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werden. Bald dumpfer, bald heller
herüberschlagend, tönte im ewigen Wandel die Stimme der Sättigung.
Lawinendonner löste sich von des Generoso gigantischer Schattenwand,
und wenn er für Francesco hörbar ward, hatte sich die Lawine selbst,
mit lautlosen Strömen von Schneegeröll, bereits in das Bett der
Savaglia hinabgeschüttet. Wo gab es da irgend etwas in der Natur, das
nicht in der Wandlung des Lebens begriffen und das ohne Seele war:
etwas, darin nicht ein drängender Wille sich betätigte? Wort, Schrift,
Gesang und treibendes Herzblut war überall. Legte die Sonne nicht
wohlig eine warme Hand im Rücken zwischen seine Schultern? Zischten
nicht und bewegten sich nicht die Blätter der Lorbeer- und
Buchen-Dickichte, wenn er im Vorübergehen sie streifte? Quoll nicht
das Wasser überall und zeichnete überall, leise plaudernd, die Faden-
und Knotenschrift seiner Rinnsale? Las nicht er, Francesco Vela, und
lasen nicht die Faserwurzeln von Myriaden kleiner und großer Gewächse
darin, und war es nicht ihr Geheimnis, das in Myriaden von Blumen und
Blütenkelchen sich darstellte? Des Priesters Hand erhob einen winzigen
Stein und fand ihn mit rötlichen Flechten beschlagen: auch hier eine
sprechende, malende, schreibende Wunderwelt, eine formende Form, die
für die überall im Bilde wirkende Bildkraft des Lebens Zeugnis
ablegte.
Und legten nicht die Stimmen der Vögel das gleiche Zeugnis ab, die
sich in unendlich zarten, unsichtbaren Fäden über den Höhlungen des
gewaltigen Felstales netzartig vereinigten? Dieses hörbare Maschennetz
schien sich zuweilen für Francesco in sichtbare Fäden eines silbernen
Glanzes umzuwandeln, die ein innerliches und sprechendes Feuer
flimmern machte. War es nicht in Formen hörbar und sichtbar gemachte
Liebe und offenbartes Glück der Natur? Und war es nicht köstlich, wie
dieses Gespinst, so oft es verwehte oder zerriß, wie mit eilig
fliegenden, unermüdlichen Weberschiffchen immer wieder verbunden
wurde? Wo saßen die kleinen gefiederten Weber? man sah sie nicht, wenn
nicht etwa ein kleiner Vogel stumm und eilig seinen Ort wechselte: die
winzigsten Kehlen strömten diese alles überjubelnde, weithin tragende
Sprache aus.
Wo alles quoll, wo alles pulsierte, sowohl in ihm, als um ihn herum,
wußte Francesco den Platz des Todes nicht auszumitteln. Er berührte
den Stamm eines Kastanienbaums und fühlte, wie er die Nahrungssäfte
durch sich empordrängte. Er trank die Luft wie eine lebendige Seele
ein und wußte zugleich, daß sie es war, der er das Atmen und Lobsingen
seiner eigenen Seele verdankte. Und war sie es nicht allein, die aus
seiner Kehle und Zunge ein sprechendes Werkzeug der Offenbarung
machte? Francesco verzog vor einem wimmelnden, eifrig tätigen
Ameisenhaufen einen Augenblick. Eine winzige, kleine Haselmaus war von
den rätselhaften Tierchen fast ganz von ihrem grazilen Skelett
präpariert worden. Sprach das köstliche, kleine Skelett und die in der
Wärme des Ameisenstaates untergegangene und verschwundene Haselmaus
nicht von der Unzerstörbarkeit des Lebens, und hatte nicht die Natur
in ihrem Bildnerdrang oder Zwang nur die neue Form gesucht? Der
Priester sah, diesmal nicht unter sich, sondern hoch über sich,
wiederum die braunen Fischadler von Sant Agatha. Ihre beschwingten und
gefiederten Körper trugen das Wunder des Bluts, das Wunder des
pulsierenden Herzens in majestätischer Wonne durch den Raum. Aber wer
mochte verkennen, daß die wechselnden Kurven ihres Flugs auf die blaue
Seide des Himmels eine deutliche unverkennbare Schrift zeichneten,
deren Sinn und Schönheit aufs engste mit Leben und Liebe verbunden
war. Francesco war nicht anders zumut, als ob ihn die Vögel zum Lesen
aufforderten. Und wenn sie mit der Bahn ihrer Flüge schrieben, so war
ihnen auch die Kraft des Lesens nicht versagt. Francesco gedachte des
weittragenden Blicks, der diesen geflügelten Fischern beschieden ward.
