ganz entzückend, aber nicht von Bedeutung. Wichtig ist einzig und allein, dass wir Kora finden, sonst bringt Tante Selma mich um. Und mal ganz davon abgesehen, spinnst du schon wieder, Katja! In den unreifen Fruchtkapseln steckt nämlich Opium. Das Zeugs betäubt einen schon, wenn man nur daran schnuppert. Das ist Rauschgift! Daran kann man sterben!“
„... aber auch geheilt werden: bei Schwindel, Tobsucht, Melancholie ... als letztes Mittel, wenn nichts mehr hilft“, verteidigte ich meine Lieblingsblume mit dem lebensgefährlichen Saft und linste gegen die blendende Mittagssonne, die wie mit Röntgenstrahlen durch Hannes' schmalen Rücken hindurchzufunkeln schien. Aber natürlich hatte er wieder das letzte Wort.
„Mohn wird auch zu Kunstmist verarbeitet und im Speiseöl stecken mindestens dreißig Prozent, also irgendwie auch völlig unspektakulär, dieses Zeug."
Die Sonne sank träge landeinwärts, eine schwache Brise streunte durchs Kornfeld, die Bienen summten, und hin und wieder drangen spitze Stoppeln durch meine dünnen Schuhsohlen und piesackten mich. Weit in der Ferne hörten wir einen Traktor brummen und über dem schwankenden Weizen zitterte heiße Luft.
„Nichts“, flüsterte Hannes fassunslos, nachdem wir jeden Millimeter des Feldes abgesucht hatten.
„Gott sei Dank“, flüsterte ich. „Sie hätte auch tot im Feld liegen können.“
„Katja, weißt du überhaupt, was das bedeutet?“, schrie Hannes und schüttelte mich. „Kora ist entführt worden! Und nun rate mal von wem und weshalb.“
„Von Helge“, hauchte ich heiser. „Damit wir ihn in Ruhe lassen. Das mit dem Erpresserbrief war allerdings nicht meine Idee.“
„Kluges Mädchen“, sagte Hannes. In seiner Stimme schwang Bitterkeit und Zorn.
„Das ist doch der mieseste Schuft ...“ Er kam nicht weiter.
Mich hatte urplötzlich ein Gedanke gepackt, der mich nicht wieder losließ.
„Hannes“, flüsterte ich , „wenn es nun der Masken­mann war.“
„Verdammt“, fluchte Hannes, „an diesen Kerl hab ich überhaupt nicht mehr gedacht.“
„Es sei denn ...“, begann ich stockend.
„Ja?“, fragte Hannes – voller Hoffnung, wie mir schien.
„Es sei denn, er und Helge sind ein und dieselbe Person.“
„Ach Katja“, seufzte Hannes und legte seinen Arm um meine Schulter. „Ich mag gar nicht daran denken, dass Kora etwas passiert sein könnte, geschweige denn wie Konny darauf reagieren wird. Er liebt seine Schwester so sehr.“
Seine Augen standen voller Tränen. „Ich weiß. Oh Gott, Hannes, was sollen wir nur tun?“, flüsterte ich und erschrak über meine eigene Verzweiflung, die sich in meine Stimme geflüchtet hatte.
„Fahren wir die Waldwege ab“, sagte Hannes plötzlich. Es hatte den Anschein, als schäm­te er sich für diesen kleinen Moment seiner vermeintlichen Schwäche (die ich als Stärke empfand, liebe Christine). In seinem Ton schwang bereits wieder die rechthaberische alte Entschlossenheit mit. „Wir müssen Cora finden, und zwar lebendig“, fuhr er mit energischer Stimme fort. „Ich könnte Tante Selma sonst nie mehr in die Augen sehen.“

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Kommentare

31. Aug 2017

Starke Bilder, geschickt komponiert -
Die Story weiter fasziniert!

LG Axel

31. Aug 2017

Dank, Axel, dir, für deinen Kommentar.
Die Handlung zu entwickeln Arbeit und Vergnügen war.

LG Annelie

31. Aug 2017

Hallo Annelie,
verfolge gespannt Deinen Text.
Die Geschichte gefällt mir sehr gut,
jede Zeile ein Erlebnis und so nah
am Leben !!! Natürlich ist Dir die Collage
exzellent gelungen.
Mal schauen wie es weiter geht .....?!
Gruß, Volker

31. Aug 2017

Danke, Volker, für deinen freundlichen Kommentar.
Ich freue mich sehr, dass auch du die Story liest
und mit der Handlung offenbar zufrieden bist.
Wie 's weitergeht?, ich hoffe spannender und besser doch;
der wahre Mörder wird gefasst - das weiß ich noch.
Ist schon so lange her, dass ich das Manuskript verfasst,
bin froh, dass es auch in die Zeit heut' passt.

Liebe Grüße,
Annelie

31. Aug 2017

Kompliment, Annelie, wieder spannend; auch die Collage beeindruckend, besonders das Kennedy-Zitat gefällt mir, es passt in unsere Zeit.

Liebe Grüße - Marie

31. Aug 2017

Mariechen, danke herzlich für die Blumen.
Die Story hat wahrhaftig ein beträchliches Volumen.
Dass du mich liest, das macht mich mächtig stolz;
auch John Fitzgerald war geschnitzt aus "unserem Holz".

Liebe Grüße,
Annelie

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