Gefährlicher Sommer (Teil 17; Text 2) - Page 5

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von Annelie Kelch

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unterhalten sie sich über alte Filme, dachte ich. Auf ein Gespräch über Blumen oder Mode wird sich Kröger wohl kaum einlassen.
Hannes und ich hatten uns inzwischen unter einen der Apfelbäume gesetzt, deren Zweige sich unter der Last der reifen Früchte nach unten bogen und förmlich zu ächzen schienen, und ich erhob mich auch dann nicht, als Mutti mir mit einem wütenden Gesichtsausdruck und fuchtelnden Händen andeutete, dass ich aufzustehen hätte, weil die Hose schmutzig werden könnte. Stattdessen pflückte ich mir einen roten Apfel und biss genüsslich hinein.
„Du bist ja ganz schön aufsässig heute, Katja“, lachte Hannes. „Und als du vorhin vor der Veranda deine Arme auf meine Schultern gelegt hast, also da wurde mir ...“
Er brach mitten im Satz ab und sprang auf. Sein Gesichtsausdruck hatte sich von einer Sekunde zur nächsten verfinstert. Hannes erweckte plötzlich den Eindruck, als wolle er sich in höchster Wut auf eine Person stürzen, die in unmittelbarer Nähe weilte. Aber auf wen? Ich blickte angespannt in die Richtung, der Hannes sein Gesicht zugewandt hatte. Die Sonne berührte bereits die Wipfel der alten Fichten, die hinter dem Anger wuchsen, und mir fiel nichts auf, das die Idylle dieses Abend hätte trüben können.
„Hannes, was ist los?“, fragte ich ängstlich.
„Der Maskentyp, Katja“, stieß er wütend hervor. „Ich habe ihn eben ganz deutlich drüben am Waldsaum gesehen. „Ganz deutlich, Katja. Ich borge mir jetzt auf der Stelle eines von den Fahrrädern dort hinten und rase aufs Gut. Ich will wissen, wo Helge jetzt steckt.Ich will ihn mit meinen eigenen Augen sehen!“
Hannes zeigte hinüber auf die Stelle, an welcher einige Konzertbesucher ihre Fahrräder abgestellt hatten. Die Chromteile funkelten verwegen in der roten Abendsonne.
„Nein, Hannes. Mach das bitte nicht. Gerade das will er vermutlich. Er will dich von uns fortlocken. Bleib bitte hier. Auf dem Gut ist momentan außer Opa kein anderes Mannsbild“, flehte ich Hannes an und berührte seinen Arm.
„Nein, Katja“, sagte Hannes mit fester Stimme. „Dieses Mal schnappe ich mir den Kerl. Richte meinem Vater aus, dass ich wahnsinige Kopfschmerzen hätte und zu Tante Selma zurückgekehrt sei.“
Ehe ich darauf erwidern konnte, rannte er davon, und niemand außer mir schien seinen Aufbruch zu bemerken, denn die Jungs von der Band hatten mit dem ersten Lied begonnen. Frag mich bitte nicht, wie es hieß, liebe Christine; ich habe nicht die leiseste Ahnung und war total von der Rolle. Ich musste unablässig daran denken, in welche Gefahr sich Hannes begeben hatte. Helge würde kurzen Prozess mit ihm machen, wenn er ihn erwischte. Am liebsten wäre ich hinter Hannes hergelaufen; aber Kora winkte mir aufgeregt zu. Ich erhob mich sehr langsam und schlenderte Richtung Bühne, in deren unmittelbarer Nähe Kora auf einer Decke im Gras saß und mit verzückten Blicken der superlauten Musik lauschte. Ihre Arme und Beine zuckten wie der Stab eines Dirigenten.
„Klasse, nicht Katja?“, rief sie mir zu, als ich mich neben sie setzte. Ich nickte abwesend und hoffte inständig, dass mein Mienenspiel nicht verriet, welch extreme Sorgen mich plagten. Aber Kora und die anderen waren viel zu sehr vertieft in die heißen Rhythmen, in den Anblick von Kai, der mit Schlaghölzern auf ein riesiges Becken hieb (ich war leider immer noch nicht in der Lage, irgendeinen Sound, zusammenhängende Klänge, eine bestimmte Melodie, geschweige denn den Wortlaut der Texte auszumachen, liebe Christine). Verzweifelt sah ich mich nach Axel Kröger, Mutter Kleve und Konny um. Aber alle drei hatten nur mehr Augen und Ohren für die Musik; sie starrten wie hypnotisiert auf die Bühne, lächelten verzückt, klatschten mit den Händen und deuteten Tanzbewegungen an. Niemand registrierte meine verzweifelten Blicke. Ich war total allein – unter vielen.
Dann eben nicht! Offenbar hatte keiner bemerkt, dass Hannes nicht mehr unter den Zuhörern weilte. Auch gut! Ich versuchte mit aller Kraft, meine Gedanken zu ordnen. Nach einer Weile drangen Song-Fetzen an mein Ohr, und ich erkannte, wenn auch schwach und ein wenig dumpf, die Hits von Elvis, Bill Haley und Chuck Berry. Die Melodien wirbelten durch meine wirren Gedanken und trieben meine Sorgen um „Macheath“ auf den Gipfel aller Gefühle. Als die Musik plötzlich und unerwartet verstummte, hätte ich mich am liebsten unsichtbar gemacht. Ich wäre sogar in eines von Hannes' blöden Erdlöchern, die er im Lachauer Forst vermutet, gekrochen. Um mich herum hatten sich die Fans der ,Vulcanics' erhoben und klatschten wie verrückt. Der Applaus dröhnte ganz furchtbar in meinen Ohren. Mit einem Mal drehte sich alles um mich herum. Um nicht umzukippen, kauerte ich mich ganz schnell nach unten auf Coras Decke. Wie aus ganz weiter Ferne vernahm ich Krögers Stimme. Er hatte sich über mich gebeugt und redete auf mich ein. Aber ich verstand kein einziges Wort. Plötzlich lungerten alle um mich herum, was mir mehr als peinlich war, liebe Christine, und ich blickte verwirrt in die Gesichter, die vor meinen Augen verschwammen. Jemand hielt mir einen Plastikbecher mit Limonade unter die Nase. Du weißt, dass ich Limonade auf den Tod nicht ausste­hen kann, aber ich nahm den Becher in meine zitternden Hände und trank ihn mit einem Zug leer.
„Katja, du bist weiß wie ein frisch getünchter Kuhstall. Was um alles in der Welt ist passiert, und wo ist Hannes, unser Schwerenöter?“, fragte jemand, vermutlich Kröger. Ich hatte immer noch einen Nebelschleier vor den Augen.
„Hannes ist nach Hause gefah... äh, ge­gangen, weil ihn ganz entsetzliche Kopfschmerzen plagten, und mir geht es seit einer Weile auch sehr schlecht“, hörte ich mich artig sagen, erstaunt darüber, dass meine Worte einigermaßen plausibel klangen. „Ist das Konzert denn schon vorbei?“
Mutti und Herr Kröger sahen erst sich und dann mich an, maßlos er­staunt, wie mir schien.
„Ich möchte so schnell wie möglich nach Hause“, sagte ich.
„Nach Hause? Aber Katja, wir haben noch drei Ferienwochen vor uns“, rief Mutti erschrocken. „Das kannst du Oma und Opa nicht antun. Und was würde Leni dazu sagen?“
„Und ich erst“, warf Kröger lächelnd ein.
„Ich meine doch, dass ich zurück auf den Gutshof möchte, zu Oma und Opa“, stieß ich mit letzter Kraft hervor und ließ es ausnahmsweise

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