DER KETZER VON SOANA - Page 16

Bild zeigt Gerhart Hauptmann
von Gerhart Hauptmann

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wenn auch nur flüchtig,
nach der jungen Hirtin ausgewesen. Er nahm aber eine strenge Miene an
und öffnete mit einem großen, rostigen Schlüssel die Kapellentür, ohne
sich die Enttäuschung und den bestürzten Kampf seiner Seele merken zu
lassen. Er trat in das enge Kirchlein ein, in dem der Chorknabe
alsbald hinter dem Altar einiges für die Zelebrierung der Messe
vorbereitete. Aus einer mitgebrachten Flasche ward etwas Weihwasser in
das ausgetrocknete Becken getan, in das die Geschwister nun ihre
harten und sündigen Finger tauchen konnten. Sie besprengten und
bekreuzigten sich und ließen sich mit scheuer Ehrfurcht gleich hinter
der Türschwelle auf die Knie nieder.

Indessen begab sich Francesco, getrieben von Unruhe, nochmals ins
Freie hinaus, wo er mit einer plötzlichen stummen und tiefen
Erschütterung, nach einigem Umherschreiten, etwas unterhalb der
Plattform des Gipfels das Mädchen, das er suchte, über einem
Sternenhimmel leuchtend blauen Enzianes ruhend fand. -- »Komm herein,
ich warte auf dich«, rief der Priester. Sie erhob sich, anscheinend
träge und sah ihn unter gesenkten Wimpern mit einem ruhigen Blicke an.
Dabei schien sie in lieblicher Weichheit leise zu lächeln, was aber
nur mit der natürlichen Bildung des süßen Mundes, mit dem lieblichen
Leuchten der blauen Augen und den zarten Grübchen der vollen Wangen
zusammenhing.

In diesem Augenblick vollzog sich die schicksalsschwere Erneuerung und
Vervollkommnung des Bildes, das Francesco in seiner Seele gehegt
hatte. Er sah ein kindlich unschuldvolles Madonnengesicht, dessen
verwirrender Liebreiz mit einer ganz leisen, schmerzlichen Herbheit
verbunden war. Die etwas starke Röte der Wangen ruhte auf einer
weißen, nicht braunen Haut, aus der die feuchte Röte der Lippen mit
der Glut des Granatapfels leuchtete. Jeder Zug in der Musik dieses
kindlichen Hauptes war zugleich Süße und Bitterkeit, Schwermut und
Heiterkeit. In seinem Blick lag schüchternes Zurückweichen und
zugleich ein zärtliches Fordern: beides nicht mit der Heftigkeit
tierischer Regungen, sondern unbewußt blumenhaft. Schienen die Augen
das Rätsel und das Märchen der Blume in sich zu schließen, so glich
die ganze Erscheinung des Mädchens vielmehr einer schönen und reifen
Frucht. Dieses Haupt, wie Francesco bei sich mit Verwunderung
feststellte, gehörte noch ganz einem Kinde an, soweit sich darin die
Seele ausdrückte, nur eine gewisse traubenhaft schwellende Fülle
deutete auf die überschrittene Grenze des Kindesalters und auf die
erreichte Bestimmung des Weibes hin. Das teils erdfarbenbraune, teils
von lichteren Strähnen durchzogene Haar war in schwerer Krone um
Schläfe und Stirn gebunden. Etwas von schwerer, etwas von innerlich
gährender, edelreifer Schläfrigkeit schien die Wimper des Mädchens
niederzuziehen und gab ihren Augen eine gewisse feuchte, überdrängende
Zärtlichkeit. Aber die Musik des Hauptes ging unterhalb des
elfenbeinernen Halses in eine andere über, deren ewige Noten einen
anderen Sinn ausdrücken. Mit den Schultern begann das Weib. Es war ein
Weib von jugendlicher und reifer Fülle, das beinahe zur Überfülle
neigte und das nicht zu dem kindlichen Haupte zu gehören schien. Die
nackten Füße und starken gebräunten Waden trugen eine fruchthafte
Fülle, die fast, wie dem Priester dünkte, zu schwer für sie war.
Dieses Haupt besaß das sinnenheiße Mysterium seines isishaften Körpers
unbewußt, höchstens leise ahndevoll. Aber gerade darum erkannte
Francesco, daß er diesem Haupte und diesem allmächtigen Leibe
rettungslos auf Tod und Leben verfallen war.

