Gedanken, Gedichte im ersten Corona-Halbjahr - Page 3

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Finsternis und eine mit Licht.

(Åsne Seierstad ist eine norwegische Schriftstellerin und Journalistin.)

Warum freut man sich

Warum freut man sich weniger über das Positive, das zwei Tage zurückliegt,
als über das, was uns in zwei Tagen erwartet? Das ist die erste Frage, die
herabrieselt an diesem sonnigen Morgen. Das ist vielleicht kein besonders
großes Mysterium, aber wir werden scheinbar von der Möhre gesteuert,
die kurz vor unserer Nase taumelt. Vermutlich sehr "biologisch" bedingt:
die Belohnung.

Das Lebensprojekt, das die Ambition reduziert ein gewisses Ziel zu erreichen:
anstatt ein geschickter Arzt zu werden und einen bedeutenden Einsatz für
die Menschheit zu leisten, fünf Kilo abnehmen, das Rauchen aufgeben oder
jeden Morgen/Abend Zahnseide benutzen. Die lange Perspektive austauschen
für ein mehr naheliegendes Ziel ist sicher sehr menschlich.
Man kann die Perspektive aus verschiedenen Gründen wechseln. Aus einer
plötzlichen Einsicht oder einem Zwang. Zum Beispiel frühzeitig zu einem
Termin oder einer gebuchten Reise zu kommen, anstatt jedes Mal zu hetzen.
Oder Süßwaren zu essen um Diabetes vorzubeugen. Wer durch einen Unfall
körperlich behindert wird, muss eine andere Perspektive akzeptieren. Anstelle
10 km joggen jeden Abend, wird der mühsame Spaziergang 20 m mit
Gehstock ein Rekord, der in der nächsten Woche geschlagen werden soll.

Der Mensch ist von Natur aus anpassbar, was wir uns in dieser Coronazeit
bewusst werden. Für unser eigenes Beste, und dem der anderen, müssen wir
uns in Quarantäne begeben und unsere Bewegungsfreiheit einschränken. Der
Blick durch das Fenster ersetzt den Kinobesuch, die Erinnerung an die Tage
in Prag zeigen sich mit neuer Schärfe, nun, da eine Auslandsreise nicht
möglich ist. Das, was es so schwer macht, ist vielleicht die Wahlfreiheit, an die
man sich gewöhnt hat, dass man fast alles tun kann, was man will, aber selten
tat! Aber jetzt, da die Grenzen uns umzingeln, spüren wir stärker als vorher,
wie viel uns die sogenannte Freiheit bedeutet.
Und wenn das Ganze vorbei ist, werden wir uns dann gegenseitig umarmen?
Werden durch das aufgestaute Sehnen die Besuche in die Höhe steigen?
Buchen wir die Reise nach Samarkand? Vergessen wir die Baumwurzeln
in den Waldwegen und des kleinen Baches Murmeln von den Touren, die wir
machten, da das Lenzlicht die Berge in leuchtendem Blau schimmern ließ?
Gleiten unsere ausgeweiteten inneren Räume - die unter der Quarantäne
wuchsen - hinüber in das oberflächliche Äußere, in die Fähigkeit des Alltags,
uns mit seinem eintönigen Repertoire zu okkupieren, auch dann, wenn andere
Möglichkeiten gegeben sind?

"Brecht auf, brecht auf! Der neue Tag ergraut. / Das Abenteuer schon nach
vorne schaut.", wie Karin Boye so schön schrieb und mahnte. Es gilt, das
Credo zu behalten, nicht nur wenn die illusorische Freiheit herrscht, sondern
auch während der Zeit des Mundschutzes. Wir verreisen, wenn wir können,
wir bleiben Zuhause, wenn wir müssen.

Wir tun so gut wie wir können, so lange wie es möglich ist. Das Abenteuer
schon nach vorne schaut, vom Balkon, vom Bahnsteig.

("Brecht auf, brecht auf! ..." Aus dem Gedicht "I rörelse" von Karin Boye, 1900-1941.)

Dieses Wunder

Diese Unglaublichkeit, die Sommer heißt, und mit der man die Lungen füllen möchte! Der Junimorgen reicht sein Grün in allen seinen Nuancen, dazu die knallgelben Flecken, die dieses Grün punktieren, das Gelbgrün, wenn der sibierische Erbsenbusch seine kurze Blütezeit hat, das Dunkelblau der Schwertlilie in einer schattigen Hausecke - und all das, was ohne Namen duftet, das flimmernde Weiß entlang dem Straßengraben, den Flieder, der dort am Haus steht und sich einen ordentlichen Regenschauer ersehnt.

