Man rettet sich in Erinnerungen - Page 2

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einem
französischen Film Anfang der Sechziger,
mit sehr viel Attitüde.
Ca va? Ca va bien!
Und sie wärmt in diesem kältereichen Winter.
Mein Simsonhaar ist bald weg.
Meine Simsonmütze gibt mir eine andere Stärke.

11. Februar 2021

Verschenke deinen Tag an jemanden, den du liebst!
Manchmal gelingt es, und eine Wolke verzieht sich.
Manchmal behält man den Tag gierig und kleinlich.
Aber das, was man nicht weggibt, kann man nicht
behalten, denn Einsamkeit zerstört alle Werte.

12. Februar 2021

Mein ganzes Erwachsenenleben habe ich Tränen
aufgestaut. Die Kindheit war für mich, wie für
alle Kinder, selbstverständlich eine Fontäne, und
im Teenageralter und in der Adoleszenz waren
die Dammpforten noch nicht ganz geschlossen.
Danach habe ich wirklich nur selten geweint.
Doch, ich weinte, als mein Kind zur Welt kam.
Als mein Vater starb, war ich den Tränen nahe.
Ich träumte, dass ich weinte, als meine Mutter starb.
Ja, ich weinte als unser Hund dem Tod nahe war.
Und nun? In dieser schlaflose Nacht im
Krankenhaus, eine von vielen, habe ich gespürt,
wie das Wasser hinter den Staumauern steigt.
Die Mauern halten. Aber sie berichten von einer
Sintflut in einer Welt, die die meinige ist.

13. Februar 2021

Warte in der Sonne am Fenster.
Weile in der Sonne am Himmelsdom,
neun Etagen hoch und schlummre.
Musik von jungen Jahren und Duft
von gemähtem Gras durch das offene
Kellerfenster in Vingåker.
Der Horizont der Stadt ist neu für mich.
Die Wolken segeln hinweg
wie die Schiffe von Itacha.
Komme bald zurück zu meinem alten, tauben
Hund, damit er sich an mich erinnert.

14. Februar 2021

Die Schwalben der Kindheit flogen über die
Getreidefelder. Ich hatte keine Namen für sie.
Aber sie sausten durch den Schädel. Meine
Mutter sprach bissig zu den Elstern. Mein Vater
erinnerte sich an Flamingos in anderen Erdteilen.
Mein Bruder Bo kontaktierte Habichte und Adler,
glaube ich. Dan tanzte mit Spatzen.
Ich hatte meine Schwalben.
Es zog sie zu meinen Augen, sie stürzten herab
und stiegen im letzten Augenblick.

15. Februar 2021

Ich habe es gelernt,
dass es für den, der an überschlimmer,
schwerer Verstopfung leidet,
keinen Trost gibt, weder
auf Erden noch im Himmel.
Kein Ruhen, kein Buddhismus.
Mein Darm, du mein ältestes Organ,
du steigerst dich angesichts aller Gifte.
Ich rufe zu Gott und Mamma,
befreie mich von meiner Scheiße.
Und dann breche ich zusammen.
(Habe mich wieder erholt.)

16. Februar 2021

Eines Morgens wird alles erklärt.
Eines irdischen Morgens wird alles erklärt.
Dann haben die Religionen ihre Arbeit getan
und sind nicht mehr erforderlich.
Die Ideologien stehen wie ein Kolosseum
nach dem anderen, wo die Steine
für neue Bauten verwendet werden können.
Die persönlichen Überzeugungen werden
sich anhören wie Vogelgesang,
und aus einem kleinen Lautsprecher hört man
ein Lied von Procol Harum.

(Procol Harum - eine britische Rockband.)

17. Februar 2021

Heute sah man den ersten Kranich am
Hornborgarsee. Ich freue mich darauf, Kraniche
trompeten zu hören, und fliegen zu sehen mit
ihren langen Beinen, ausgestreckt hin zur Vorzeit.
Ich schließe die Augen in der leicht fiebrigen
Krankenhausnacht, und der Frühling ist einige
enorme Flügelschläge über dem offenen Himmel.

Und im Vorsommer bekommt das Kranichpaar
seine Jungen, und wir sehen, wie sie
auf den Feldern Kartoffeln plündern.

18. Februar 2021

Die Sonne brach hervor über brennende Hände.
Heute Abend beginnt das Zellgift, noch nicht
im Ernst, ich werde es nicht seh'n.
Aber ich scherze gerne darüber.
Stattdessen betrachte ich
der Friedenslilie verwunderliche Blüte.
Eigenartigerweise kann sie die Zeit
anhalten und gleichzeitig gehen lassen.

19. Februar 2021

Macht Ihnen der Ring zu schaffen?
fragte der Arzt und schaute auf meinen Ringfinger.
Die Hände waren geschwollen
wie zwei Boxhandschuhe.
Wir haben eine Spezialzange, wenn er weg muss.
Ich trage diesen Ring seit dreißig Jahren.
Ich habe ihn nie abgenommen.
Ich sah ihn glänzen in Berits Hand,
als ich um ihre Hand anhielt.
Er glitzerte aus dem dunklen Humus, der meine
Hände bedeckte, wenn ich die Erde verbesserte.
Er muss am Ringfinger bleiben...

20. Februar 2021

Plötzlicher Ambulanztransport.
Fieber. Sofort ins Krankenhaus, Routine.
Krankenwagen erinnern mich
an eine Art extrem compact living.
Apparate, ich ausgestreckt auf einer Bahre.
Die Schwester erkennt mich, als sie mich googelt,
sieht mich mit Schopf und ohne Mundschutz.
Etwas kalt ist es immer in der Ambulanz im Winter.
Hier liege ich dann, ohne weiße Blutkörperchen.
Der Arzt war früher Mitglied in der SSU, hier
kann man wohl vernünftig über Politik reden.
Der Fernseher zeigt den Film Aniara, aber ich
hörte nicht den holzflötenklaren Kuckuckruf
der Karelier, der in meiner Jugend
ein Weltbild formte.

