DER KETZER VON SOANA - Page 14

Bild von Gerhart Hauptmann
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Erfahren in manchem
Zweige der scholastischen Wissenschaft, nahm er an, daß böse Dämonen,
um gewisse verderbliche Wirkungen auszuüben, sich den Einfluß der
Gestirne zunutze machen. Er hatte gelernt, hinsichtlich des Körpers
gehöre der Mensch zu den Himmelskörpern, der Verstand stelle ihn den
Engeln gleich, sein Wille sei unter Gott geordnet, aber Gott lasse es
zu, daß gefallene Engel seinen Willen von Gott ablenkten, und das
Reich der Dämonen nehme durch Bündnis mit solchen schon verführten
Menschen zu. Überdies könne ein zeitlicher, körperlicher Affekt, von
den höllischen Geistern ausgenützt, oft die Ursache ewigen Verderbens
eines Menschen sein. Kurz, der junge Priester zitterte bis ins Mark
seiner Knochen und fürchtete sich vor dem giftigen Biß der Diaboli,
vor den Dämonen, die nach Blut riechen, vor der Bestie Behemoth und
ganz besonders vor Asmodeus, dem ausgemachten Dämon der Hurerei.

Er konnte sich zunächst nicht entschließen, bei den verfluchten
Geschwistern die Sünde der Hexenkunst und der Zauberei vorauszusetzen.
Freilich machte er eine Erfahrung, die ihm in arger Weise verdächtig
war. Jeden Tag nahm er mit heiligem Eifer und allen Mitteln der
Religion eine Purifikation seines Inneren vor, um es von dem Bilde des
Hirtenmädchens zu reinigen und immer wieder stand es klarer, fester
und deutlicher da. Was war das für eine Malerei und für eine
unzerstörbare Tafel aus Holz darunter, oder was war es für eine
Leinwand, die man weder durch Wasser, noch Feuer auch nur im
geringsten angreifen konnte.

Wie dieses Bild sich überall vordrängte, ward manchmal Gegenstand
seiner stillen und erstaunten Beobachtung. Er las ein Buch, und wenn
er das weiche Antlitz, umrahmt von dem eigentümlich rötlich erdbraunen
Haar, mit weiten dunklen Augen blickend, auf einer Seite sah, so
blätterte er ein vorangeheftetes Blatt herum, durch das es bedeckt und
versteckt werden sollte. Aber es schlug durch jedes Blatt, als ob
keines vorhanden wäre, wie es sich auch sonst durch Vorhänge, Türen
und Mauer im Hause und ebenso in der Kirche durchsetzte.

Bei solchen Beängstigungen und inneren Zwistigkeiten verging der junge
Priester vor Ungeduld, da der bestimmte Termin für den besonderen
Gottesdienst auf dem Gipfel von Sant Agatha nicht schnell genug
herbeikommen wollte. Er wünschte, so bald wie möglich die übernommene
Pflicht zu tun, weil er dadurch vielleicht das Mädchen den Klauen des
Höllenfürsten entreißen konnte. Er wünschte noch mehr: das Mädchen
wiederzusehen, was er aber am meisten ersehnte, war die Befreiung, die
er bestimmt erhoffte, von seiner martervollen Verzauberung. Francesco
aß wenig, brachte den größten Teil seiner Nächte wachend zu, und
täglich verhärmter und bleicher werdend geriet er bei seiner Gemeinde
noch mehr als bisher in den Geruch einer exemplarischen Frömmigkeit.

Der Morgen war endlich herbeigekommen, an dem der Pfarrer die armen
Sünder in die Kapelle bestellt hatte, die hoch auf dem Zuckerhut von
Sant Agatha gelegen war. Der äußerst beschwerliche Weg dort hinauf
konnte unter zwei Stunden nicht zurückgelegt werden. Francesco trat um
die neunte Stunde, fertig zum Gang, auf den Dorfplatz von Soana
hinaus, heiteren und erfrischten Herzens und die Welt mit neugeborenen
Augen betrachtend. Man näherte sich dem Anfang des Mai, und so hatte
ein Tag begonnen, wie er köstlicher nicht zu denken war, aber der
junge Mensch hatte Tage von gleicher Schönheit schon oft erlebt, ohne
doch die Natur, so wie heut, wie den Garten Eden selbst zu empfinden.
Heute umgab ihn das Paradies.