Dies liegt weit außerhalb von "Greenwashing", "Black Lives Matter" und während eine Coronapandemie stattfindet, das meiste das "stattfindet", findet außerhalb unserer Sinneswelt statt. Vielleicht empfindet man deshalb den Sommer als so notwendig - dass auch etwas innerlich stattfinden kann und in direkter Verbindung mit all der Lebenskraft und unzerstörter Natürlichkeit, die ständig unter Druck steht. Wir sind dabei, plattgedrückte Schatten im Herbarium der Gewinnmaschinerie zu werden.

Ist der Sommer ein Blick, der versucht dem Flug der Schwalben am Abend zu folgen? Mehrere Atemzüge, bestimmt, und viele Blicke.
Schmetterlingsgeflatter, unbekümmert einige Dezimeter über dem Boden, die Brennesseln als halsstarrige Wächter neben einer ausgedienten Haustür.

Ein einsamer und sehr alter Traktor mit wüstentrockenen Gummireifen steht unter einem blühenden Apfelbaum, eine bleiche Mondscheibe wacht über einen Kranich, der seine Abendmahlzeit auf dem Acker einnimmt. Manchmal, wenn ich diesen Dorfweg in der sinkenden Sonne gehe, denke ich an ein Gedicht von Seamus Heaney, das ich gelesen habe. Seine Landschaft habe ich nicht gesehen, aber dennoch kommt mir einiges bekannt vor.

(Seamus Heaney war ein irischer Schriftsteller und Lyriker.)

Gespaltene Zeit

Wir leben in einer gespaltenen Zeit.
Abstand anstelle von Nähe.
Der Sommer liegt freigelegt
vor unseren Augen, wir sehen
wie er sich ausstreckt mit Blüten und
Düften, Vogellauten und Morgennebel,
vielleicht kühle Schatten entlang den
leeren Gehwegen, alles ist deutlich,
alles ist schön und in allzu erforderlichem
Abstand, denn nun wollen wir mit dem
Juni auf dem Knie sitzen, oder mit einem
Enkelkind auf der Schulter, wenn wir den
weichen Pfad zwischen den Birken hinunter
zum Badeplatz gehen, wo ein fast luftleerer
Wasserball in rot und weiß und gelb und blau
liegt, und nur darauf wartet, dass
jemand kommt und Luft in diesen
bereits warmen Sommertag bläst.

Alles ist auseinandergeglitten -
und zusammen - gleichzeitig,
das einzige, was die Wochentage unterscheidet,
ist deren Namen, und alleine das, dass eine
hastig einbestellte Parteiführerdebatte
am Sonntag geführt werden soll,
zeigt deutlich, dass diese Zeit eine
andere ist, als die im vorigen Herbst.
Das meiste, was sich damals gleich war,
gleicht nun etwas ganz anderem;
es ist weder der Sommer noch die Natur,
die dieses Berühren-Sie-mich-nicht-Gefühl
geschaffen hat, aber das muss bewältigt,
balanciert werden, Tag für Tag.

Dieses Licht

Dieses Licht, diese hellen und anderen Abende, sind augenbetäubend, und ich irre im Gelände umher auf der Jagd nach dem Organisationsvermögen der Ameisen, oder versuche zu ergründen, was ein Reh denkt auf dem von Wiesen-Glockenblumen überschwemmten Weideland, ständig mit der keimenden Frage: Wie ist das möglich? Wie kann die Natur so sinnreich geordnet sein - bis in das kleinste Detail.
Nicht einmal der Kranich, der Abend für Abend auf diesem Platz stolziert, kennt die Antwort - grübelt aber weiter, so wie ich.

Eines schönen Tages

Eines schönen Tages sind wir alle weg.
Karon arbeitet Tag und Nacht,
und die Fähre legt pünktlich
nach der Zeittabelle ab.
Wir sehen uns in der Cafeteria,
wir sitzen alle im gleichen Boot.

Warmer Morgen

Warmer Morgen, heißer Tag, der am Nachmittag noch heißer wird, um sich bei Sonnenuntergang und Dämmerung wieder abzukühlen. Ging dennoch die lange Tour, aber ungewöhnlicherweise mit der Sonne. Also vorbei am Badeplatz ohne über die E45 und die Alte Bogenbrücke zu springen.