Was nun aber auch der Jüngling im Augenblick des Wiedersehens mit dem
durch Erbsünde so schwer belasteten Gottesgeschöpf alles erblickte,
erkannte und empfand, außer daß seine Lippen ein wenig zuckten, konnte
man ihm deswegen nichts anmerken. »Wie heißt du eigentlich?« fragte er
nur die sündenerfüllte Sündlose. Die Hirtin nannte sich Agata und tat
dies mit einer Stimme, die Francesco wie das Lachen einer
paradiesischen Lachtaube dünkte. »Kannst du schreiben und lesen?«
fragte er. Sie erwiderte: »Nein!« »Weißt du etwas von der Bedeutung
des heiligen Meßopfers?« Sie sah ihn an und antwortete nicht. Da gebot
er ihr in das Kirchlein zu treten und begab sich selbst vor ihr
hinein. Hinter dem Altar half ihm der Knabe in das Meßgewand,
Francesco setzte sich das Barett aufs Haupt, und die heilige Handlung
konnte beginnen: nie hatte sich der junge Mensch dabei, wie jetzt, von
einer so feierlichen Inbrunst durchdrungen gefühlt.

Ihm kam es vor, als wenn ihn der allgütige Gott erst jetzt zu seinem
Diener berufen hätte. Der Weg priesterlicher Weihen, den er
zurückgelegt hatte, schien ihm jetzt nicht mehr, als eine trockene,
inhaltlose und trügerische Übereilung zu sein, die mit dem wahrhaft
Göttlichen nichts gemein hatte. Nun aber war die göttliche Stunde, die
heilige Zeit in ihm angebrochen. Die Liebe des Heilands war wie ein
himmlischer Feuerregen, in dem er stand, und durch den alle Liebe
seines eigenen Innern plötzlich befreit und entflammt wurde. Mit
unendlicher Liebe weitete sich sein Herz in die ganze Schöpfung hinein
und ward mit allen Geschöpfen im gleichen, entzückten Pulsschlag
verbunden. Aus diesem Rausch, der ihn fast betäubte, brach das Mitleid
mit aller Kreatur, brach der Eifer für das Göttlichgute mit
verdoppelter Kraft hervor, und er glaubte nun erst die heilige
Mutterkirche und ihren Dienst ganz zu verstehen. Er wollte nun mit
einem ganz anderen, erneuten Eifer ihr Diener werden.

Und wie hatte ihm nicht der Weg, der Aufstieg zu diesem Gipfel, das
Geheimnis erschlossen, nach dessen Sinn er Agata gefragt hatte. Ihr
Schweigen, vor dem er selber stumm geworden war, bedeutete ihm, ohne
daß er es merken ließ, gemeinsames Wissen durch Offenbarung, die ihnen
beiden nun widerfahren war. War nicht die ewige Mutter der Inbegriff
aller Wandlungen und hatte er nicht die verwahrlosten und im Finsteren
tappenden, verlorenen Gotteskinder auf diesen überirdischen Gipfel
gelockt, um ihnen das Wandlungswunder des Sohnes, das ewige Fleisch
und Blut der Gottheit zu weisen? So stand der Jüngling und hob den
Kelch, mit überströmenden Augen, voll Freudigkeit. Es kam ihm vor, als
ob er selber zum Gott würde. In diesem Zustand der Auserwählten, des
heiligen Werkzeugs, den er empfand, fühlte er sich mit unsichtbaren
Organen in alle Himmel hineinwachsen, in einem Gefühl von Freude und
Allgewalt, das ihn, wie er glaubte, über das ganze wimmelnde Gezücht
der Kirchen und ihrer Pfaffheit unendlich erhob. Sie sollten ihn
sehen, die Augen zu ihm in die schwindelnde Höhe seines Altars, auf
dem er stand, mit staunender Ehrfurcht emporrichten. Denn er stand auf
dem Altar in einem ganz anderen und höheren Sinne, als Petri
Schlüsselhalter, der Papst, es nach seiner Erwählung tut. Krampfhaft
verzückt hielt er den Kelch der Eucharistia und der Wandlungen, als
ein Symbol des ewig sich neu gebärenden Gottesleibes der ganzen
Schöpfung in die Unendlichkeit des Raums, wo es wie eine zweite,
hellere Sonne leuchtete. Und während er seines Erachtens eine
Ewigkeit, in Wirklichkeit zwei oder drei Sekunden, dastand mit dem
erhobenen Heiligtum, kam es ihm vor, als ob der Zuckerhut von Sant
Agatha von unten bis oben mit lauschenden Engeln, Heiligen und
Aposteln bedeckt wäre. Allein beinahe noch herrlicher schien

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