Stadt in Not - Page 4

Bild von Magnus Gosdek
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Keine Hautfarbe und kein Gott vermag die Stadt zu trennen. Hier sind alle willkommen, denen der Handel im Blut liegt. Wie oft gingen Rungbert und ich mit deinem Großvater diesen Weg.“
Einen Augenblick schien sich Johannes Brack in Erinnerungen zu verlieren. Doch wandte er sich sogleich wieder seinem Sohn zu.
„Sieh dort“, sagte er und wies auf ein Gebäude in der Mitte des Marktes, so groß wie ein Tempel.
Es war so lang, dass es fast zwanzig Pferdefuhrwerke benötigte, um die Länge zu bemessen und drei Stockwerke hoch. Eine Vielzahl von Torbogen reihte sich aneinander und trotzdem gähnte nur Dunkelheit aus dem Inneren hervor. Darüber aber, in der zweiten Etage, erstreckten sich zwei mächtige Balkone, die erst zwanzig Fuß weiter hinten von der Mauer abgeschlossen wurden. Gerade in der Mitte reckte sich ein Turm dem Himmel entgegen und lediglich eine winzige Luke gähnte aus dem Gemäuer. Von dort aus stak ein Fahnenmast hervor, an deren Ende eine edle, blaue Fahne über dem Markt wehte. Das Symbol in der Mitte stellte gar selbst den Turm dar und war mit feinen, goldenen Fäden durchwebt.
„Was ist das, Vater?“ fragte Niels.
„Das, mein Sohn, ist das Innungsgebäude. Oben auf dem Balkon zeigen sich die Mitglieder, wenn es etwas zu verkünden gibt. Darunter aber“, bei dieser Gelegenheit zeigte er auf die Torbögen, die ins Innere führten, „sind die Stände der wichtigsten Händler beherbergt. Auch unsere Familie besitzt hier ihren Platz. So komm, ich will ihn dir zeigen.“
Entschlossen schlurfte Johannes Brack auf das Haus zu. Niels folgte ihm, noch immer seine Augen auf den imposanten Ausblick gerichtet. Niemals zuvor hatte er ein Gebäude mit solchen Ausmaßen gesehen, und er zögerte, es zu betreten. Sein Vater aber trat hinein, als würde es ihm gehören.
Es dauerte einen Augenblick, bis sich Niels Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. In regelmäßigen Abständen steckten Fackeln in dem Gemäuer und der Jüngling konnte den Geruch des Pechs eindringlich riechen. Die Stände der Händler reihten sich hier dicht aneinander. Hier wurden hauptsächlich Pelze und Edelsteine gehandelt. Als Niels vollends in die Halle eintrat, sah er, dass auf den Wänden die Wappen verschiedener Städte aufgemalt worden waren und die ganze Länge des Ganges ausfüllten.
„Das sind all die Städte, mit denen Vineta Handel betreibt. Sieh dort!“ Johannes Brack wies auf einen weißen Schlüssel auf rotem Grund. „Das ist Worms, der frühere Wintersitz von Kaiser Karl. Und dort Leicester.“
Während der folgenden Viertelstunde erklärte der Alte seinem Sohn all die Wappen, dass Niels den Eindruck erhielt, jede bedeutende Stadt des Westens sei wirklich in dieser Halle zusammengekommen.
„Das ist der wahre Reichtum Vinetas“, schloss Johannes Brack. „Der Handel mit all diesen Städten.“
Als sie fast das Ende der Halle erreicht hatten, wies der Vater auf einen Stand, bei dem ausschließlich feinste Pelze feil lagen. Sie stapelten sich auf hölzernen Tischen, dass der Verkäufer hinter ihnen kaum noch zu erkennen war.
„Sie stammen aus Slawien, das bekannt für seine kostbaren Felle ist. Selbst Kaiser Otto kaufte sie für seinen Hofstaat. Dies, mein Sohn, ist der Stand der Familie Brack.“
Da der Vater fast nichts über seine Vergangenheit erzählt hatte, wusste Niels bislang nicht, dass er einer Familie von Pelzhändlern entstammte. Nun aber, als Johannes Brack auf die Auslagen wies, erfüllte den Sohn ein Anflug von Stolz, auch wenn er sich nicht erklären konnte, woher dieses Gefühl in ihm emporstieg. Er war versucht, näher an den Stand treten, doch der Alte sagte:
„Es ist noch Zeit genug, dass wir uns mit der Ware beschäftigen. Jetzt lass uns zu deinem Oheim eilen. Gott möge verhüten, dass wir zu spät kommen.“
Als sie durch den Torbogen hindurch wieder ins Freie tragen, stand die Sonne bereits tief, dass die Strahlen sich auf den Dächern der Stadt widerspiegelten und Niels, geblendet von dem goldenen Schein, die Augen zusammenkneifen musste. Diesem Glanz war es zu verdanken, dass man in allen Ländern von Vineta als Wunderstadt sprach. Nirgends auf der Welt konnte es eine zweite ihrer Art geben.
„Trödel nicht“, rief Johannes Brack seinem Sohn über die Schulter hinweg zu und drängte durch die Menge.
Endlich, nach schier endloser Zeit, hatten sie den Platz überquert und wieder strebte Johannes Brack in eine der ausgiebigen Straßen, welche die gesamte Stadt zu durchschneiden schienen. Doch sahen sie sich alle ähnlich. Die Häuser waren einstöckig und mit weißem Kalk überzogen. Fast zu Beginn des Weges aber sah Niels ein größeres Gebäude. Zwei Stockwerke hoch und so breit, dass vier Familien dort ohne Umstände zu leben vermochten. Die Fassade war nicht weiß gekalkt. Sie flimmerte in einem matten Rot, und obwohl es noch nicht vollends dunkel geworden war, hatte man die Fensterläden verschlossen.
Johannes Brack wies mit seinem Stock in die Richtung.
„Dort wohnt dein Oheim.“