Lausche auf YouTube, aber ohne Kopfhörer, damit ich die Vogellaute in mich aufnehmen kann, und denke: mehr Sommer als so kann es nicht geben. Er liegt, als wurde er ausgeschüttet über die Landschaft mit seinen Düften, Farben, Formen und Lauten. Doch ist es sehr trocken und wenn einige Quads vorbeifahren, steht der Damm wie eine Wolke zwischen uns. Und der Fluss führt wenig Wasser, die Maiglöckchen sind mehr oder weniger ausgetrocknet, aber jetzt ist der Weiß-Klee an der Reihe und verstreut seinen süßen Duft. Am Saunahäuschen stehe ich einsam. Gestern wurde die zweite Hälfte der Holztreppe gestrichen. Das Wasser ist angenehm kühl und strömt ein wenig, und ich strenge mich an, um nicht mitgezogen zu werden.

Noch ein Tag, um ihn ad acta zu legen. Die Coronawelle ist besonders von den USA, Brasilien und Indien betroffen. Die Zukunft ist unsicher, die Ökonomie ist teilweise punktiert und die Arbeitslosigkeit beschleunigt sich. Den Ausgang der Pandemie sieht man mit Furcht entgegen. Wie üblich sind es die Schwächsten, die es trifft.

Ja, man lebt hier in seiner nordischen Idylle, wo der üppige Tau den Morgen mit einem erfrischenden Gefühl versieht, auch während der Hitzewelle, die sich Ende Juni über das Land legte. Es ist kühl im Gras, Erde und Blumen vermitteln die Düfte, das Wasser im See lädt ein zu einem Morgenbad.

Wenn einem die Tage doppelt ereignisrationiert wurden, merkt man, wie viel im Kleinen unter der Oberfläche passiert, mit dem, das normalerweise um Aufmerksam pocht: im Gras findet die Realzeit statt, wie es heutzutage heißt, ein wimmelndes Leben, doch in Käferperspektive. Es krabbelt überall, und die Namen der kleinen Lebewesen, die das bewirken, kann ich nicht einmal erahnen. Aber wenn sich nun ein so kleines Geschöpf sich die Freiheit nimmt und einen Besuch auf meinem Knie macht, dann ist es völlig unnötig, eine Diskussion über soziale Distanz und ähnliches zu beginnen.
Von meinem knarrenden Sonnenstuhl genieße ich die Flugdarbietungen der kleinen, schimmernden Libellen, die sie mit improvisierter Finesse durchführen.

Tanz

Es sind die verspielten Schatten der Schmetterlinge,
die auf der sonnenroten Scheunenwand tanzen.
Darin liegt eine solche spielerische Freude,
doch ich weiß, dass ich es bin, der diese Freude
interpretiert. Ich weiß, dass die Schmetterlinge
sich nicht so viel Mühe für die Choreografie
machen, zielbewusst führen sie ihre Arbeit aus,
ohne zu trainieren, oder sich mental vorbereiten zu müssen.
Aber froh wird man, und das ist vielleicht
der Sinn dieser Abendvorstellung,
bei der ich zwei Meter Abstand (mindestens)
zu mir selbst habe.

Der Pfad

Es ist heller Abend, und ich gehe auf dem gleichen Pfad,
zum gleichen See im gleichen Sommer, der keinem
anderen gleicht, gehe mit Zoltán Kodálys Intermezzo
für drei Violinen in den Kopfhörern, und der See ist
vollkommen still, lauschend. Ich denke daran, wie die
Europakarte im Umfang sowohl schrumpft als auch steigt,
ich sehe Plätze wie Venedig, Rostock und Hammerfest,
mich ergreift eine verstockte Sehnsucht, ich möchte die
Karte aufessen, nein, ich kaufe mir ein Einzelticket
nach Triest!

Beim Heimweg auf dem Pfad bei der untergehenden
Sonne spüre ich so etwas wie Glück und tröste mich mit:
Es wird vorübergehen.

Übersetzung aus dem Schwedischen: © Willi Grigor, 2021
© Bengt Berg, 2020

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Kommentare

21. Jun 2021

Deine Gedichte und alles, was Du schreibst - werde ich mit am meisten vermissen. Wo stellst Du zukünfig ein, damit ich Deine Texte weiterhin lesen kann?
Herzliche und betrübte Grüße -
Marie

22. Jun 2021

Hallo, liebe Marie!

Leider erhält man nun auch keine Kommentar-Benachrichtigungen mehr - und die Privatnachrichten sind ja ohnehin schon längere Zeit weg ...
Das ist natürlich sehr schade - und macht es nicht leicht, die Kontakte irgendwie zu erhalten.

FB bietet da lediglich einen äußerst dünnen Ersatz - diese permanente, laute Massen-Flutung erweist sich als reichlich anstrengend und dafür wenig kunstfreundlich ...

LG Axel

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