(SSU - Schwedische Sozialdemokratische Jugendliga.
Karelien - ist eine historische Landschaft in Nordosteuropa. Heute ist sie zwischen Russland und Finnland geteilt.)

21. Februar 2021

Die Blutplättchen sinken.
Rote Blutkörperchen schwächeln.
Weiße Blutkörperchen habe ich nicht.
Großes Risiko für Blutvergiftung und
Blutgerinnsel. Kleinwunden bluten hier und da.
Komme nicht so schnell nach Hause.
Aber bemühe mich, zu schreiben, arbeiten.
Kein Heldenmut, kein großkorniger Optimismus,
nur die einzig mögliche, praktische Haltung:
Wir kamen hierher, zur Erde,
um Aufgaben zu verrichten.
Um sich am Gemeinsamen zu beteiligen.

22. Februar 2021

Denke manchmal an den Golfstrom
als ein 34 Millionen Jahre altes Kind,
das glücklich für sich selbst spielt, aber nie
verstehen wird, was des Menschen gedankenlose
exploitieren den Zivilisationen antut.
So, heute Nacht schwimme ich mit dir im Arm,
du enormes, atlantisches Kind, und all meine
Kraftlosigkeit und Brüchigkeit in dieser Nacht
ist die einzige Ausrede, die ich habe.

23. Februar 2021

Ich trage einen Schatten mit mir: einen
Infusionsständer, Schlafe mit ihm,
verbunden manchmal mit zwei Nabelschnüren.
Er folgt mir bis in die Toilette, aber ich bitte ihn
immer, außerhalb der Duschkabine zu bleiben.
Vor der Pandemie hatten sie hier in den langen
Fluren Infusionsständerläufe!
Er pfeift oft und beklagt sich und gleicht dann
einem kleinen Kind. Er ist richtig süß.
Ich manövriere meinen Schatten Tag und Nacht.
Wird keine Infusion verabreicht, steht er
still, gleich einem Kleiderhänger.

24. Februar 2021

Halb drei am Morgen erwache ich aus der Narkose.
Eine kleine Nachtoperation - die Eiterbeule im
Enddarmwurde aufgeschnitten. Infektionen sind
meine schlimmsten Feinde. Nun, das behagliche
Gefühl zu schweben. Ich bekomme ungewöhnlich
gute Gedanken über Menschen. Vom Akut-
operationssaal, in dem der Eingriff erfolgte,
erinnere ich mich nur an einen Blitz, der erlöschte.
Ich glaube, die Schwestern drinnen sagten, dass sie
genug von dem Schießen in der Stadt haben.
Die Körper landen ja im Operationssaal. Aber wie
schlimm sie auch ist, in jedem Körper gibt es einen
hartnäckigen Sonnenaufgang.

25. Februar 2021

In der zeitlosen Zeit, da das Gras zu den Horizonten
wanderte, und die Geschlechter sich in kleinen Gruppen
bewegten. Oder in der Kindheit, wo die Zeit auch zeitlos
war und ein einziger Tag für alles reichte.
Ich hebe mich aus dem Bett und gehe zum Fenster,
sehe einen Flur aus Schmerz mit zusammengefalteten
Menschen. Er streckt sich weit weg, bis nach Jemen.
Dort ist die Zeit übervoll von Schmerz.
Selbst stehe ich in der zeitlosen Zeit, in meinen
Erinnerungen und vielleicht in denen der Geschlechter.

26. Februar 2021

Plötzlich zeigt sich das Licht am Morgen.
Mein Blick verweilt auf einer weißen Wolke.
Der Himmel ist so irdisch, die Erde so himmlisch.
Es ist ein gewöhnlicher Tag in dieser Ausnahmezeit.
Sehe, dass das Personal in

© Willi Grigor, 2021
Übersetzung der "Tagesform-Gedichte" des schwedischen Dichters Göran Greider.

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Kommentare

13. Mai 2021

So hervorragend übersetzt, dass ich meine, die Texte seien in deutscher Sprache geschrieben; meinen großen Respekt vor dieser Leistung. Die hoch poetischen Tagesgedichte dieses so schwer erkrankten „politischen Debattierers, der sich Sozialist nennt“ – berühren und trösten nicht nur Kranke. Herzlichen Dank, dass Du mich daran teilnehmen lässt, lieber Willi.

Marie

13. Mai 2021

Ich danke Göran Greider, diesen besonderen Menschen, dass er mich seine Texte übersetzen lässt. Sein Deutsch ist übrigens gut.
Und dann danke ich Dir, Marie, dass Du Dich so positiv ausdrücken kannst. Das ist auch eine Kunst, die Du beherrschst.

Freundliche Grüße
Willi

13. Mai 2021

Die Kraft, die in den Worten steckt -
Sie zeigtest Du uns hier - perfekt!

LG Axel

13. Mai 2021

Wenn der Originaltext so gut ist, dass man ihn unbedingt übersetzen will, dann kommen einem auch die notwendigen Worte entgegen.
Und Göran Greider macht jeden Tag ein kurzes, aber gutes Gedicht, das er dann sofort über die Medien unter das Volk schickt. Er hat noch mindestens einen Monat vor sich, bevor er weiß, ob er weiterleben kann oder nicht. Der Mann ist ein Phänomen, nicht nur als Dichter.

LG
Willi

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