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Der Zugang zum Dachboden war normalerweise versperrt, weshalb der jungen Frau sofort die zentimeterbreite Öffnung auffiel, scheinbar durch Unachtsamkeit verursacht. Unbemerkt nutzte sie ihre Chance, drückte die Tür nach dem Passieren leise ins Schloss und schlich die schmale Treppe hinauf. Ein dank zwei kleiner Fenster ausreichend beleuchteter Raum kam zum Vorschein, nach oben hin begrenzt durch das recht spitz zusammenlaufende Dach. Direkt vor ihr ruhten einige scheinbar chaotisch verteilte Objekte in unterschiedlichen Größen, die sich unter weißen Abdeckstoffen befanden. Rana zog kräftig an dem ersten Laken, wodurch ein alter Schaukelstuhl in Erscheinung trat. Es folgten museumsreifer Kleiderschrank, nicht wesentlich jüngere Kommode, zwei Sessel und ein großer Spiegel, der dank entsprechender Vorrichtung selbstständig stehen konnte.
„Hallo meine Dame … Wer sind Sie denn?“
Es wurde erst einmal ausgiebig vor dem silbergerahmten Gegenstand posiert. Ihr nahezu symmetrisches Gesicht glich farblich edelster Zartbitterschokolade. Der restliche Teil des Kopfes war unter einem bordeauxroten Tuch verborgen. Rana blieb stehen und schaute ihrem Abbild in die tiefen braunen Augen. Wie gerne hätte sie sich in diesem Moment aufgehübscht, doch die Schminksachen befanden sich unten in ihrem Zimmer, das mit einer weiteren Person geteilt werden musste. OK, Daphne war schon irgendwie nett, aber die beiden hatten bisher nicht gerade eine tiefgehende Freundschaft zueinander aufgebaut ...
„Rana, bist du da oben?!“
„Mist …“
Instinktiv wurde eine der beiden Türen des Kleiderschranks geöffnet, glücklicherweise nahezu geräuschlos. Circa 1,70 Meter großzügig proportionierte Körpergröße verschwand in dem anschließend unauffällig von innen verschlossenen Möbelstück.
„Wer hat denn die ganzen Laken heruntergezogen?“
„Ist doch nicht unser Problem! Hauptsache wir finden sie endlich …“
Das Herz schlug ihr derweil bis in den Kopf hinein, einhergehend mit schneller werdender, aber immer noch erfolgreich kontrollierter Atmung. Gleich zwei aktuell diensthabende Personen hatten sich offensichtlich auf die Suche nach ihr begeben.
„Mensch Jessica, hier ist doch niemand … Ich geh jetzt auf jeden Fall wieder zurück, bevor es noch mehr Ärger gibt.“
Laute Schritte begleiteten das Verschwinden der Mittdreißigerin. Die Luft war allerdings noch nicht rein, denn Nummer zwei schien sich nach wie vor in Ranas Nähe aufzuhalten.
„Natürlich, warum bin ich da nicht schon früher drauf gekommen?“
Ohne Vorankündigung wurden beide Schranktüren regelrecht aufgerissen. Jessica, sehr schlank, mit Anfang zwanzig ungefähr in Ranas Alter, stand in ihrer gänzlichen Autorität direkt vor dem sicher geglaubten Versteck.
„Ich wollte das wirklich nicht! Bitte …“
Keine Reaktion, so als ob sie nichts gehört hätte ...
„Verdammt!“
Wutentbrannt verschwand die Pflegerin und ließ eine offensichtlich fassungslose Rana zurück. Es passte einfach nicht zusammen … Warum sollte Jessica sie erst eifrig suchen, dann ignorieren und anschließend völlig frustriert den Rückzug antreten? Die Lösung offenbarte sich bereits kurz nach dem Verlassen des alten Möbelstücks ...
