DER KETZER VON SOANA - Page 11

Bild von Gerhart Hauptmann
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ohne jeden
Vorschmack von dem heraufgestiegen war, was ihn jetzt auf so
ahnungsvolle Weise beunruhigte. Was war das doch? Er zupfte, strich
und putzte lange an seiner Soutane herum, als ob er es dadurch
loslösen könnte.

Als er nach einiger Zeit noch immer nicht die erwünschte Klarheit
empfand, nahm er gewohnheitsgemäß sein Brevier aus der Tasche, aber
auch das alsbald begonnene, laute Lesen befreite ihn nicht von einer
gewissen wunderlichen Unschlüssigkeit. Es war ihm zumute, als ob er
irgendetwas, einen wichtigen Punkt seiner Sendung, zu erledigen
vergessen hätte. Deshalb wandte er seine Blicke unter der Brille immer
wieder mit einer gewissen Erwartung den Weg zurück und konnte sich
nicht ermannen, den begonnenen Abstieg fortzusetzen.

So verfiel er in seltsame Träumerei, aus der ihn zwei kleine Vorfälle
weckten, die seine aus dem gewohnten Bereich gebrochene Phantasie mit
erheblicher Übertreibung sah: erstlich zersprang ihm mit einem Knick,
durch den Einfluß der kalten Bergluft, das rechte Brillenglas, und
fast unmittelbar darauf hörte er ein fürchterliches Geprust über
seinem Kopf und spürte einen heftigen Druck auf den Schultern.

Der junge Priester war aufgesprungen. Er lachte laut, als er die
Ursache seines panischen Schreckens in einem scheckigen Geißbock
erkannte, der ihm einen Beweis seines unbegrenzten Vertrauens dadurch
gegeben hatte, daß er ohne jedwede Rücksicht gegen sein geistliches
Gewand mit den Vorderhufen auf seine Schultern gesprungen war.

Damit begann aber erst seine höchst vertrauliche Zudringlichkeit. Der
zottige Bock mit den starken, schön gewundenen Hörnern und
feuerspeienden Augen war gewohnt, wie es schien, vorüberkommende
Bergsteiger anzubetteln und tat dies auf eine so drollige,
entschlossene und unwiderstehliche Art, daß man sich seiner nur durch
die Flucht erwehren konnte. Er setzte Francesco immer wieder,
hochaufgebäumt, die Hufe vor die Brust und schien entschlossen,
nachdem der Bedrängte sich eine Durchschnupperung seiner Taschen
hatte gefallen lassen müssen und einige Brotreste mit unglaublicher
Gier verschluckt worden waren, Haar, Nase und Finger des Priesters
abzuknabbern.

Eine alte, bärtige Geiß, der Glocke und Euter bis auf die Erde hing,
war dem Wegelagerer nachgefolgt und begann, durch diesen ermutigt, den
Priester ebenso zu bedrängen. Ihr hatte das mit Goldschnitt und Kreuz
versehene Brevier besonderen Eindruck gemacht, und es gelang ihr,
während Francesco mit der Abwehr eines gewundenen Bockshorns zu tun
hatte, sich des Büchelchens zu bemächtigen. Und seine schwarz
bedruckten Blätter für grüne nehmend, aß sie, nach des Propheten
Vorschrift, die heiligen Wahrheiten buchstäblich und gierig in sich
hinein.

In solchen Nöten, die sich durch Ansammlung anderer, vereinzelt
weidender Tiere noch gesteigert hatten, erschien mit einemmal die
Hirtin als Retterin. Es war eben dasselbe Mädchen, das Francesco
zuerst in der Hütte Luchinos flüchtig erblickt hatte. Er sagte, als
die schlanke und starke Person, nachdem sie die Ziegen verscheucht
hatte, mit frisch geröteten Wangen und lachenden Augen vor ihm stand:
»Du hast mich gerettet, braves Mädchen!« Und er setzte ebenfalls
lachend hinzu, indem er sein Brevier aus den Händen der jungen Eva
entgegennahm: »Es ist eigentlich wunderlich, daß ich trotz meines
Hirtenamts gegen deine Herde so hilflos bin.«