Und er gedachte der zahllosen Augen der Menschen, der Vögel, der
Säugetiere, der Insekten und Fische, mit denen die Natur sich selbst
erblickt. Mit einem immer tieferen Staunen erkannte er sie in ihrer
unendlichen Mütterlichkeit. Sie sorgte dafür, daß ihren Kindern nichts
im allmütterlichen Bereich ungenossen verborgen blieb: sie waren von
ihr nicht allein mit den Sinnen des Auges, des Ohrs, des Geruches,
des Geschmackes und des Gefühls begabt worden, sondern sie hatte, wie
Francesco fühlte, für die Wandlungen der Äonen noch unzählige, neue
Sinne bereit. Was war das für ein gewaltiges Sehen, Hören, Riechen,
Schmecken und Fühlen in der Welt! -- Und eine weißliche Wolke stand
über den Fischadlern. Sie glich einem strahlenden Lustgezelt. Aber
auch sie verließ ihren Ort und wurde zusehends im lebendigsten Wechsel
umgewandelt.
* * * * *
Es waren tiefe und mystische Kräfte, die dem Priester Francesco den
Star gestochen hatten. Aber die Folie dieses Erlebnisses war der ihn
uneingestandenermaßen beglückende Umstand, daß er vier köstliche
Stunden vor sich sah, die ein Wiedersehen mit dem armen, verfemten
Hirtenmädchen in sich schlossen. Dieses Bewußtsein machte ihn sicher
und reich, als könne die so kostbar erfüllte Zeit nicht vorübergehen.
Dort oben, ja, dort oben, wo die kleine Kapelle stand, über der die
Fischadler kreisten, erwartete ihn, wie er meinte, ein Glück, um das
ihn die Engel beneiden mußten. Er stieg und stieg, und der seligste
Eifer beflügelte ihn. Was er dort oben vorhatte, mußte sicherlich eine
Art von Verklärung über ihn ausgießen und ihn in losgelöster
Himmelsnähe beinahe dem guten ewigen Hirten selbst gleich machen.
»Sursum corda! Sursum corda!« Er sprach den Gruß Francisci immer vor
sich hin, während die heilige Agathe neben ihm schritt, jene
Märtyrerin, der man das Kapellchen hoch oben geweiht hatte und die dem
Tode durch Henkershand wie einem fröhlichen Tanze entgegengegangen
war. Und hinter ihr und ihm, so kam es Francesco im eifrigen Steigen
vor, folgte ein Zug von heiligen Frauen, die alle dem Liebeswunder auf
dem festlichen Gipfel beiwohnen wollten. Maria selbst schritt, mit
köstlich gelöstem, ambrosischen Haar und lieblichen Füßen, weit vor
dem Priester und seiner Prozession der seliggesprochenen Weiber hin,
damit sich unter ihrem Blick, unter ihrem Hauch, unter ihren Sohlen
die Erde festlich für alle mit Blumen bedecke. »Invoco te! invoco te!«
hauchte Francesco in sich verzückt, »invoco te nostra benigna stella!«
Ohne Ermüdung war der Priester auf dem Gipfel des Bergkegels
angelangt, der kaum breiter war, als es der Grundriß des kleinen dort
befindlichen Gotteshauses erforderte. Er gab noch einem schmalen Rande
und einem engen Vorplätzchen Raum, dessen Mitte von einer jungen, noch
blätterlosen Kastanie eingenommen wurde. Ein Stück des Himmels oder
von Mariens blauem Gewand schien um das Wildkirchlein hingestreut, so
hatte der blaue Enzian sich um das Heiligtum ausgebreitet. Oder man
konnte auch meinen, die Spitze des Berges habe sich einfach in den
Azur des Himmels getaucht.
Der Chorknabe und die Geschwister Scarabota waren schon anwesend und
hatten es sich unter der Kastanie bequem gemacht. Francesco
erbleichte, denn seine Blicke waren vergebens,