„Oh mein Gott!!!“
Mehrmals wurde hineingeschaut, davor posiert, mit dem dünnen Pulloverärmel über die Glasfläche gewischt, doch in dem Spiegel war alles Mögliche zu sehen, nur nicht …
„Aber vorhin bin ich doch noch …“
Verrückt, denn direkt an der eigenen Statur entlanggeschaut war nach wie vor alles sichtbar. Da sich einige Objekte schemenhaft in den Fenstern des Dachbodens spiegelten, versuchte Rana zusätzliche Sicherheit für ihre immer stärker werdende Vermutung zu gewinnen. Aber auch dort sollte sie nicht als Abbild in Erscheinung treten …
„Wow!“
Ihr Körper inklusive allem, was an Kleidung und Schmuck getragen wurde, konnte wohl von Außenstehenden nicht mehr wahrgenommen werden. Auch die gegenüber Jessica geäußerte Entschuldigung war vorhin offensichtlich ins Leere gelaufen … Hatte sie dieser alte Kleiderschrank wirklich unsichtbar gemacht? Falls ja, wie lange würde dieser Zustand wohl andauern? Ungeahnte Möglichkeiten taten sich vor ihrem geistigen Auge auf, allem voran der Wunsch, so schnell wie möglich unauffällig aus dieser Einrichtung zu verschwinden …
„OK …“
Die bekennende Muslima konnte tatsächlich den Türgriff hinunterdrücken, was doch eigentlich im Umkehrschluss bedeuten musste, von anderen Menschen weiterhin durch Berührung wahrgenommen zu werden.
„Das war ja klar!“
Jessica hatte natürlich den Zugang zum Dachboden ordnungsgemäß von außen verschlossen. Nach kurzem Zögern schlug die Unsichtbare unaufhörlich gegen das stabile Holz. Erst Minuten später drehte sich endlich der Schlüssel im Schloss, gefolgt von einem kraftvollem Türöffnen.
„Hallo?! Ist da jemand?!“
Unsicher stand der Mann, ein Pfleger aus der benachbarten Abteilung, vor der Treppe, die hinauf zum Dachboden führte und schritt langsam nach oben, denn nur dort konnte sich logischerweise der Verursacher des Polterns aufhalten. Rana nutze ihre Chance, entfernte sich unbemerkt und betrat kurze Zeit später ihr Zimmer.
„Ups! Sorry …“
Vergeblich, denn Daphne konnte sie ja auch nicht sehen bzw. hören. Aus dem angrenzenden Bad kommend, ließ die erschreckend Untergewichtige das große Handtuch vom Körper gleiten und zog sich dann in aller Ruhe um.
„Das arme Ding …“
Immerhin hatte ihre Zimmergenossin während des Aufenthalts in dieser Klinik bereits ein wenig zugenommen. Ebenfalls recht auffällig, die zum Teil noch recht frischen Narben an beiden Armen.
„Halte durch!“
Warum war Rana eigentlich ursprünglich in ihr Zimmer zurückgekehrt? Richtig, sie wollte noch schnell ein paar Dinge holen, aber was war denn, wenn …? Nachdem Daphne den Raum verlassen hatte, schien eine Jacke vor dem Wandspiegel umherzuschweben, gefolgt von zwei großen Ohrsteckern.
„Das lassen wir dann wohl besser mal sein …“
Zur Sicherheit wurde dem reichlich verzierten Schmuckkästchen auf ihrem Nachttisch ein Ring entnommen, doch auch dieses hübsche Kleinod bewegte sich im Spiegel wie von Geisterhand, obwohl es am entsprechenden Finger steckte … Es konnten also folgerichtig nur dann Dinge unsichtbar werden, wenn diese zuvor für kurze Zeit in dem Kleiderschrank gewesen waren.
„Auf nimmer Wiedersehen!“
Der gesamte Inhalt der Medikamentendosette verschwand in dem vom Stöpsel befreiten Waschbecken, hinweggespült dank eines zentimeterdicken Wasserstrahls. Diese kleinen bunten sogenannten chemischen Helfer machten müde und ließen das Gehirn viel zu häufig träge werden, so als ob dort die Synapsen mit einer zähen Masse verklebt würden. Am schlimmsten jedoch war der Verlust jenes vor ihrem Aufenthalt erfahrenen unbeschreiblichen Gefühls, wirklich frei zu sein und über allem zu stehen …
Endlich, die letzte Klausur lag hinter ihm, somit konnten die kommenden Wochen etwas ruhiger angegangen werden. Sein Sinn für Gerechtigkeit hatte den alles entscheidenden Ausschlag gegeben, direkt nach dem Abitur ein Jurastudium zu beginnen, mit entsprechend notwendigem Ortswechsel … Das kleine Apartment bestand lediglich aus einem Raum plus vorgelagerter Pantryküche und dem gerade mit allem Notwendigsten ausgestatteten Badezimmer. Meir vermisste trotz regelmäßiger Besuche seine Familie, bestehend aus den Eltern sowie zwei jüngeren Geschwistern und natürlich