3

Es dauerte eine Weile, bis auf das Klopfen des Alten die Tür geöffnet wurde. Zögerlich öffnete sich ein Spalt der wuchtigen Tür und fast gleichzeitig lugte der Kopf einer jungen Magd hervor. Sie lächelte fast wie durch einen Schleier, doch als sie bemerkte, dass es sich bei den Besuchern um Fremde handelte, verflog dieser Zug und eine Spur Misstrauen legte sich um ihre Mundwinkel
„Was wollt ihr?“ fragte sie so abweisend, wie es ihr möglich war.
Johannes Brack jedoch ließ sich nicht beeindrucken. Er machte einen Schritt auf sie zu, dass das Mädchen unwillkürlich zurückwich. Ganz sicher kannte sie ihn nicht. Wahrscheinlich war sie noch nicht geboren, als er die Stadt verlassen musste. Und doch hatte er bei ihrem Anblick das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein.
„Wir möchten zu dem Herrn des Hauses“, sagte er freundlich.
„Verzeiht mir, aber das wird kaum möglich sein. Er liegt krank darnieder, dass wir gar befürchten, er wird den morgigen Tag nicht mehr erleben“, entgegnete die Magd, während sie sich wieder entschlossener an den Türrahmen klammerte.
„Gerade dies ist der Grund, dass wir Einlass begehren. Der Bruder mag im Himmel seinen Frieden finden, doch ich, als Erstgeborener, würde fortan unruhig durch die Welt wandeln, stets in dem Gedanken, dass ich nicht mehr die Zeit gefunden habe, mich von ihm zu verabschieden.“
„So seid ihr der verschollene Bruder?“ fragte die Magd neugierig und öffnete die Tür ein Stück weiter, obwohl sich in ihr der Gedanke

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Kommentare

08. Okt 2016

Dieser Text ist stark - und munter:
Er schwimmt oben! (Geht nicht unter ...)

LG Axel

08. Okt 2016

ganz anders wie die ganze Stadt,
sie hatte mein Geschreibsel satt.
LG Magnus

27. Mär 2017

Eine gar spannende Geschicht',
ich konnte fast sie lassen nicht.

Eine wirklich tolle Erzählung über längst vergangene Zeiten, die durch die Charaktere der Geschichte sehr lebendigen Bezug hin zum Heute bekommt..

LG Ekki

27. Mär 2017

Vielen Dank, Ekki, schön das sie Dir gefällt und sie lebendig geworden ist. Ich wollte lange schon eine Vineta Geschichte schreiben. LG Magnus

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