Frauen und Mädchen standen, wie meistens, um den von klarem Bergwasser
überfließenden Sarkophag herum und begrüßten den Priester mit lauten
Rufen. Etwas in seiner Haltung und in seinen Mienen, dazu die festliche
Frische des jungen Tages hatte den Wäscherinnen Mut gemacht. Die Röcke
zwischen die Beine geklemmt, so daß bei einigen die braunen Waden und
Knie sichtbar waren, standen sie herabgebeugt, mit den kräftigen,
ebenfalls braunen, nackten Armen wacker arbeitend. Francesco trat an
die Gruppe heran. Er fand sich veranlaßt, allerhand freundliche Worte zu
sagen, deren keines in einem Zusammenhange mit seinem geistlichen Amte
stand und die von gutem Wetter, gutem Mut und einem zu hoffenden guten
Weinjahre handelten. Zum erstenmal, wahrscheinlich durch den Besuch im
Hause seines Oheims, des Bildhauers, angeregt, ließ sich der junge
Priester herbei, den Ornamentfries des Sarkophages zu betrachten, der in
einem Bacchantenzuge bestand und hüpfende Satyren, tanzende
Flötenspielerinnen und den von Panthern gezogenen Wagen des Dionysos,
des mit Trauben bekränzten Weingottes, zeigte. Es erschien ihm in diesem
Augenblick nicht sonderbar, daß die Alten die steinerne Hülle des Todes
mit Gestalten überschäumenden Lebens bedeckt hatten. Die Weiber und
Mädchen, unter denen einige von ungewöhnlicher Schönheit waren,
schwatzten und lachten bei dieser Besichtigung in ihn hinein, und
zeitweilig kam es ihm vor, als ob er selbst von berauschten Mänaden
umjauchzt wäre.

Dieser zweite Aufstieg in die Bergnatur war, mit dem ersten
verglichen, wie der eines Menschen mit offenen Augen gegen den eines
anderen gehalten, der blind von Mutterleibe ist. Francesco hatte mit
zwingender Deutlichkeit das Gefühl, er sei plötzlich sehend geworden.
In diesem Sinne erschien ihm die Betrachtung des Sarkophags durchaus
kein Zufall, sondern tief bedeutungsvoll. Wo war der Tote? Lebendiges
Wasser des Lebens füllte den offenen Stein und Totenschrein, und die
ewige Auferstehung war in der Sprache der Alten auf der Fläche des
Marmors verkündet. So verstand sich das Evangelium.

Freilich war dies ein Evangelium, dem wenig mit jenem, was er früher
gelernt und gelehrt hatte, gemeinsam blieb. Es stammte keineswegs von
den Blättern und Lettern eines Buchs, sondern viel eher kam es durch
Gras, Kraut und Blumen aus der Erde gequollen oder mit dem Licht aus
dem Mittelpunkt der Sonne herabgeflossen. Die ganze Natur nahm ein
gleichsam sprechendes Leben an. Die Tote und Stumme ward rege,
vertraulich, offen und mitteilsam. Plötzlich schien sie dem jungen
Priester alles zu sagen, was sie bisher verschwiegen hatte. Er schien
ihr Liebling, ihr Auserwählter, ihr Sohn zu sein, den sie, wie eine
Mutter, in das heilige Geheimnis ihrer Liebe und Mutterschaft
einweihte. Alle Abgründe des Schreckens, alle Ängste seiner
aufgestörten Seele waren nicht mehr. Nichts war von allen
Finsternissen und Bangigkeiten des vermeintlichen höllischen
Sturmlaufs übrig geblieben. Die ganze Natur strömte Güte und Liebe
aus, und Francesco, an Güte und Liebe überreich, konnte ihr Güte und
Liebe zurückgeben.

Sonderbar: indem er mühsam, oft von kantigen Steinen abrutschend,
durch Ginster, Buchen und Brombeer-Dickicht aufwärts kletterte, umgab
ihn der Frühlingsmorgen wie eine glückselige und ebenso gewaltige
Symphonie der Natur, die mehr von der Schöpfung, als von Geschaffenem
redete. Offen gab sich das Mysterium eines dem Tode für immer
enthobenen Schöpfungswerks. Wer diese Symphonie nicht vernahm, so
schien es dem Priester, der betrog sich selbst, wenn er mit dem
Psalmisten »jubilate Deo omnis terra« oder »benedicte coeli domino« zu
lobsingen sich unterfing.

In satter Fülle rauschte der Wasserfall von Soana in seine enge
Schlucht hinunter. Sein Brausen klang voll und schwelgerisch. Seine
Sprache konnte nicht überhört

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