Ein Priester darf sich nicht länger, als seine kirchliche Pflicht etwa
erfordert, mit einem jungen Mädchen oder Weibe unterhalten, und die
Gemeinde vermerkt es sofort, wenn er außerhalb der Kirche bei einer
solchen Begegnung zu zweien gesehen wird. So hatte denn auch
Francesco, eingedenk seines strengen Berufs, ohne sich lange zu
verweilen, seinen Rückweg fortgesetzt: dennoch hatte er ein Gefühl,
als ob er sich auf einer Sünde ertappt hätte und bei nächster
Gelegenheit sich durch eine reuige Beichte reinigen müsse. Noch war er
nicht aus dem Bereich der Herdenglocken gelangt, als der Klang einer
weiblichen Stimme zu ihm drang, der ihn plötzlich wiederum alle
Meditationen vergessen machte. Die Stimme war so geartet, daß er nicht
auf den Gedanken kam, sie könne der eben zurückgelassenen Hirtin
angehören. Francesco hatte nicht nur zu Rom die kirchlichen Sänger des
Vatikans, sondern auch öfters früher mit seiner Mutter in Mailand
weltliche Sängerinnen gehört, und also war ihm Koloratur und bel canto
der Primadonnen nicht unbekannt. Er stand unwillkürlich still und
wartete. Unzweifelhaft sind es Touristen von Mailand, dachte er und
hoffte womöglich, im Vorübergehen, die Besitzerin dieser herrlichen
Stimme ins Auge zu fassen. Da sie nicht kommen wollte, setzte er
weiter Fuß vor Fuß, sorgsam absteigend, in die schwindelerregende
Tiefe hinunter.

Was Francesco im ganzen und im einzelnen auf diesem Berufsgang erlebt
hatte, war äußerlich nicht der Rede wert, wenn man die Greuel nicht in
Erwägung zieht, die ihre Brutstätte in der Hütte der armen Geschwister
Scarabota hatte. Aber der junge Priester fühlte sogleich, wie diese
Bergfahrt für ihn ein Ereignis von großer Bedeutung geworden war, wenn
er auch über den ganzen Umfang dieser Bedeutung vorläufig noch nicht
entfernt Bescheid wußte. Er spürte, daß von innen heraus eine Umwandlung
mit ihm vorgegangen war. Er befand sich in einem neuen Zustande, der ihm
von Minute zu Minute wunderlicher und einigermaßen verdächtig war, aber
doch lange nicht so verdächtig, daß er womöglich den Satan gewittert
oder etwa ein Tintenfaß nach ihm geschleudert haben würde, wenn er es
auch in der Tasche gehabt hätte. Die Bergwelt lag wie ein Paradies unter
ihm. Zum allerersten Male wünschte er sich, mit unwillkürlich gefalteten
Händen, Glück, von seinem Oberen gerade mit der Verwaltung dieser Pfarre
betraut worden zu sein. Was war, gegen diese köstliche Tiefe gehalten,
Petri Tuch, das an drei Zipfeln von Engeln gehalten vom Himmel kam. Wo
gab es eine für Menschenbegriffe größere Majestät, wie diese
unzugänglichen Generoso-Schroffen, an denen fort und fort der dumpfe
Frühlingsdonner schmelzenden Schnees in Lawinen hörbar ward.

* * * * *

Vom Tage seines Besuches bei den Verfemten an konnte sich Francesco zu
seinem Erstaunen nicht mehr in den gedankenlosen Frieden seines
früheren Daseins zurückfinden. Das neue Gesicht, das die Natur für ihn
angenommen hatte, verblaßte nicht mehr, und sie wollte sich auf keine
Weise in ihren früheren, unbeseelten Zustand zurückdrängen lassen. Die
Art ihrer Einwirkungen, durch die der Priester nicht nur am Tage,
sondern auch in seinen Träumen beängstet wurde, nannte er und erkannte
er zunächst als Versuchungen. Und da der Glaube der Kirche, schon
dadurch, daß er ihn bekämpft, mit dem heidnischen Aberglauben
verschmolzen ist, so führte Francesco seine Verwandlung allen Ernstes
auf die Berührung jenes hölzernen Gegenstandes zurück, jenes
Alräunchens, das der struppige Hirt aus dem Feuer gerettet hatte. Da
war unzweifelhaft noch ein Rest jener Greuel lebendig geblieben,
denen die Alten unter dem Namen des Phallus-Dienstes huldigten, jenes
schmachvollen Kultes, der durch den heiligen Krieg des Kreuzes Jesu in
der Welt niedergezwungen worden war. -- Bis dahin, als er den
scheußlichen Gegenstand erblickt hatte, war allein

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